Achim Haug: Das kleine Buch von der Seele
Rezensiert von Sandra Ebert, 30.08.2018

Achim Haug: Das kleine Buch von der Seele. Ein Reiseführer durch unsere Psyche und ihre Erkrankungen. Verlag C.H. Beck (München) 2017. 207 Seiten. ISBN 978-3-406-70392-8. D: 16,95 EUR, A: 17,50 EUR.
Autor
Achim Haug ist Inhaber der Professur für Psychiatrie an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich und Ärztlicher Direktor der Clienia Privatklinikgruppe. Er veröffentlichte diverse wissenschaftliche Fachartikel und ist Mitautor psychiatrischer Lehrbücher. Zudem ist er Lehrender im Bereich der psychiatrisch-psychotherapeutischen Weiterbildung.
Aufbau
Das vorliegende Buch umfasst zehn Kapitel, die jeweils in Unterkapitel aufgeteilt sind. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Kapitel 1 „Die Sache mit der Seele“ thematisiert die Frage nach dem Gegenstand der Seele und dem, was die Seele ausmacht. Es beschäftigt sich mit Sprichwörtern, die die Seele beschreiben, mit kulturellen, philosophischen und religiösen Zuschreibungen, sowie mit dem Verhältnis von Körper und Seele. Abgerundet wird das Kapitel von den aktuellen Erkenntnissen der Hirnforschung und der wissenschaftlich diskutierten These, dass die Seele im Gehirn verankert bzw. als Synonym hierfür gelten kann. Zum nächsten Kapitel überleitend wird beschrieben, dass sich die Menschen erst mit ihrem Körper und auch mit der Seele beschäftigen, wenn die Funktionen aus der Balance sind und fragt, woran dies deutlich wird.
Kapitel 2 steht unter der der Fragestellung „Was heißt schon normal?“ Der Autor verweist darauf, dass 43 % aller Menschen im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung durchleben, so die aktuelle Studienlage. Die WHO vermutet sogar, dass die depressive Störung in Zukunft die häufigste Erkrankung darstellen wird. Hierbei ist jedoch zu fragen, wo die Grenze definiert ist und wo ein Problem sich zu einer tatsächlichen Krankheit manifestiert. Unter ärztlichen Gesichtspunkten definieren die Diagnosemanuale wie das ICD-10 körperliche wie auch psychische Krankheiten und deren Merkmale. Gleichzeitig weißt er auf den Diskurs hin, ob der Begriff der „Krankheit“ Menschen in eine Schublade stecke und einen defizitorientierten Blick verstärke, sodass häufig in Fachkreisen der Begriff der „Störung“ genutzt wurde. Auch weist er darauf hin, dass die Frage nach der Normalität mit kulturellen und individuellen Normvorstellungen besetzt ist: Der statistischen Norm und der Individualnorm. Da diese unterschiedlich sein können, wird ein Verhalten als normal oder nicht normal beurteilt, je nach dem, welche Norm zugrunde gelegt werden. Auch hier ist die Frage der Bewertung, wann etwas normal oder nicht mehr normal ist, entscheidend. Im psychiatrischen Kontext wird die Individualnorm mit in eine Beurteilung einbezogen mit der Frage, wie der Patient seine Situation aktuell bewertet. Hilft jedoch die Individualnorm nicht mehr weiter, wird auf die statistische Norm zurückgegriffen.
Kapitel 3 setzt sich mit der Frage auseinander: „Wer ist schuld an psychischen Krankheiten?“, da die Schuldfrage in der Begegnung mit Hilfesuchenden und Angehörigen oftmals eine wichtige Rolle spielt. Es wird auf verschiedene Hypothesen zur Entstehung eingegangen und dabei das Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell näher erklärt, das sich bei der Erklärung psychischer Erkrankungen bewährt hat. Dieses Modell will die von Studien unterlegten Vorgänge unter Einbeziehung der komplexen Wechselfaktoren und Mechanismen beschreiben, die die Ausbildung einer psychischen Erkrankung bedingen. Weiter wird auf die genetische Disposition eingegangen und Zahlen geliefert, wie hoch das Vererbungsrisiko einer psychischen Erkrankung laut Studienlage ist. Weiter werden belastende und schützende Faktoren dargestellt, die eine Erkrankung begünstigen oder verhindern.
