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Alexander Cherdron: Väter und ihre Söhne

Rezensiert von Prof. Dr. Horst Jürgen Helle, 15.10.2018

Cover Alexander Cherdron: Väter und ihre Söhne ISBN 978-3-662-54450-1

Alexander Cherdron: Väter und ihre Söhne. Eine besondere Beziehung. Springer (Berlin) 2017. 108 Seiten. ISBN 978-3-662-54450-1. D: 14,99 EUR, A: 15,41 EUR, CH: 15,50 sFr.

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Autor und Thema

Ein Facharzt für Allgemeinmedizin, der als Psychotherapeut psychoanalytisch arbeitet, hat sich entschlossen, die vielen Erfahrungen aus seiner Begegnung mit Patienten den Lesern dieses Buches zugänglich zu machen. Er steht dabei schon wegen der Zentralstellung des Themas „Väter und ihre Söhne“ in der Tradition Sigmund Freuds, dem Begründer der Psychoanalyse, und in der viel weitergehenden Tradition des Ödipus, der seinen Vater umbringt, ohne zu wissen, dass sein Opfer sein Vater war.

Der Autor, Alexander Cherdron, stellt gleich im ersten Satz des Vorworts fest, welche große Bedeutung er in der Vater-Sohn-Beziehung sieht und schreibt, sie sei „so alt wie die Menschheitsgeschichte“ (Seite V). Dann bezieht er sich auf den biblischen Schöpfungsbericht und die griechische Mythologie (der wir ja den Ödipus verdanken) und gesteht damit implizit zu, dass die Menschheitsgeschichte weiter zurückreicht, sogar bis in eine Epoche, in der es vor der Bibel und den Griechen noch keine Väter gab (sondern nur Onkel).

Umso bedeutender ist das Thema dieses Buches von der „besonderen Beziehung,“ weil wir mit Aufstieg und Verfall von Vaterschaft im Bereich menschlicher Familienverhältnisse und mit einer Rückentwicklung zu kulturellen Niveaus vor Ödipus, vor Abraham und vor Konfuzius, rechnen müssen. Einen überzeugenden Grund für die große Bedeutung der Vater-Sohn-Dyade sieht Cherdron eben darin, einen weiteren in der Tatsache, dass Übertragungen die Dynamik der Auseinandersetzung zwischen zwei männlichen Vertretern zweiter verschiedener Generationen „auch in Systemen – in Organisationen, Mann-Schaften, in Staat, Kirche und Wirtschaft“ (ebd.) wirksam werden lassen.

Aufbau und Inhalt

Auf die Einleitung folgen zwei Textteile.

  1. Der erste Teil verbindet in acht Kapiteln (Ziffer 2 bis 9) den wissenschaftlichen Diskurs zur Vater-Sohn-Thematik mit Therapieerfahrungen und Politikentwicklungen, sodass auch Erdogan, Putin und Trump zur Sprache kommen.
  2. Der zweite Teil bringt nach einer Einführung sechs Fallbeispiele, die durch ihre Anschaulichkeit das Potenzial haben, den Leser besonders zu fesseln, weil sie ihn in die Werkstatt des Therapeuten führen.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

In der Einleitung zu Textteil I präsentiert sich der Autor selbst als Betroffener: „Während des Schreibens dieses Buches ist mein Vater, länger absehbar, gestorben und mein Sohn ist volljährig geworden…“ (S. 3).

In Kapiteln 2 wendet Cherdron sich dem Erleben der Geburt des eigenen Kindes als dem „Eintritt der Vaterschaft“ (S. 8) mit möglichen hormonalen Veränderungen zu. Im nächsten Kapitel geht es um das „Kind im Kopf“ dass – auch ohne, dass dies jemals besprochen worden wäre – zum „Vollstrecker“ von Familienanliegen herangezogen werden kann, sei es um die Familienehre wieder herzustellen oder Kränkungen zu „rächen“ (S. 10), sei es um einen früh verstorbenen nahen Verwandten „wiederzubeleben“ (S. 11). Besonders problematisch kann es sein, wenn der sehnlichst gewünschte Sohn als Mädchen zur Welt kommt und dann dem Vater durch Verleugnung seines weiblichen Geschlechts gefällig sein möchte (S. 13).

