anti-bias-netz (Hrsg.): Vorurteilsbewusste Veränderungen mit dem Anti-Bias-Ansatz
Rezensiert von Prof. Mag. Dr. Eva Fleischer, 19.12.2018
anti-bias-netz (Hrsg.): Vorurteilsbewusste Veränderungen mit dem Anti-Bias-Ansatz. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2016. 154 Seiten. ISBN 978-3-7841-2608-1. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR, CH: 27,50 sFr.
Thema
Menschen können aufgrund von Zuschreibungen und Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion gesellschaftlich anerkannt oder ausgeschlossen werden. Persönliche Haltungen und Vorurteile, aber auch strukturell bedingte Ungleichheitsverhältnisse können zu Erfahrungen von Diskriminierung und Privilegierung in der persönlichen Begegnung, in institutionellen Kontexten, aber auch in gesamtgesellschaftlichen Diskursen und Regelungen führen. Der Anti-Bias-Ansatz bietet die Möglichkeit, die eigene Position in diesen Verhältnissen zu reflektieren, Empathie für die Erfahrungen anderer zu entwickeln und in der Folge bewusst(er) mit Vorurteilen umzugehen, um Diskriminierungen entgegenzuwirken.
Autorinnen
Das anti-bias-netzwerk ist eine Vernetzung von sechs Trainerinnen, Moderatorinnen und Beraterinnen, die seit 2002 mit dem Anti-Bias-Ansatz vor allem in/mit Schulen arbeiten. In diesem Arbeitszusammenhang haben sie eine Reihe von Projekten durchgeführt, z.B. das Modellprojekt „Starke Kinder machen Schule“ oder auch das Bridge-Projekt „Jede/r ist besonders – alle sind gleich“ mit Asylsuchenden und geduldeten Flüchtlingen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus in Berlin und Brandenburg (vgl. www.anti-bias-netz.org/).
Entstehungshintergrund
Das Buch soll „Menschen in der pädagogischen Arbeit und in der Praxis der Sozialen Arbeit dazu ermutigen, ihre alltäglichen Denk- und Handlungsweisen kritisch zu überprüfen, um zukünftig Gesellschaft mit einer inklusiven Herangehensweise mitgestalten zu können“ (S. 8).
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält neben Vorwort und Einleitung neun Beiträge, die die Autorinnen (Cvetka Bovha, Patricia Göthe, Jetti Hahn, Nele Kontzi, Annette Kübler, Žaklina Mamutovi) teils gemeinsam, teils allein verfasst haben.
- Denkanstöße für die Soziale Arbeit (Cetka Bovha, Nele Kontzi, Jetti Hahn)
- Anti-Bias – Ein Ansatz Menschenrechtsbildung in Grundschule [sic!] umzusetzen (Nele Kontzi, Žaklina Mamutovi)
- Anti-Bias kann vorurteilsbewusste Veränderungsprozesse in Schule [sic!] unterstützen – Erfahrungen aus der Praxis (Nele Kontzi)
- Mit Eltern gemeinsame Sache machen – Vorurteilsbewusste Zusammenarbeit von Schule und Eltern (Jetti Hahn)
- „Warum hängt die Weltkarte falsch herum?“ – „Weil ich was seh', was du nicht siehst!“ Anti-Bias ermöglicht neue Perspektiven (Annette Kübler)
- (Un)Möglichkeiten des Anti-Bias-Ansatzes im Kontext von (internationalen) Freiwilligendiensten (Cvetka Bovha)
- Zwischen Colorline und Handlungsmöglichkeiten – für Kinder, Eltern und Pädagog_innen (Annette Kübler)
- Empowerment und Anti-Bias – Gemeinsamkeiten und Unterschiede (Žaklina Mamutovi)
- Wie ein Kieselstein im Wasser: Vom Empowerment und Sensibilisierung zur gesellschaftlichen Transformation (Patricia Göthe)
Ein Glossar sowie ein Literaturverzeichnis mit weiterführender Literatur runden das Buch ab.
