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Jakob Johannes Koch (Hrsg.): Inklusive Kulturpolitik

Rezensiert von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, 17.09.2019

Cover Jakob Johannes Koch (Hrsg.): Inklusive Kulturpolitik ISBN 978-3-7666-2406-2

Jakob Johannes Koch (Hrsg.): Inklusive Kulturpolitik. Menschen mit Behinderung in Kunst und Kultur. Analysen, Kriterien, Perspektiven. Butzon & Bercker (Kevelaer) 2017. 287 Seiten. ISBN 978-3-7666-2406-2. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
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Thema

Jakob Johannes Koch rückt mit seinem sehr lesenswerten Buch ein Problem ins öffentliche Interesse, das im etablierten Kunstbetrieb (hoffentlich) einiges in Bewegung setzen wird. Menschen mit Behinderung bzw. Beeinträchtigung sind bislang kaum als aktive Künstler*innen wahrgenommen worden; dazu kommt, dass Menschen mit Behinderung wenig an Kunst partizipieren können. Der etablierte Kunstbetrieb rechnet nicht mit Inklusion und lässt sich oft genug als phantasielos und barrierereich charakterisieren: Aber professionelle Kunst von Menschen mit Behinderung existiert und lässt sich auch barrierefrei gestalten

Herausgeber

Dr. Jakob Johannes Koch, Studium Musik und Theologie, Promotion zu einem Thema der Kirchenmusik, arbeitet seit 2000 als Kulturreferent im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn.

Aufbau

Das Buch gliedert sich nach einem Geleitwort von Ulla Schmidt und einem Vorwort von Jakob Johannes Koch wie folgt:

I. Grundlegung einer inklusiven Kulturpolitik

  • Max Fuchs: Wie hast du's mit der Inklusion? Grundlegung einer inklusiven Kulturpolitik
  • Bea Gellhorn: Kunst und Kultur im Kontext der Inklusionsdebatte. Gleichberechtigte Teilhabe und -teilnahme am Kulturbetrieb
  • Thomas Noetzel/Jörg Probst: Behinderung und Krankheit als Stigma? Zur Ambivalenz von Kategorisierungen normabweichender Kunst und Kultur

II. Kunst von Menschen mit Behinderung

  • Jakob Johannes Koch: „Es würde etwas Unverwechselbares fehlen!“ Kunst von Menschen mit Behinderung von der Antike bis heute
  • Konrad Heiland: Mit der Psychose flirten. Künstler am Rand, abseits der Norm
  • Frederik Poppe: Kunst im toten Winkel? Warum Kunst von Menschen mit Behinderung mehr Aufmerksamkeit verdient
  • Olaf Zimmermann: Nichts ist langweiliger als Normalität. Chancengleichheit für behinderte Künstler, denn normale Künstler gibt es sowieso nicht

III. Ganzheitliche Barrierefreiheit in Kunst und Kultur

  • Irmgard Merkt: Kostbarkeiten zu verzollen? Kulturelle Teilhabe und Inklusion
  • Siegfried Saerberg: Die unsichtbaren Seiten der Kunst. Was Teilhabe an Kunst uns von uns selbst und anderen mitteilen kann
  • Thorsten Hinz: Inklusion – sind wirklich alle gemeint? Teilhabe an Kultur von Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen
  • Rolf Emmerich: Wo liegen für Menschen mit Behinderung die Hürden zu kultureller Teilhabe und wie können diese überwunden werden?

IV. „Ich bin Künstler und ich habe eine Behinderung“ – Drei Interviews

  • Peter Radke: Schauspieler und Publizist
  • Axel Brauns: Schriftsteller und Filmemacher
  • Benedikt Lika: Dirigent und Politiker

Es folgen Informationen zu den Autor*innen und ein Bildnachweis.

Inhalt

Ad 1

Ulla Schmidt betont in ihrem Geleitwort, dass mit der Unterzeichnung Deutschlands 2009 der UN-Behindertenrechtskonvention Teilhabe an der Kunst zum Menschenrecht erhoben wurde (S. 7), was aber allen Menschen zugutekomme, denn Kunst lebe von der Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Perspektiven, Formen und Akteur*innen. Zudem verfügen Menschen mit Behinderung oft auch über eine Inselbegabung: „Wenn wir solche besonderen Fähigkeiten von Menschen mit Handicaps – und davon gibt es viele – nicht gedeihen lassen, nicht nutzbar machen, ist das ein großer gesellschaftlicher Verlust!“ (S. 7) Zu betonen sei allerdings, dass die „Festlegung des Rechts auf Teilhabe“ (S. 8) erst ein Anfang ist, denn Inklusion sei mit den Worten Joachim Gaucks „eines der anspruchsvollsten Emanzipierungsprojekte unserer Zeit“ (S. 8).

