Gerd Grampp: Die ICF verstehen und nutzen
Rezensiert von Prof. Dr. Marianne Hirschberg, 24.08.2018

Gerd Grampp: Die ICF verstehen und nutzen. Balance Buch + Medien Verlag (Köln) 2018. 112 Seiten. ISBN 978-3-86739-128-3. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Die Internationale Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) wurde 2001 von der Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedet. Die deutsche Version wurde aufgrund eher negativer sprachlicher Konnotationen und nicht einem (wie im englischen Original) neutral verfassten Sprachgebrauchs erst 2005 von der Weltgesundheitsorganisation anerkannt. Sie ist die zweite behinderungsspezifische Klassifikation der WHO und hat die erste diesbezügliche Klassifikation, die International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps (ICIDH), (1980) abgelöst. Diese wurde nur anteilig auf Deutsch übersetzt, sie wurde kaum in West- und Ost-Deutschland rezipiert. Hingegen hat die ICF frühzeitig Eingang ins Rehabilitiationswesen gefunden.
Die ICF ist als Klassifikation zu verstehen, die eine gemeinsame Sprache für unterschiedliche Disziplinen für Aufgaben der Rehabilitation und Teilhabe weltweit bieten soll. Hiermit können Daten unterschiedlicher Staaten als auch von Bevölkerungsgruppen eines Landes in Relation zueinander gesetzt werden. Auch für die Entwicklung von Rehabilitations- und Teilhabemaßnahmen kann die ICF herangezogen werden, wie beispielsweise durch die konkrete Benennung der ICF als Grundlage für die Entwicklung von Eingliederungshilfeinstrumenten im Bundesteilhabegesetz (BTHG).
Autor
Gerd Grampp war Professor für Theorie und Praxis der Rehabilitation an der Hochschule in Jena, er begleitete Umsetzungsprojekte der ICF in der Rehabilitationspraxis. Des Weiteren hat er Konzepte zu Inklusion und Partizipation gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention entwickelt. Sein hier besprochenes Werk resümiert die Seminarinhalte zur ICF und seine diesbezüglichen Erfahrungen.
Entstehungshintergrund
Die Entwicklung dieses Werkes ist nicht nur durch die eigene Expertise des Autoren zur ICF aus rehabilitationswissenschaftlicher Sicht begründet, sondern grundlegend dadurch, dass die ICF im Bundesteilhabegesetz (BTHG) als wichtige Bezugsgröße verankert ist. Mit dem Inkrafttreten des BTHGs in mehreren Schritten seit Dezember 2016 erfährt die ICF eine hohe Aufmerksamkeit, da gemäß des BTHG Instrumente zur Eingliederungshilfe auf der ICF basieren sollen.
Aufbau
Grampps Werk beginnt mit einem kurzen Kapitel über zu erfüllende und unerfüllbare Erwartungen an das Buch, dem die grundlegende Einordnung der ICF in ihrer Bedeutung für die Sozialgesetzgebung folgt. Hieran anschließend folgen zwei erklärende Kapitel zum Verständnis und zur Gebrauchsleitlinien der ICF, bevor der Autor sich wiederum dem praktischen Nutzen der ICF: ICF-basierten Instrumenten und Verfahren vor und mit dem BTHG zuwendet. Abschließend resümiert der Autor, wie die ICF verstanden und wie sie als Basis für Verfahren und Instrumente genutzt werden kann.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Das Werk „Die ICF verstehen und nutzen“ ist grob unterteilt in zwei Bestandteile:
- Eine Einführung in die ICF, ihre Entstehung, Sprache, Zweck, ihre Komponenten und Kodierungsmöglichkeiten sowie eine Anleitung zu ihrer Anwendung
- Verfahren und Instrumente, die auf der ICF basieren und sich auf das BTHG beziehen bzw. dessen Umsetzung dienen
Der erste Teil bietet hierbei die Möglichkeit, die ICF zu verstehen, ohne sie zu kennen oder neben Grampps Werk zu lesen, da er den Aufbau der ICF sehr detailliert widergibt. Die Überleitung zur Anwendung der ICF, zum Nutzen dieser Klassifikation für die Umsetzung der Sozialgesetzgebung, erfolgt durch die Erläuterungen der ICF selbst, wie sie eingesetzt werden kann, welche ethischen Leitlinien beachtet werden sollen etc.
Die Darstellung der Verfahren und Instrumente im zweiten Teil von Grampps Werk ist sehr aktuell und greift sowohl die übergreifenden Verfahren der letzten Jahre als auch die konkreten Instrumente zur Eingliederungshilfereform auf. Die Unterscheidung in Verfahren und Instrumente vor sowie nach der Einführung des BTHG ermöglicht, diese zu vergleichen.