In der Einleitung (S. 11 – 20) wird zunächst der Begriff „Anti-Bias“ und der „Anti-Bias-Ansatz“ erklärt. Es folgt eine kurze Darstellung der Wurzeln des Ansatzes und seiner Grundannahmen, wobei insbesondere das Diskriminierungs- und das Veränderungsmodell vorgestellt werden.
Der Begriff „bias“ stammt aus dem Englischen und bedeutet „Voreingenommenheit“ oder „Einseitigkeit“ (S. 11). Der „Anti-Bias-Ansatz“ wendet sich gegen Diskriminierungen auf unterschiedlichsten Ebenen, die aus diesen Voreingenommenheiten entstehen können (ebd.). Diskriminierungen sind in diesem Kontext das Ergebnis „gesellschaftlich ungleicher Positionierungen“ und von „Machtverhältnissen“, also nicht nur das Resultat von Vorurteilen. Insgesamt verfolgt der Anti-Bias-Ansatz einen intersektionalen Zugang, d.h., dass keine Spezialisierung auf ein Unterdrückungsverhältnis wie z.B. Rassismus stattfindet, sondern vielfältige Kategorien wie Geschlecht, Alter, Ethnie etc. in Bezug gesetzt werden und von einer „Verstrickung“ aller ausgegangen wird, die gleichzeitig diskriminiert und privilegiert sein können (vgl.ebd.). Der Anti-Bias-Ansatz ist ein pädagogisches Konzept, das über erfahrungsorientiertes Lernen Reflexionsprozesse anstoßen möchte, die letztlich auch zu verändertem Handeln führen. Die „Vision“ ist eine „vorurteilsbewusste, diskriminierungskritische und machtsensible Gesellschaft“ (ebd.).
Der Anti-Bias-Ansatz stammt ursprünglich aus den USA und wurde dort in den 1980ern im Bereich der Pädagogik für Kleinkinder entwickelt, zu Beginn der 1990er wurde der Ansatz von südafrikanischen Pädagog_innen für die Post-Apartheid-Gesellschaft adaptiert und auf die Felder (Schul)Kinderpädagogik, Jugendlichen- und Erwachsenbildung ausgedehnt. Ende der 1990er wurde der Ansatz in seinen US-amerikanischen und südafrikanischen Varianten in Deutschland durch Fortbildungen zugänglich und wurde seitdem sowohl theoretisch wie auch praktisch adaptiert bzw. weiterentwickelt.
Im Kapitel „Denkanstöße für die Soziale Arbeit“ (S. 21 – 33) schildern Cetka Bovha, Nele Kontzi und Jetti Hahn die Arbeitsweise mit dem Anti-Bias-Ansatz. Es wird deutlich, dass es dabei weniger um Rezepte geht als um den Anstoß zu umfassenden Reflexionsprozessen, z.B. zu Implikationen von etikettierendem Sprachgebrauch in der Sozialen Arbeit. Dabei weisen sie auf das „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ (S. 28) hin, das sich auftut, wenn der Zugang zu Ressourcen an die Klassifizierung der Klient_innen, z.B. als „bildungsfern“ gekoppelt ist.
Die nächsten vier Kapitel (S. 35-81) befassen sich dem Praxisfeld Schule. Dabei werden zunächst die aufeinander aufbauenden „Ziele der Anti-Bias-Arbeit mit Kindern nach Louise Derman-Sparks“ (S. 39) als Grundlage beschrieben. Begonnen wird mit der Stärkung der „Ich-Identität und Bezugsgruppenidentität“, es folgt die Entwicklung von „Respekt und Empathie für Vielfalt“, dann soll „kritisches Denken über Vorurteile und Diskriminierung“ angeregt werden, um sich schließlich gegen „Diskriminierung und Vorurteilen widersetzen“ zu können (vgl. ebd.). Die Umsetzung dieser Ziele geht über Trainings der Lehrpersonen hinaus und umfasst die Ebenen „Interaktion, Unterrichtsgestaltung, Raumgestaltung und Unterrichtsmaterialien, Gestaltung der Zusammenarbeit mit Eltern, Gestaltung der multiprofessionellen Zusammenarbeit im Team, Gestaltung der Struktur der Gesamtschule, Kooperation im Gemeinwesen, Bildungspolitik“ (S. 48) Wie diese Ziele umgesetzt werden, wird u.a. am Beispiel der „Mehrsprachigkeit“ als Kinderrechtsthema (Nele Kontzi, Žaklina Mamutovi), Schulentwicklungsprozessen (Nele Kontzi) und vorurteilsbewusster Elternarbeit (Jetti Hahn) vorgestellt. Im vierten Kapitel (S. 69 – 80) gibt Annette Kübler Einblicke in ihren Prozess der Auseinandersetzung mit „weißem dominanten Denken“ (S. 70) und stellt anhand der Methode „Weltbilder“ ein Unterrichtsprojekt vor, das deutlich macht, wie in vermeintlich objektive Weltkarten Ungleichheitsverhältnisse eingeschrieben werden.