Ad 2

Das Buch, so Jakob Johannes Koch, sei eine Premiere eines umfassenden Diskurses über „Inklusive Kulturpolitik“ (S. 9) und arbeite sich an den Fragen ab: „Wie inklusiv ist die deutsche Kulturlandschaft? Und wie inklusiv ist die Kulturpolitik in Deutschland?“ (S. 9) In vielen Bereichen der öffentlichen Kultur (Konzerte, Theater, Kino, Ausstellungen usw.) rechne man nicht mit Menschen mit Behinderung oder Beeinträchtigung weder als Besucher*innen noch als Kunstschaffende (S. 9), was aber langfristig dazu führe, die Kunst im „Elfenbeinturm verhungern“ zu lassen (S. 11), „… denn die Welt da draußen, die des Publikums, ist mittlerweile eine ganz andere; sie hat sich verändert – sie ist divers und das Publikum vielfältig, anspruchsvoll und selbstbewusst“ (S. 11).

Ad 3

Von Inklusion, so Max Fuchs, sei im Kulturbetrieb bislang noch wenig spürbar (S. 15), es gehe aber um Teilhabe, Mitwirkung oder um Nichtmitwirkung oder Diskriminierung (S. 16). Der Autor bezieht sich in seinem Aufsatz grundsätzlich auf den sogenannten Inklusionsindex nach Booth & Ainscow (2003) und auf Art. 27 der AEMR (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) und betont, dass die Menschenrechte für alle Menschen Geltung haben (S. 20); noch wichtiger sei aber der Bezug auf das einzelne menschliche Individuum (S. 23) in seiner Selbstzweckhaftigkeit (S. 25): „Der Mensch ist also ein kulturell verfasstes Wesen, was bedeutet, dass er in der Lage ist, die Umstände seines Lebens nach eigenen Zielen und Wünschen gestalten zu können“ (S. 25).

Das bedeutet aber, dass jeder Mensch kulturell aktiv werden könne und dass diese Möglichkeit zu den Konstituenten des Menschseins hinzugehörten (S. 26). Nach Ernst Cassirer trägt die Ausbildung symbolischer Formen zur Perspektivenvielfalt bei und habe so existenzielle Bedeutung für das Menschsein (S. 27): „Insbesondere scheint eine Erklärung für die These der Selbstzweckhaftigkeit künstlerischer Aktivität darin zu bestehen, dass sich der Mensch auf diese Weise aus bloßen Überlebensprozessen herauslösen kann und Dinge schafft, in denen er Fähigkeiten und Fertigkeiten für sich und andere vergegenständlicht“ (S. 28). Der Umgang mit Kunst beinhalte, so Max Fuchs, auch die Herstellung von Differenz bzw. der Unterscheidung (S. 29) – konsequenterweise führe das aber auch zu einem Recht auf Nicht-Inklusion (S. 30).

Ad 4

Bea Gellhorn sieht in der Kunst allgemein eine Möglichkeit, eine Brücke der Verständigung und die Kunst schenke zudem „Selbstwertgefühl, Stolz und Anerkennung für das eigene Schaffen“ (S. 35). Das bedeutet, dass ästhetische Erfahrungen gleichsam die Möglichkeit des menschlichen Selbst darstellen, sich in der Welt zu orientieren. Gleichwohl gibt die Autorin zu, dass der Inklusionsgedanke mit Schwierigkeiten zu kämpfen habe (S. 37). Trotzdem werden jüngst auch Künstler*innen mit Beeinträchtigung als aktiv Kunstschaffende wahrgenommen, wie es in Art. 30.2 der UN-BRK auch vorgesehen ist (S. 40). Inklusion bedeutet in diesem Kontext von Kunst, dass die Bedingungen reflektiert werden müssen, unter denen Kunstschaffende mit Behinderung oder Beeinträchtigung arbeiten (S. 44): „Der Versuch, die individuellen Beeinträchtigungen zu verbergen, führt unweigerlich zu Überforderungen und in vielen Fällen zur Sekundärerkrankungen…“ (S. 45). Dennoch müssen Kunstschaffende mit Beeinträchtigung als vollwertige Künstler*innen angesehen werden (S. 46), weil die Auseinandersetzung mit Kunst nicht nur kognitive Kompetenzen, sondern auch „sozial-emotionale“ und „moralische“ Kompetenzen fördere (S. 49). Gleichwohl konstatiert die Autorin, dass gesellschaftlich noch längst keine Gleichberechtigung zwischen Künstler*innen mit oder ohne Beeinträchtigung erreicht sei (S. 51). Bea Gellhorn plädiert dafür, „Inklusion als Leitkultur“ zu implementieren (S. 53).

