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Alexander Zinn: "Aus dem Volkskörper entfernt"?

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 10.01.2019

Cover Alexander Zinn: "Aus dem Volkskörper entfernt"? ISBN 978-3-593-50863-4

Alexander Zinn: "Aus dem Volkskörper entfernt"? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus. Campus Verlag (Frankfurt) 2018. 694 Seiten. ISBN 978-3-593-50863-4. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 48,70 sFr.

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Thema

Das vorliegende Buch befasst sich mit der Situation „der“ homosexuellen Männer in der Nazi-Zeit. Es geht von einer regionalen Mikrostudie aus und überträgt die Ergebnisse auf das Reichsgebiet, inkl. besetzter Regionen.

Autor

Alexander Zinn, Dr. phil., kommt aus dem politischen Aktivismus des LSVD Berlin-Brandenburg und engagiert sich seit einigen Jahren stärker zur Verfolgung homosexueller Männer in der Nazi-Zeit. In dieser Intention betreibt der Soziologe und Historiker die Homepage www.rosa-winkel.de (Zugriff: 21.12.2018).

Entstehungshintergrund

Das Buch „‚Aus dem Volkskörper entfernt‘? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus“ ist zugleich die Dissertation des Autors, sie wurde 2017 an der Universität Erfurt verteidigt.

Der Druck des Buches wurde von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung gefördert.

Aufbau

Das Buch ist in die im folgenden aufgeführten Kapitel gegliedert:

  1. Einführung
  2. Homosexualität in den Jahren 1871–1930
  3. Homosexueller Alltag in den 30er Jahren
  4. Verfolgung auf Reichsebene
  5. Verfolgung auf Landesebene: Thüringen
  6. Verfolgung auf lokaler Ebene: Altenburg
  7. Rehabilitierung? Die Situation nach 1945
  8. Resümee

Es schließen sich ein Anmerkungsteil und eine Danksagung an. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalt

Der vorliegenden Studie liegen gründliche Forschungen zur Verfolgung homosexueller Männer in der Nazi-Zeit für das Altenburger Land (69 Fälle) sowie insgesamt für Thüringen (462 Fälle) zu Grunde. Die so angelegte Mikrostudie wird in den ersten vier Kapiteln in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden.

Dabei gibt Kapitel 1 einen knappen Überblick über den Forschungsstand und stellt die methodischen Grundlagen vor. Als Basis wählt der Autor einen sozialkonstruktivistischen Zugang, den er in den wesentlichen Anteilen aus den Arbeiten von Stefan Micheler und Bernd-Ulrich Hergemöller herleitet (die sich selbst eher nicht einer sozialkonstruktivistischen Perspektive zuordnen würden). Als zweiten wichtigen Ausgangspunkt für das Buch führt Zinn das sozialwissenschaftliche Konzept des „Stigma-Managements“ an und mit Bezug auf Homosexuelle aus.

Kapitel 2 führt die zeitgenössischen Debatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts aus. Neben der Kriminalisierung und der Verantwortung gesellschaftlicher Institutionen und wissenschaftlicher Disziplinen für diese betont Zinn die Bedeutung der Identitätskonzepte der homosexuellen Männer und betrachtet einzelne dieser „Selbstbilder“.

Das sich anschließende 3. Kapitel bringt differenziert das soziale Leben homosexueller Männer in den 1930er Jahren in den Blick, aufgeschlüsselt etwa nach Klassenzugehörigkeit und ländlichem bzw. urbanem Umfeld.

Die sich anschließenden Kapitel 4, 5 und 6 wenden sich der Verfolgung homosexueller Männer in der Nazi-Zeit zu. Kapitel 4 fokussiert dabei zunächst auf die Reichsebene. Es werden die Aushandlungen in der NSDAP, in SA und SS vorgestellt – schließlich wird der „Röhm-Putsch“ als zentraler Punkt extrahiert, der eine Wende zur massiven Verfolgung homosexueller Männer markiere. In den Darstellungen kommen rechtliche Veränderungen ebenso in den Blick wie Darstellungen konkreter Razzien gerade in urbanen Räumen. In weiten Teilen waren das Land Thüringen und ebenso das Altenburger Land ländlich geprägt. Die Spezifika der dort stattfindenden Verfolgung führt Zinn materialreich – und quasi als Kern der Arbeit – in den Kapiteln 5 und 6 aus. Dabei hat der Autor einerseits institutionelle Bedingungen – etwa Polizei und Staatsanwaltschaft – und die mediale Bearbeitung von Homosexualität im Blick, andererseits spürt er den Auswirkungen von zuvor für das gesamte Reichsgebiet (inkl. der von Deutschland besetzten Regionen) dargestellten Entwicklungen für den konkreten lokalen Kontext nach.

