Larissa Pfaller, Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären
Rezensiert von Viola Straubenmüller, 02.05.2018

Larissa Pfaller, Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen. Springer VS (Wiesbaden) 2018. 285 Seiten. ISBN 978-3-658-18438-4. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 36,00 sFr.
Thema
Sonniges Wetter, das uns am Morgen spontan heiter stimmt oder spürbar dicke Luft im Konferenzraum – das sind vergleichsweise harmlose Beispiele für die Tatsache, dass Stimmungen und Atmosphären unser Denken, Fühlen und Handeln in diffuser Weise und mit Wirkmacht prägen. Wovon aber geht diese aus?
- Sind es Menschen, Dinge, Räume oder ist es vielmehr das „Dazwischen“ (Merleau-Ponty 1960, S. 261 in Pfaller /Wiesse 2018, zit. bei Wolf, S. 173)?
- Macht hier eine Unterscheidung zwischen innen und außen überhaupt (noch) Sinn und was hat es mit der ontologischen Bruchlinie zwischen Subjekt und Objekt im Atmosphärenkonzept (vgl. Rauh in Pfaller/ Wiesse 2018, S. 130) auf sich?
- Wie bestimmen Affekte unser Zusammenleben, sei es im Büro, im sogenannten „Privatleben“ oder auf politischer Ebene?
Diese Fragen haben derzeit zweifellos wissenschaftliche Konjunktur, wie der Vorspann des Sammelbands eindrücklich unter Beweis stellt. Dass die teilweise fragmentiert nebeneinanderstehenden Diskurse darüber vermehrt aufeinander bezogen werden sollten (vgl.ebd.,S. 5), ist ein vorläufiges Fazit, das sich aus der Auseinandersetzung ziehen lässt.
Herausgebende
Wie der Rückseite des Buchs zu entnehmen, ist Basil Wiesse wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Soziologie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU).
Larissa Pfaller wiederum ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).
Autor_innen
Sie versammeln Autor_innen unterschiedlichster Provenienz, von denen im Folgenden exemplarisch einige herausgegriffen werden. Damit soll die Bedeutung der anderen Beiträge nicht in Frage gestellt sein- jeder einzelne fügt vielmehr interessante Facetten hinzu, die in der Gesamtschau einen Einblick in mögliche Forschungs- und Diskursfelder geben.
Entstehungshintergrund
Das kompakte Buch lenkt die Aufmerksamkeit gemäß dem Titel auf die Affektivität des Sozialen, die sich nicht erst seit der Zeitdiagnose einer postfaktischen Gesellschaft vielgestaltig zeigt (vgl. Pfaller/ Wiesse 2018, S. 1). Es ist aus einer Tagung an der FAU Erlangen-Nürnberg 2015 hervorgegangen und stellt insbesondere das Forschungsdesiderat „homo sentimentalis“ (Illouz 2006 in Pfaller/ Wiesse 2018, S. 3) in den Raum. Sogenannte soziale Akteur_innen sind mindestens ebenso als Patheur_innen zu denken (vgl. Hasse in Gugutzer 2017, S. 150). Jürgen Hasse versteht unter einem Patheur „das vitalen und intuitiven Impulsen folgende Individuum im Unterschied zum rationalen und planvoll handelnden Akteur“ (Hasse 2011, S. 70, ebd.). Dass wir aus dem Konzept gebracht werden und die Fassung verlieren können soll nicht heißen, dass angesichts potenziell ergreifender Stimmungen und Atmosphären kein Gestaltungsspielraum besteht (vgl. ebd., S. 190 f.). Mit Hermann Schmitz ist vielmehr davon auszugehen, dass die labile (zwischen Entschiedenheit und Unentschiedenheit befindliche) Person, die mit einer bestimmten Atmosphäre konfrontiert wird (etwa betretenem Schweigen und niederdrückender Scham, weil ein Vortrag vor vollbesetztem Saal ins Stocken gerät) irgendwie Stellung beziehen muss- sei es in personaler Emanzipation mit ironischer Distanz, die sich zu Verstiegenheit auswachsen kann- oder dem unweigerlichen rot werden und verlegenen Lachen in personaler Regression (vgl. Schmitz 1999, S. 101 f.).