Ad 5

Thomas Noetzel und Jörg Probst gehen der Frage, inwieweit Behinderung und Krankheit stigmatisieren bzw. wie normabweichende Kunst und Kultur zu kategorisieren seien (S. 57). Nach Erving Goffman (1963/1975) zeichne sich eine Stigmatisierung dadurch aus, dass betroffene Personen sozial isoliert würden (S. 58): „Im Stigma kreuzen sich damit gesellschaftliche Praktiken, Interaktionsmuster und individuelle Identität; im Stigma zeigt sich ein spezifisches gesellschaftliches Ensemble als individuelle Signatur“ (S. 58). Demgegenüber würde echte Inklusion bedeuten, ähnliche Bedingungen wie bei den Paralympics für Kunstschaffende mit Behinderung zu schaffen und „Gemeinschaften zu pflegen, in denen die Souveränität der Distanzierung von eigenen Wahrnehmungssinnstiftungsstrukturen gelingt…“ (S. 61). Beide Autoren kritisieren emotional-konservative bzw. national-völkische Stimmungen und die damit verbundenen sozialen Definitionen bezüglich krank/gesund, behindert/nichtbehindert usw. (S. 63). „Kunsthistorische Bildforschung“ wird von den beiden Autoren als bildungswissenschaftliche Interpretationswissenschaft charakterisiert, die gesellschaftlich notwendig zu implementieren sei (S. 65). Die sprachliche Übernahme medizinisch-diagnostischer Begrifflichkeiten sei bei der Bildanalyse anstößig und führe in die oben kritisierten „völkischen“ bzw. rassistischen Vorstellungen (S. 67): „Sich von Ordnungsschemata und Stigmatisierungen wie ‚krank/gesund‘, ‚behindert/nichtbehindert‘ zu lösen, bedeutet daher zugleich die Rettung der Phänomene und die Rettung des Emanzipatorischen“ (S. 71).

Ad 6

Jakob Johannes Koch verweist in seinem Beitrag auf die Geschichte der ästhetischen Kultur, in der es schon immer Werke von Menschen mit Behinderung gegeben habe (S. 79). Für die Antike sei jedoch die Quellenlage über Künstler*innen mit Behinderung sehr dünn (S. 79). So war Menschen mit Beeinträchtigung der Zugang zur Architektur, Bildhauerei, Malerei gesellschaftlich verwehrt (S. 80) und dieser Personenkreis konnte sein Auskommen allenfalls in Schauspieltruppen und freien Musikensembles finden; zudem wurden angeborene und (früh) erworbene Behinderungen gesellschaftlich differenziert; am Ende der sozialen Hierarchie standen Menschen mit angeborener Behinderung (S. 81), die auf Assistenz und Unterstützungsleistungen seitens ihrer Familien angewiesen waren. Unterhaltungskunst war deshalb das Metier der Kunstproduktion: „Ihre berufliche Aufgabe bestand darin, dem Publikum Kurzweil und Belustigung zu bieten, erzwungenermaßen oft unter Preisgabe des Anspruchs an die eigene Würde“ (S. 82). Waren kultische Künstler*innen von einer erworbenen Behinderung betroffen, führte das unweigerlich zum Ausschluss aus dem kultischen Bereich (S. 83).