Das Kapitel 4 namens „Wenn das Leiden einen Namen erhält“ beschäftigt sich mit der Frage, was es für einen Menschen bedeutet, eine Diagnose zu erhalten. Zudem wird dargestellt, was genau unter einer Diagnose zu verstehen ist, nämlich das Zusammenfassen von Symptomen zu einer Krankheit, wobei eine Krankheit bei zwei Personen auch individuell etwas unterschiedliche Ausprägungen haben kann.
In Kapitel 5 „Aus dem Gleichgewicht – Beispiele“ stellt der Autor einige psychische Krankheiten bzw. einige Symptome vor, die in den Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-5 verankert sind. Er skizziert die 10 Kategorien an psychischen Erkrankungen (F0 – F9) und merkt an, dass F0 – F6 vorrangig Erwachsene, während F 7 – F9 vor allem bei Kindern und Jugendlichen auftreten. In den folgenden Unterkapiteln werden die einzelnen Kategorien kurz erklärt und mit Beispielen aus seiner Berufspraxis verdeutlicht.
Das sehr themenintensive Kapitel 6 setzt sich mit dem Schwerpunkt „Patienten in der psychiatrischen Klinik“ auseinander. Es beschäftigt sich mit der Frage vieler Patienten, ob sie jemals wieder gesund werden. Deutlich gemacht wird, dass der Verlauf einer Erkrankung individuell und damit schwer prognostizierbar ist, obgleich Ärzte oftmals eine vorsichtige Einschätzung abgeben. Er weist darauf hin, dass die Aufenthalte in den psychiatrischen Kliniken relativ kurz sind und die Behandlungserfolge sehr positiv seien, sodass viele nach einer stationären Behandlung keinen erneuten Bedarf einer Wiederaufnahme zeigten. Die meisten Menschen mit psychischer Erkrankung würden jedoch mit einer ambulanten Therapie ausreichend versorgt, sodass es keiner stationären Aufnahme bedürfe. Im weiteren Verlauf des Kapitels geht Haug auf statistische Zahlen, die ambulante und stationäre Behandlungsformen mit ihren Angeboten und dem Ablauf der Behandlung ein. Er benennt Gründe für die verschiedenen Formen und räumt er mit gesellschaftlichen Bildern und Vorurteilen auf. Dabei geht er auch auf das Thema Zwangsmaßnahmen ein, die einer Selbst- oder Fremdgefährdung entgegenwirken sollen. Auch die Rolle der Angehörigen, die einerseits in der Nachbetreuung einer Krankheitsphase eine wesentliche Rolle einnehmen und nicht häufig durch die Erkrankung des Angehörigen ebenfalls selbst sehr belastet sind, greift er auf und erwähnt eine hilfreiche und wertvolle Unterstützungsform für sie: Die Selbsthilfegruppe für Angehörige. Weitere kurz benannte, mögliche Themen von Angehörigen sind die Frage des Umgangs, wenn der Betroffene keinen Kontakt wünscht sowie die Frage danach, welche Schuld an der Erkrankung die Angehörigen haben.
In Kapitel 7 „Von der seltsamen Spezies der Psychiater“ wird der Ausbildungsweg eines Psychiaters erläutert und auf weitverbreitete Vorurteile eingegangen. Deutlich gemacht werden zudem die Unterschiede zwischen dem Psychiater, dem Neurologen, dem Psychologen und dem Psychotherapeuten.