Wie es zu dieser jeweiligen Fassung der Person kommt und wie sie diesen speziellen Stil des Umgangs mit Stimmungen, Atmosphären und dem eigenen affektiven Betroffensein entwickelt, scheint eine andere Frage (vgl. dazu ders.,1999), der sich in Teilen der Beitrag Barbara Wolfs im vorliegenden Band widmet.
Aufbau
Zunächst stellen Pfaller und Wiesse dem ersten Kapitel eine richtungsgebende Einführung mit dem Titel „Affektive Gestimmtheiten in den Sozial- und Kulturwissenschaften“ voran, mit der sie die Beiträge in den Diskurs einbetten. Bereits hier wird die beinah unerschöpfliche Fülle theoretischer Bezüge und Verstrickungen rund um die Begriffe Stimmung und Atmosphäre deutlich. Umso hilfreicher ist die pointierte Zusammenfassung der Einzelbeiträge durch die Herausgebenden.
Im ersten Teil, der mit „Begriffe, Ontologien und Konstitutionen-Theoretische Zugänge“ überschrieben ist (S. 27 ff.), wird sich an besagte Themenfelder angenähert.
Der zweite Teil „zur Erforschung sozialer Affektivität- methodische Zugänge und empirische Felder“ (S. 147 f.) schließt sich an. Eine Zusammenfassung mit Ausblick durch die Herausgebenden findet sich nicht am Ende, sondern ab S. 16.
Ausgewählte Inhalte und Diskussion
Die Beiträge sind, der Breite des Feldes entsprechend, ausgesprochen unterschiedlich: von grundlegenden Auseinandersetzungen mit drei Haltungen der Affect studies (Slaby,S. 53 f.) über Atmosphären als sozialisierende Einflussgröße (Wolf S. 169 f.) bis hin zur „Herstellung“ von Atmosphären im Sport (vgl. Meyer/von Wedelstaedt, S. 233 f.) erstreckt sich der Streifzug und endet mit einem Beitrag des Herausgebers über Situationen und ihre Smartphones (Wiesse, S. 263 f.). Die soziale Sprengkraft der Thematik (wie etwa bei Slaby ab S. 71 zur Diskussion gestellt) bringt die Notwendigkeit mit sich, Affekte, Atmosphären und Gestimmtheiten nicht lediglich als Randerscheinungen des scheinbar Eigentlichen zu marginalisieren, sondern ihrem ubiquitären Charakter (vgl. von Scheve/ Berg, S. 38) Rechnung zu tragen. Doch wie kann das gelingen?
Barbara Wolf demonstriert, wie sich Atmosphärisches überzeugend in ein Forschungsdesign einbeziehen lässt. Der Diagnose eines fehlenden Atmosphärenbegriffs in der Sozialisationsforschung (S. 171), für die sich Wolf etwa auf Gugutzer (2002) bezieht, folgt eine sorgfältige Rahmung ihrer eigenen Arbeit, bei der auch der sogenannte body turn der Sozialforschung (S. 172) Erwähnung findet. Das Label turn, welches Pfaller und Wiesse auf S. 6 nachvollziehbar relativieren, macht im Übrigen auf eine Grundproblematik des Themenkomplexes Affekt-Stimmung- Atmosphäre aufmerksam: so sollten diese nicht im Sinne von Bindestrichdisziplinen (-soziologie, -psychologie, philosophie, -pädagogik etc.) vorübergehende Konjunktur erfahren, sondern „umfassende reflexive Neubewertung kanonischer Positionen“ bewirken (ebd. S. 6). Hierfür plädiert meines Erachtens auch Wolf, indem sie den Leib (mit Hermann Schmitz und anderen) als Resonanzboden für frühkindliche Erfahrungen herausstellt. Damit ist Leiblichkeit nicht lediglich eine Randbedingung von Sozialisation, sondern das Medium, in dem sich diese vollzieht (vgl. Wolf, S. 173).