Zur Erläuterung, was die Nutzung der ICF in der Eingliederungshilfe bedeutet, greift Grampp die Stellungnahmen des Fachverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) und der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) auf. Diese Stellungnahmen zeigen den Wechsel, aber auch die Erwartungen auf, die mit der Nutzung der ICF in der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention gemäß des BTHGs und der diesbezüglich relevanten Instrumentarien einhergehen. Hierdurch veranschaulicht Grampp die neue Perspektive, die mit der ICF als biopsychosozialem Modell verbunden ist.
Abschließend fasst der Autor die Hauptaussagen seiner Handreichung wie folgt zusammen:
- Die ICF verstehen
- Die ICF nutzen
- ICF-basierte Maßnahmen für die Feststellung und Erbringung von Leistungen
Und weist in seinem letzten Abschnitt darüber hinaus auf die dritte Hauptklassifikation der Weltgesundheitsorganisation hin, die International Classification of Health Interventions (ICHI). Mit dieser sei möglich, das Verständnis der ICF weiterzuführen und praktisch umzusetzen: Verständnis und Nutzen der ICF in Umsetzungsmaßnahmen zu integrieren (S. 102).
Diskussion
Grampps Werk ist im Balance-Verlag, einem Teil der Psychiatrie-Verlag GmbH erschienen. Dieser Verlag, bezeichnet Krisenbewältigung als seine Kernkompetenz. Auch wenn das Werk dieser Ausrichtung nicht entspricht, so weist die Erläuterung des Verlags zu diesem Werk, „ein Kompass zur Umsetzung der neuen rechtlichen Vorgaben“ zu sein, seine Funktion aus. Es soll die Bedeutung der ICF für die Praxis von Einrichtungen und Diensten erklären und die bereits bestehenden sowie kürzlich entwickelten Eigliederungshilfeinstrumente und der beruflichen Bildung ins Verhältnis zu setzen und Verbesserungsbedarfe aufzeigen.
Diese Zielsetzung ist deutlich erkennbar, ebenso wie eine geringere Ausrichtung am wissenschaftlichen Diskurs zu Behinderung und Teilhabe oder zur soziologischen Einordnung der Termini Integration und Inklusion. Wenn der Autor im Teilkapitel Konzepte zur Umsetzung des biopsychosozialen Modells (der ICF) (S. 138 f.) das medizinische Modell dem Konzept der Integration und das soziale Modell dem der Inklusion zuordnet, ohne diese näher zu erläutern, so lässt sich hier eine Verkürzung feststellen. Die jahrzehntelange Integrationspraxis in Deutschland (seit der Empfehlung des deutschen Bildungsrates zu gemeinsamem Unterricht behinderter und nichtbehinderter Kinder 1973) hatte – ebenso wie heutzutage (mit besonderer Beachtung seit der Einführung der UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK) dem Inklusionsbegriff zugeschrieben wird – als Ziel, dass das System Bedingungen für alle in ihm lebenden Menschen schafft. Die Verkürzung des Begriffs Integration auf die notwendige Veränderung des behinderten Individuums durch Therapie aufgrund seines individuellen Gesundheitsproblems (dargestellt als medizinisches Modell von Behinderung, S. 38) und die Gegenüberstellung des Begriffs Inklusion als notwendige Veränderung der Umwelt (als soziales Modell von Behinderung, S. 39) wird dem Integrationsdiskurs und deren Praxis (vgl. die Publikationen von Jutta Schöler, Wolfgang Jantzen u.a.) nicht gerecht. Des Weiteren ist zu fragen, mit welchem Ziel der Autor im Anschluss hieran dann das biopsychosoziale Modell als „Integrusion“ oder „Inklugration“ bezeichnet (S. 39). Die Veranschaulichung der von der Weltgesundheitsorganisation proklamierten Synthese von medizinischem und sozialem Modell von Behinderung als biopsychosozialem Modell in der ICF durch diese Begriffe scheint nicht zielführend, sondern eher ein nicht weiter relevantes Wortspiel zu sein.
Auch die ausschließliche Referenz auf die ICF (konkreter auf die Veröffentlichung durch das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) von 2005, statt der englischen Originalfassung der Weltgesundheitsorganisation von 2001), das Bundesteilhabesetz (BTHG) von 2016, die beiden genannten Verbände und weitere sozialgesetzgebungsrelevante Akteure (Leistungsanbieter und Leistungsträger) weist auf die Ausrichtung des Werkes hin.