Das sich anschließende Kapitel 7 stellt die Entwicklungen nach 1945 vor. Sowohl für die DDR als auch für die BRD erläutert Zinn dabei die rechtlichen Entwicklungen und problematisiert schließlich insbesondere die Situation in der BRD, in der nicht nur die Verfolgung homosexueller Männer lange fortdauerte, sondern auch die Rehabilitierung der Verurteilten lange brauchte.

In Kapitel 8 gibt der Autor eine knappe Zusammenfassung seiner Ergebnisse.

Ergebnisse und Diskussion

Zinn regt ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf die Homosexuellenverfolgung in der Nazi-Zeit an. Gerade zu Beginn der Nazi-Zeit habe es zahlreiche Spielräume für homosexuelles Leben gegeben. Erst mit dem „Röhm-Putsch“ habe sich die Situation massiv verändert und setzten in größerem Maße Razzien gegen homosexuelle Orte ein, wurden Homosexuelle gelistet und schließlich verfolgt und zu einem Teil in Konzentrationslager verschleppt.

Zinn führt zur Bestrafungspraxis aus: „Wurden vor 1933 noch relativ milde Strafen verhängt, meist Geldstrafen (22 %) oder geringe Freiheitsstrafen unter drei Monaten (52 %), so zeigt sich nach der Neufassung des § 175 eine deutlich härtere Gangart: 1936 ist der Anteil der Geldstrafen auf 3,6 und der der geringen Freiheitsstrafen auf 16,7 Prozent gesunken. Dagegen dominieren nun Gefängnisstrafen von drei bis elf Monaten (47,2 %), die vor 1933 nur 20,9 Prozent ausmachten. In weiteren 27,4 Prozent der Fälle wird sogar auf Gefängnis von einem Jahr und mehr erkannt, vor 1933 waren es nur 2,8 Prozent.“ (S. 303f) Zuchthausstrafen, die mit dem neu gefassten § 175a möglich wurden, seien in „3,8 Prozent der Fälle“ (S. 304) angewendet wurden. Indem sich Zinn auf eine Schätzung von Rainer Hoffschildt bezieht, beziffert er die zwischen 1933 und 1945 nach § 175 und § 175a Verurteilten auf 46.036; hinzuzurechnen seien 6.957 (militärgerichtliche) Urteile gegen Wehrmachtsangehörige.

Auch nach dem „Röhm-Putsch“ zeige sich, in besonderem Maß im ländlichen Raum, dass die deutsche Bevölkerung nicht zur Denunziation homosexueller Männer geneigt habe und „dass die Denunziationen [gegen] Homosexuelle[] hier eher unter dem Durchschnitt liegen“ (S. 306), im Vergleich zur „Denunziation von ‚Rassedelikten‘“ (ebd.). Hier diskutiert Zinn den vorliegenden Forschungsstand und kommt zum Schluss: „Bei genauer Betrachtung zeigen sich sehr differenzierte Haltungen, die mit dem Schwarz-Weiß-Muster ‚Homophobie‘ versus ‚Akzeptanz‘ nicht adäquat zu beschreiben sind. Deutlich wird aber, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung Homosexuellen keineswegs mit Hass, sondern durchaus wohlwollend begegnet.“ (S. 309) Als Beleg für diese Aussage bringt Zinn einen Brief, in dem ein gewöhnlicher Mann an das Justizministerium mit Bitte um Gesetzesänderung schreibt, in der Überzeugung, „dass diesen Brief viele tausend deutscher Volksgenossen mit vollster Überzeugung unterschreiben“ würden (S. 309). Für die – durchaus sehr starke – Ableitung Zinns zu einer gegenüber Homosexualität eher aufgeschlossenen Bevölkerung wären mehr Belege erforderlich. Als zentralen quasi „Risikofaktor“ für die Homosexuellen benennt Zinn hingegen „das Aussageverhalten der Beschuldigten selbst. So führen die Gestapo-Verhöre Homosexueller häufig dazu, dass diese die Namen von Freunden und Sexualpartnern nennen, gegen die dann weitere Ermittlungsverfahren eingeleitet werden.“ (S. 307)