Unter die Klammer leibliches „In-der Welt-Sein“ (Heidegger 1963, S. 54 in Wolf, S. 173) lassen sich bei aller Vorsicht Stimmungen und Atmosphären vielleicht am ehesten fassen. Das Erleben von Atmosphären schließt damit weder analytisch-nüchterne Bewertungsanteile kategorial aus, noch die Möglichkeit, dass eine „Antwort“ indifferent oder paradox ausfallen kann (wenn jemanden etwas kalt lässt oder wider Erwarten anspringt, vgl. Rosa 2016). Wir haben es mit lediglich potenziellen Resonanzen zu tun, weil die Wahrnehmung aus einer bestimmten Situation heraus erfolgt, wie auch Großheim et al. (2015, S. 63) im Text Julmis „Soziale Situation und Atmosphäre“ (S. 103 f.) zu entnehmen ist. Zu diesen Situationen gehören auch Dinge- die Affizierbarkeit durch einen Text, ein Bild oder einen Fußball. Selbstverständlich auch Tiere, die mit ihrer Anwesenheit eine Atmosphäre der Behaglichkeit oder Bedrohlichkeit bedingen können (vgl. Gugutzer in Peters/Schulz 2017, S. 77). Ob wir wie betroffen oder (um-)gestimmt werden, hängt von vielem, letztlich Unverfügbarem (vgl. Rosa 2016) weil in chaotische Mannigfaltigkeit von Situationen Eingelassenem ab (vgl. Schmitz 1999, S. 43). Ähnliches gilt für das durch Forschende zwar bestmöglich zu explizierende, aber dennoch affektiv gefärbte Set an Grundgestimmheiten im Hinblick auf einen Gegenstand (vgl. Reichertz 2015). Im Rahmen entsprechender Designs kann dies jedoch- wie etwa in der Aisthetischen Feldforschung (vgl. Rauh 2012, S. 203 f. in Pfaller/ Wiesse 2018, S. 140 f.) produktiv genutzt werden.
Fazit
Ein inhaltliches Fazit zu ziehen erscheint angesichts der anspruchsvollen und verschiedenartigen Beiträge als unangemessen. Das Thema lässt es jedoch meines Erachtens zu, von der eigenen Affiziertheit ausgehend eine Einschätzung zu geben. Der Sammelband regt an, sich eingehender mit dem Thema Stimmungen und Atmosphären auseinanderzusetzen. Durch bestechende Beispiele einerseits und anspruchsvoll arrangierte Schlaglichter auf theoretische Grundlagen andererseits schafft er einen Zugang, der dem Thema entgegenkommt. Als Ausgangspunkt für Lehre und Forschung eignet sich der Beitrag ebenso wie als anregende Lektüre aus „zweckfreiem“ Interesse. Es bleibt abzuwarten, welche lebens- und handlungspraktischen Folgen langfristig aus dieser innovativen Art der Forschung und Theoriebildung hervorgehen werden: eine Verengung auf Rezepte zum Herstellen von Atmosphären gilt es nicht nur meines Erachtens mit Vorsicht zu genießen.
Literatur
- Gugutzer, Robert (2017): Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie. In: Zeitschrift für Soziologie 46, 3, S. 147-166.
- Gugutzer Robert (2017a): Resonante Leiber, stumme Körper? In: Peters/ Schulz (2017), S. 69-85.
- Peters, Christian Helge /Schulz, Peter (2017): Resonanzen und Dissonanzen. Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion. Bielefeld: transcript.
- Reichertz, Jo (2015): Die Bedeutung der Subjektivität in der Forschung. In: FQS, Volume 16/ 3, Art. 33.
- Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
- Schmitz, Hermann (1999): Der Spielraum der Gegenwart. Bonn: Bouvier.
Rezension von
Viola Straubenmüller
Pflegewissenschaft M.A., Pflegepädagogik B.A.
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