Im sechsten Kapitel zum Anti-Bias-Ansatz „im Kontext von (internationalen) Freiwilligendiensten“ (S. 81 - 93) schildert Cvetka Bovha, welche Fragestellungen in der Vor- und Nachbereitung von internationalen Einsätzen von jungen Erwachsenen bearbeitet werden können. Eine große Rolle spielt dabei die Reflexion von Einseitigkeiten z.B. im Konzept von Entwicklung, aber auch im Setting Freiwilligendienst an sich.
Annette Kübler geht in Kapitel sieben auf das Thema „Colorline“ (S. 95 – 111) ein. Mit „Colorline“ ist „eine unsichtbare Trennlinie“ des strukturellen Rassismus gemeint, die je nach der Zuordnung entlang der Kategorien „Schwarz/weiß“ regelt, wer wirtschaftliche und gesellschaftliche Ressourcen erhält (vgl. ebd. S. 96). An Beispielen von „gut gemeinten“ Unterrichtsmaterialien und Kinderliteratur arbeitet Kübler heraus, wie diese manche Kinder zu „anderen“ machen und was dies bei den Kindern auslöst (vgl. S. 101 - 105). Vor diesem Hintergrund plädiert Kübler u.a. für „Empowermentangebote für Schwarze Kinder“ (S. 110).
Žaklina Mamutovi hat vor ihrer Ausbildung zur Anti-Bias-Trainerin Seminare zum Empowerment für „People of Color“ entwickelt und angeboten, um „geschützte Räume“ zur Reflexion und zum Aufbau von Handlungsstrategien zu bieten (S. 114). Im Lichte dieser Erfahrungen beschäftigt sie sich Im achten Kapitel „Empowerment und Anti-Bias – Gemeinsamkeiten und Unterschiede“ (S. 113 – 125) mit den Konzepten „Empowerment“ sowie dem Modell der „Internalisierten Dominanz“ bzw. „internalisierte Privilegierung“. Dabei arbeitet sie heraus, dass mit Empowerment nicht nur individualisierte „Selbstbefähigung/Selbstermächtigung“ (S. 115) gemeint ist, sondern auch „Strategien der sozialen Einmischung“ und der „Aufbau von sozialen Netzwerken“, um „Chancengerechtigkeit“ einzufordern (vgl. S. 117). Das Modell der internalisierten Dominanz/Privilegierung ermöglicht wiederum die Analyse psychischer Prozesse bei allen Beteiligten, die dazu beitragen, dass unterdrückende Strukturen (nicht) überwunden werden können.
Den Abschluss bildet die Zusammenfassung mehrerer Expert_inneninterviews von Patricia Göthe zur Frage, inwiefern der Anti-Bias-Ansatz „zur gesellschaftlichen Transformation“ beitragen kann, wobei insbesondere auf die Konzepte Empowerment und „Critical Whiteness“ eingegangen wird (S. 127 – 140).