In Kapitel 8 „Die psychotherapeutische Behandlung“ werden die verschiedenen anerkannten Psychotherapiemethoden in ihren Grundgedanken und Vorgehensweisen im therapeutischen Prozess dargestellt: Die tiefenpsychologische oder analytische Psychotherapie, die Verhaltenstherapie sowie die Systemische Therapie. Es wird behandelt, welche Therapielinie nun die erfolgreichste für die Behandlung von psychischen Erkrankungen sei und geht auf einen weiteren wichtigen Einfluss für eine erfolgreiche Behandlung ein: Die Gestaltung des therapeutischen Settings, also die Gestaltung der Beziehung zwischen Klient und Therapeut sowie der Haltung des Therapeuten. Ein weiteres Themenfeld des Kapitels ist die manualisierte, störungsspezifische Kurzzeitpsychotherapie und verdeutlicht das Vorgehen am Beispiel der Interpersonellen Therapie, die häufig in der Behandlung von Menschen mit depressiver Symptomatik genutzt wird.
Das Kapitel 9 namens „Die Behandlung mit Medikamenten“ weist darauf hin, dass neben den Gesprächstherapien oftmals eine medikamentöse Therapie angewandt wird. Es ist notwendig, im Einzelfall zu prüfen, was die geeignete Therapieform ist, nicht selten wird die kombinierte Therapie aus Medikamenten und Gesprächen empfohlen. Er beschreibt die Grundidee hinter der Einbeziehung von Psychopharmaka und deren Wirkungsweisen, was wiederum am Beispiel der SSRI, den Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern erläutert wird. Weiter wird der Frage nachgegangen, wie das für den Einzelnen richtige Medikament identifiziert werden kann und wie lange eine Einnahme erfolgen sollte.
In Kapitel 10 „Alles eine Frage der Balance“blickt Haug auf die Inhalte des Buches zurück und fasst die wesentlichen Erkenntnisse zusammen. Er beschreibt die aus dem alten Ägypten stammende und weitreichende Idee der Säfte und setzt dieses dem modernen Gesundheitskonzept gegenüber. Es werden Modelle und Erkenntnisse der aktuellen Gesundheitsforschung vorgestellt. Die Seele wird dabei als Instanz beschrieben, die nach Gleichgewicht strebt, nach Stabilität und Stärke. Diese Stabilität entstehe durch Bewegung, durch das Austesten von Grenzen und das Auseinandersetzen mit der Welt und den eigenen Ängsten. Bei der Konfrontation mit kleinen und großen Unglücken des Lebens ist die Seele gefordert, das Gleichgewicht wieder herzustellen und Gegenkräfte zu entwickeln. In manchen Fällen wird für die Bewältigung dessen professionelle therapeutische Hilfe notwendig.
Fazit
Das vorliegende Buch richtet sich an Menschen, die sich mit dem Thema der Seele und psychischer Erkrankungen auseinander setzen möchten. Das Buch ist unterhaltsam und anschaulich geschrieben und verdeutlicht komplexe Zusammenhänge anhand von Beispielen. Daher ist es ein Buch, das sich für Betroffene, aber auch Angehörige von Menschen mit psychischer Erkrankung als Lektüre sehr gut eignet.
Der Autor formulierte zu Beginn des Buches den Anspruch, ein humorvolles Nachdenken über die Psychiatrie anregen und den Blick neben dem Schweren auf das Leichte richten zu wollen: Das ist ihm mit diesem Buch gelungen. Er schafft es, die Themen mit einer Leichtigkeit zu behandeln und dem Laien Einblicke in dieses weite Feld der Seele und der Psyche zu ermöglichen. Es ist somit ein Buch, das einen guten Überblick ermöglicht und eine erste Orientierung bietet. Es kann als Grundlage für eine weitere Auseinandersetzung und Vertiefung mit den die Seele betreffenden Themen genutzt werden.
Rezension von
Sandra Ebert
M.A. in Bildungswissenschaften, B.A. in Sozialer Arbeit, Systemische Beraterin, Supervisorin und Coachin
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