In der lateinischen Antike wurden Menschen mit Behinderung als Prodigium (als Wunderzeichen oder als Ungeheuerlichkeit) betrachtet (S. 84). Im Mittelalter fristeten Künstler*innen mit Behinderung als Hofnarren ihr Dasein und außerhalb von Hof-Veranstaltungen sah man im Menschen mit Behinderung eher „Teufelswerk, Vergänglichkeit und Sünde“ (S. 85). Talentierte Hofnarren konnten es relativ weit bringen; die sog. „Narrenfreiheit“ (S. 86) hat da ihren Ursprung – in den klassischen schönen Künsten gab es jedoch nur sehr wenige künstlerische Ausnahmeerscheinungen wie Hermann von Reichenau (1013-1054) oder Francesco Landini (1325-1397). In der frühen Neuzeit waren geburtsbehinderte Menschen auf die Unterstützung ihrer Familien angewiesen und waren aus der jeweiligen Gesellschaft ausgegrenzt (S. 88). Auch dieser Personenkreis fand beim „fahrenden Volk“, d.h. in der Unterhaltungsbranche, Zuschlupf. Im Renaissance-Humanismus kommt es zu einer vorsichtigen Neubewertung von Behinderungen (S. 89), sodass man ansatzweise den Gedanken der Inklusion benennen könnte (S. 90) – aber auch das Phänomen der „Hofnarrenkultur“ gibt zu denken Anlass (S. 90).

In der Geschichte seit der Industrialisierung wurden Menschen mit Behinderung oft im Unterhaltungs- und Zirkusbereich in Freakshows ausgestellt oder als „Monster“ dem Publikum angekündigt (S. 92). In der städtischen Kultur gab es auch „Ensembles“, die sich von dilettantischen Schauspieltruppen mit Menschen mit Behinderung professionell unterschieden (S. 93) – aber von einem Diversitäts- bzw. Inklusionskonzept waren die meisten Ensembles trotzdem weit entfernt (S. 94). Der Autor nennt jedoch Personen wie Ludwig van Beethoven, Bedřich Smetana oder Claude Monet, die trotz ihrer körperlichen Beeinträchtigung Überdurchschnittliches an Kunst geschaffen haben (S. 95). Im 19./20. Jahrhundert wurden Künstler*innen mit psychischen Auffälligkeiten oder intellektuellen Beeinträchtigungen massiv diskreditiert oder wie im Nationalsozialismus als „unwertes Leben“ entwürdigt und später ermordet. Als leise Nebenspur hat sich Kunst z.B. aus dem Bereich der Psychiatrie (Walter Morgenthaler/Hans Prinzhorn) etabliert (S. 98), wovon z.B. Surrealismus und Expressionismus (z.B. Max Ernst) profitierten (S. 98). Der Autor plädiert dafür, diese Form von Kunst nicht auf „therapeutische Produkte“ festzulegen, sondern in ihrer Eigenständigkeit wahrzunehmen und auch solche zuzubilligen (S. 102). „Ästhetische Produkte“ bzw. künstlerische Werke von Patient*innen sollten nicht sollten nicht auf eine krankheits- behindertenbezogene oder auch pathologische Sicht reduziert werden: „Diese Menschen mit psychischen Behinderungen oder chronifizierten psychischen Erkrankungen bringen deutlich eigenständige, eben nicht typologisch zustandgebundene Positionen auf den Malgrund – es sind wirklich autonome Künstler“ (S. 106).

Ad 7

Konrad Heiland widmet seinen Beitrag Künstler*innen, deren Kunst abseits der Norm liegt (S. 119). Als Beispiel nimmt er den Filmemacher Rainer Werner Fassbinder, der immer wieder als Person aber auch mit seinen Filmen provozierte (S. 119). Der Autor plädiert dafür, dass Künstler*innen nicht durch ihre Formen der Selbstinszenierung, sondern durch ihre Kunst überzeugen sollen (S. 123). Unter dem Stichwort „verkörperte Vergegenwärtigung“ werden Künstler*innen wie Milo Rau, Gerhard Ritter, Elfriede Jelinek, Jerôme Bel vorgestellt und Normalität infragegestellt (S. 127): „Tatsächlich kann offenbar die Normalität selbst zum Problem werden, wenn sie Ausdruck einer Überanpassung ist, in der individuelle Eigenarten verschwinden, weil sie gleichsam glattgebügelt worden sind.“ (S. 127). Kunst müsse gegen Messbarkeit, Normierbarkeit, gegen die Herrschaft der Zahlen stehen (S. 128) – in Kunst und Kultur werden integrativ unterschiedliche Lebenswelten miteinander verbunden, was ein hohes Gut darstellt (S. 131): „Der Künstler ist jemand, der eo ipso Systeme trans-zendiert, also überschreitet. Mithin ist er gefordert, einen Balanceakt zu vollbringen, indem er sich für den psychotischen Raum öffnet, ohne jedoch gänzlich in ihm zu verschwinden.“ (S. 132) Künstler*innen wie die Beispiele Proust – Handke – Müller – Strauß zeichnen sich durch eine „hypersensible Aufmerksamkeit jenseits der Norm“ aus (S. 133).