Im Kapitel 3 geht es um die „Identitäts-Diffusion der Männer“ und um moderne Probleme, die aus der Neubestimmung von Geschlechtsrollenmerkmalen entstanden sind. Der Autor bedauert, „dass vor allem die psychoanalytische Entwicklungspsychologie die Bedeutung des Vaters, insbesondere in der ersten nachgeburtlichen Phase des Kindes… außer Acht gelassen… hatte.“ (S. 17).

Die sechs übrigen Kapitel haben folgende Überschriften:

  • 4 Vaterrolle und Vaterbild im Wandel der Geschichte (27-32).
  • 5 Was konstatiert die aktuelle Väterforschung den Vätern an positivem Einfluss auf die Sohn-Entwicklung (33-40)?
  • 6 Tempora mutantur – Phasen der Vater-Sohn-Beziehung und deren Charakteristika (41-63).
  • 7 Fallbeispiele der Vater-Sohn-Beziehung: Saturn, Brutus, Steve Jobs, Kirk Douglas, Michel aus Lönneberga und der Erlkönig (S. 65-72).
  • 8 Väter und Söhne heute – alles friedlich, oder was (S. 73-79)?
  • 9 Generation Y und väterlicher Führungsstil (S. 81-85).

Beginnend auf S. 89 folgen eine Einführung und sechs Fallgeschichten.

Diskussion

Als ob es eines Hinweises auf die Aktualität des Themas bedurft hätte, erwähnt Cherdron die „Tatsache, dass heute etwa jedes siebte Kind in Deutschland bei nur einem Elternteil aufwächst, davon 90 % bei der Mutter…“ (S. 45). Ohne das quantifizieren zu können schreibt er von den „großen Söhnen“ in den Psychotherapie-Praxen, deren alleinerziehende Mütter den werdenden Männern mit der Einstellung, dass Männer im Grunde doch „alle Schweine“ sind, den Lebensweg nicht gerade erleichtert haben (S. 44). Von besonderer Tragik sind jene Fälle, in denen der Vater zu spät kommt. Dazu zitiert der Autor einen Sohn: „Du hast Dich früher nicht für mich interessiert und warst nie da und jetzt habe ich ohnehin meine eigene Welt“ (S. 55).

Im sechsten Kapitel von den Phasen der Vater-Sohn-Beziehung führt der Autor den Leser am Ende in einem Exkurs zu einem „gewaltigen Urvater.“ Hier ist zunächst von Erdogan, Putin und Trump die Rede, doch dann werden auch Beobachtungen zu Gaddafi, Gorbaschow, Obama und sogar „Mutti“ Merkel einbezogen. Hier geht ausnahmeweise einmal die Vielfalt der Beispiele auf Kosten der Klarheit des Arguments. Aber dann wirken die fünf Fallgeschichten zwingend durch ihre Lebensnähe, und die Zusammenführung von unvergleichlichem Einzelschicksal mit menschheitstypischem, tragischem Versagen bietet sich nun bei der Lektüre dieser Therapiebeschreibungen dem Leser dar.

Fazit

Ein wichtiges Buch, dessen Bedeutung sich nicht auf eine Disziplin oder Facharztkompetenz beschränkt, sondern das aus der Empathie mit dem an Missverständnis und Trauer leidenden Betroffenen einer Vater-Sohn-Beziehung seine Lebensnähe und zwingende Überzeugungskraft gewinnt. Der Autor ist in seinem Anspruch zu bescheiden um anerkennen zu wollen, dass er nichts weniger als die Grundlagen der gegenwärtigen Kultur offenlegt und Hinweise dafür gibt, wie Familien und (s.o.) eben auch „Organisationen, Mann-Schaften, in Staat, Kirche und Wirtschaft“ (Seite V) in Gegenwart und Zukunft aufgrund einer besonderen Beziehung Verzweiflung und Leid oder Hoffnung und Menschlichkeit herbeiführen werden.

Rezension von
Prof. Dr. Horst Jürgen Helle
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Soziologie
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Es gibt 23 Rezensionen von Horst Jürgen Helle.

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ISSN 2190-9245