Diskussion
Das Buch bietet einen lebendigen, praxisorientierten Einstieg in den Anti-Bias-Ansatz, indem einerseits die Grundannahmen und Ziele der Anti-Bias-Arbeit skizziert und andererseits konkrete Arbeitsweisen aus unterschiedlichen Praxiskontexten detailliert beschrieben werden. Die Schilderungen eigener Erlebnisse und Reflexionsprozesse der Autorinnen macht sichtbar, wie sehr die Arbeit mit dem Anti-Bias-Ansatz auf der Arbeit an eigenen Haltungen basiert. Insgesamt dominiert entsprechend der Schwerpunkte des anti-bias-netzes das Praxisfeld Schule.
Die anschaulichen Schilderungen einzelner Methoden machen Lust auf die direkte Umsetzung, dies führt aber zu dem Dilemma, dass die Methoden des Anti-Bias-Ansatzes nicht losgelöst und auch nicht ohne vorangehende tiefgehende Reflexion eigener Positionierungen und blinder Flecken angewandt werden sollten. Die Lektüre des Buches kann diese Prozesse, die in einem Gruppenkontext stattfinden sollten, nicht ersetzen. Für diejenigen, die bereits entsprechende Aus- und Weiterbildungen gemacht haben, bietet das Buch interessante Impulse und Einblicke in spezifische Praxisfelder. Allen anderen, die den Ansatz nach der Lektüre spannend finden, sei im Anschluss ein entsprechendes Seminar nahegelegt. Für eine umfassende Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen und sowie den daraus resultierenden Unterschieden zu verwandten Ansätzen wie etwa dem Social-Justice Ansatz oder Diversity-Ansätzen sei auf die weiterführende Literatur bzw. auf die umfangreichen Literatur- und Linkhinweise verwiesen.
Der Anspruch einer intersektionalen Betrachtungsweise wird leider nur teilweise eingelöst, da vor allem eine rassismuskritische Perspektive verfolgt wird. Dadurch ergeben sich Engführungen, wenn etwa Empowerment als Ansatz „von und für People of Color“ (S. 130) beschrieben wird, bei dem Rassismus den „Fokus der Auseinandersetzung bildet“ (S. 128), auch die Beispiele aus dem Schulalltag beziehen sich vor allem auf Rassismus. Die Problematik der Umsetzung einer intersektionalen Perspektive wird im Schlusskapitel zum Teil aufgegriffen, wobei hier vor allem der Aspekt der bearbeiteten bzw. vernachlässigten Ungleichheitskategorien bzw. die Vergleichbarkeit von Ungleichheitsverhältnissen angesprochen wird.
Der zusätzliche Online-Zugriff auf das E-Book via App ist zwar gut gemeint, aber umständlich und nur bedingt praktikabel, da man in dem Dokument zwar Annotationen einfügen kann, aber keine Textstellen kopieren kann, um sie z.B. in einer Literaturdatenbank einfügen. Von einer Downloadmöglichkeit des E-Books ganz zu schweigen, können Textstellen nur dann exportiert werden, wenn diese via Mail oder Facebook geteilt werden.
Fazit
In Zeiten großer demokratiepolitischer Herausforderungen sind Ansätze dringend nötig, die sich erfahrungsorientiert mit den Vorurteilen, verinnerlichten Machtverhältnissen, daraus resultierender Diskriminierung / Privilegierung und den Handlungsmöglichkeiten, um diese Ungleichheitsverhältnisse zu überwinden, beschäftigen. Der Verdienst des Buches liegt darin, dass es anhand konkreter Praxiszusammenhänge und ausgewählter Methodenbeispiele den Anti-Bias-Ansatz aus der Perspektive von Multiplikatorinnen nachvollziehbar macht. Damit füllt es eine Lücke zwischen theoretischen Abhandlungen und (feld)spezifischen Methodenhandbüchern.
Rezension von
Prof. Mag. Dr. Eva Fleischer
Professorin am Studiengang für Soziale Arbeit, Management Center Innsbruck
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Zitiervorschlag
Eva Fleischer. Rezension vom 19.12.2018 zu:
anti-bias-netz (Hrsg.): Vorurteilsbewusste Veränderungen mit dem Anti-Bias-Ansatz. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2016.
ISBN 978-3-7841-2608-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24226.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
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