Hier tut sich ein weiteres grundlegendes Problem auf, das sich auch in Bezug auf die juristischen Ausführungen Zinns zeigt: Seine Darstellungen – etwa im Kapitel 4, Reichsebene – führen die Justiz im Deutschen Reich während der Nazi-Zeit als eine Instanz an, die letztlich einfach Gesetze gemacht und damit auch zu einer Art „Rechtssicherheit“ für Menschen beigetragen habe. In einer solchen Weise erscheinen auch in der gerade zitierten Passage die Gestapo-Verhöre als einfache polizeiliche Gespräche ohne Druck oder gar Gewalt. Solche, sicherlich nur im Ringen um neutralen Ausdruck entstandenen, Aussagen verstören. Für die Justiz in der Nazi-Zeit ist mittlerweile wissenschaftlich in großem Maße bestätigt, dass damals eben nicht Recht gesprochen wurde. Auf diesen Erkenntnissen beruhen im Übrigen auch die Rehabilitationen, die der Autor in Kapitel 8 einfordert – und die nun zum Glück und endlich auch für die nach § 175 Verurteilten umgesetzt werden!

Der Autor wendet sich auch homosexuellen Frauen zu, um auszuführen: „Ansonsten [bis auf die Regelungen nach § 129 im ans Deutsche Reich angeschlossenen Österreich, Anm. HV] jedoch bleibt die lesbische Liebe im ‚Dritten Reich‘ von strafrechtlicher Verfolgung verschont.“ (S. 284) Hierzu wäre einiges zu sagen (Claudia Schoppmann u.a. haben es schon vor zig Jahren getan), ich möchte aber bei den homosexuellen Männern bleiben. Das wäre auch für Zinns Arbeit günstiger gewesen, da der längliche Bezug auf die Frauen den Anschein hat, hier eine interne Abgrenzung innerhalb einer schwul-lesbischen Community zu vollziehen. Damit fällt aber noch mehr auf, dass Zinn bei dem weitgespannten Untertitel des Bandes („Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus“) nur eine Gruppe, auch in Bezug auf ihre Verfolgung, im Blick hat – die „§ 175-Homosexuellen“. Keine Rede ist hingegen von den ermordeten Jüdinnen und Juden, den ermorden Rrom*nja und Sinti*zza und von weiteren Gruppen, die in der Nazi-Zeit verfolgt und ermordet wurden – und unter denen sich zahlreiche Homosexuelle befunden haben. Auch keinen Blick wirft er auf die Karrieren von einigen homosexuellen Männern im NS. Damit würden aber Fragen aufkommen: Wann wurden homosexuelle Männer nach § 175 verfolgt? Wie mussten sie anecken, oder wie mussten sie in Opposition zum NS-Regime stehen? Wählt man einen solch weitgesteckten Titel, dann darf einerseits nicht die Mehrzahl der ermordeten Homosexuellen – eben z.B. in den Opfergruppen der Jüdinnen und Juden sowie Rrom*nja und Sinti*zza – fehlen; und auch schwule Nutznießer des NS müssen im Blick sein.

Fazit

Alles in allem sind die Ergebnisse der Mikrostudie durchaus interessant und lesenswert, durch die genannten Schwächen bei ihrer Einbindung ins Forschungsfeld hilft der Band aber nicht weiter, sondern trägt eher dazu bei, dass die Situation – im negativen Sinn – verunklart wird.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 61 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 10.01.2019 zu: Alexander Zinn: "Aus dem Volkskörper entfernt"? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus. Campus Verlag (Frankfurt) 2018. ISBN 978-3-593-50863-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24241.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.


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