Die Perspektive der Leistungsberechtigten selbst, Selbstorganisationen behinderter Menschen, oder auch fachwissenschaftliche soziologische Literatur wird nicht aufgegriffen, was besonders nach der umfangreichen Kritik am BTHG der involvierten Behindertenverbände, wie beispielsweise des Forums behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ), etwas erstaunt. Die ungenaue Angabe, die UN-BRK sei 2009 ratifiziert worden (S. 76) (Verabschiedung am 13.12.2006, Unterzeichnung Deutschlands 2007, Ratifizierung 2008 und Inkrafttretung am 26.03.2009), mag verzeihlich sein, doch wäre grad hinsichtlich der Unterscheidung in Instrumente vor und nach dem BTHG interessant, welche Instrumentarien sich weder an der ICF noch der UN-BRK, sondern dem SGB IX orientierten und wie sich dies mit Einführung des BTHG verändert hat. Es wird für mit der Materie wenig vertraute Leser*innen nicht deutlich, dass das BTHG erst als Resultat der Debatte, wie die BRK implementiert und rechtlich umzusetzen ist, entstanden ist.
Grad aufgrund Grampps Argumentation, die ICF-Nutzung stelle die bisherige Eingliederungshilfe vor Probleme (S. 78), der referierten Kritik der Verbände CBP und DVfR, die Verfahren zur Bedarfsermittlung entsprächen nicht den Anforderungen des BTHG (S. 82), wären präzisere Angaben hier wünschenswert. Hierfür spricht auch die dargelegte Kritik des CBP, die ICF-Nutzung in der Bedarfsermittlung gemäß des BTHG sei schwierig, da die ICF funktionsfähigkeitsorientiert und die Bedarfermittlung gemäß BTHG defizitorientiert vorgesehen sei (S. 78 f.) Mit dem Abdruck der ethischen Leitlinien der ICF betont Grampp die Bedeutung der ICF auch für eine sensible Adressaten-orientierte Nutzung, wobei hier auch die Leistungsberechtigten hervorgehoben sind (S. 79 f.). Klassisch bleibt jedoch die Perspektive des Leistungsrechts vorrangig (S. 95), sich an den Leistungen für behinderte Menschen und nicht an deren Rechten und Wünschen zu orientieren, wie es der Behindertenrechtskonvention entsprechen würde. Diese Diskrepanz zeigt sich auch in der Darstellung des Zwecks von ICF und BTHG, als das Grampp das Selbstbestimmungsrecht behinderter Menschen und die Verbesserung ihrer Partizipation herausstellt (S. 103). Hier wäre ein Verweis auf die Kritik von CBP und DVfR sinnvoll gewesen (s.o.).
Der Ausblick auf die zukünftige Verabschiedung der dritten WHO-Klassifikation (ICHI) neben der Krankheits- (ICD) und der Behinderungsklassifikation (ICF) zeigt die weitsichtige Einordnung der unterschiedlichen Klassifikationen und ihrer Bezüge untereinander. Leider ist im Inhaltsverzeichnis nicht auf die Bedeutung der ICHI in einer Überschrift hingewiesen, was den Leser*innen den Überblick erleichtern würde.
Fazit
Für Leser*innen, die sich mit der Thematik noch nicht auskennen, ist es besonders hilfreich, die dem Hauptteil vorangestellte Einführung zu lesen, um zu verstehen, welchen Zweck das Buch hat und welche Erwartungen unerfüllt bleiben. Es handelt sich nicht um ein wissenschaftliche Analyse der ICF oder eine kritische Diskussion der BTHG-Entstehung und -umsetzung, sondern um eine Art Handbuch, wie die ICF-basierten Instrumente funktionieren.
Grampp vermittelt mit seinem Werk den Eindruck, einen Leitfaden zum Verständnis der ICF-basierten Instrumente und Verfahren zu geben. Damit adressiert das Werk hauptsächlich im Rehabilitationswesen bzw. im Sozialdienst tätige Fachkräfte und damit all jene, die mit der Umsetzung des BTHG oder (allgemeiner formuliert) der Sozialgesetzgebung beschäftigt sind.
Das Buch ist sehr zu empfehlen, um einen genauen Überblick über die unterschiedlichen Bedarfsermittlungsinstrumente der Bundesländer und die Bezugnahme auf die ICF mit diesen Instrumentarien (sowie den Verfahren) zu erhalten.
Rezension von
Prof. Dr. Marianne Hirschberg
Universität Kassel
Fachbereich Humanwissenschaften
Institut für Sozialwesen
Professorin für Behinderung, Inklusion und soziale Teilhabe
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