Am Beispiel des DJ Thomas Meinecke geht es im Bereich feministischer Dekonstruktion um Normverwirbelung durch Kunst (S. 135): „Behinderung wäre somit nicht mehr das Jenseits-der-Norm-Stehen, sondern das In-der-Norm-Verharren… Die wahre Behinderung ist das Festhalten an der Norm“ (S. 136).

Ad 8

Frederik Poppe plädiert dafür, der Kunst von Menschen mit Behinderung mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Aber Menschen mit Behinderung können nicht barrierefrei Kunst konsumieren, rezipieren oder sogar produzieren. Ein Hindernis ist die oft geforderte akademische Ausbildung – der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten sei eines der gravierendsten Probleme (S. 143); auch die Möglichkeit, kommunikative Kompetenz zu erwerben, sei eingeschränkt: „Als kommunikative Kompetenz bezeichnet man die Fähigkeit eines Menschen, eine adäquate Sprachanwendung kontextbezogen einzusetzen und somit Sprachwissen mit Weltwissen kombinieren zu können …“ (S. 143). Der Autor plädiert für Formen der „unterstützenden Kommunikation“ und auch für kreative nonverbale Ausdrucksformen (S. 144) bzw. des Gebrauchs von Symbolen. Schwierig wird es in der Kunstanalyse von Kunstwerken von Menschen mit kognitiver Behinderung, die entweder „kulturellen Äußerungen naturverbundener Völker“ oder entwicklungspsychologisch Entwicklungsstufen des Menschseins zugeordnet werden (S. 145). Im Folgenden werden dann Beispiele von Kunst vorgestellt, die über symbolische Kommunikation erschließbar wird (S. 146): Josef Hofer, Stefan Häfner (S. 147), Tongtad Mahasuwan (S. 149). Diese Künstler*innen treten mittels künstlerischer Ausdrucksformen mit ihrer Umgebung in Kontakt (S. 151), wobei deutlich wird, dass Kreativität nicht unbedingt an kognitive Fähigkeiten gebunden sein muss (S. 152).

Ad 9

Olaf Zimmermann fordert „Chancengleichheit für behinderte Künstler, denn normale Künstler gibt es sowieso nicht“ (S. 159). Die meisten Künstler*innen mit Beeinträchtigung und/oder Behinderung haben keine akademische Qualifikation, sondern haben sich als Autodidakten qualifiziert (S. 160). Für die Aufnahmeprüfung an Kunst- und Musikhochschulen sind zusätzliche Hürden zu nehmen, oft genügt an Kunsthochschulen nicht einmal das vorgelegte künstlerische Produkt. Diese Hürden wären abzubauen; zudem gibt der Autor zu bedenken, dass zur Begabung auch ein „eiserner Wille“ dazukommen müsse, um die Laufbahn eines Künstlers/einer Künstlerin einschlagen zu können (S. 161). Abzuwehren sei auch die Vorstellung, dass Künstler*innen körperlich unversehrt sein müssten (S. 162) – es existieren genügend Beispiele, dass Künstler*innen mit körperlicher Beeinträchtigung erfolgreich sind (z.B. Jörg Immendorff, Thomas Quasthoff). Ähnlich wie andere Autor*innen des Buches fordert Olaf Zimmermann, sich am Sport ein Beispiel zu nehmen und ein System mit Assistenzbedarf ähnlich der Paralympics einzurichten bzw. zu entwickeln (S. 167). Gleichwohl macht der Autor darauf aufmerksam, dass die ausübende Kunst kräftezehrend sein könne und ein hohes Maß an Disziplin verlange, auch einmal NEIN zu sagen (S. 169) – was selbstverständlich in entsprechenden Ausbildungs- bzw. Studiengängen auch Thema sein könne (S. 170).

Ad 10

Irmgard Merkt fokussiert (S. 177) kulturelle Teilhabe, wie sie in Art. 30.1 der UN-BRK vorgesehen ist. Ihr wichtig sind die Zugänge zur Kultur, aber auch die Entstehens- und Umsetzungsbedingungen für aktives künstlerisches Gestalten (S. 178). Darüber hinaus plädiert sie für eine Neubewertung von „Kompetenzen und Leistungen von Menschen mit Behinderung“ (S. 179). Sie macht deutlich, dass ca. 56 % der Menschen mit Behinderung einer künstlerischen oder musischen Freizeitbeschäftigung nachgehen (S. 180). Erschreckend sind jedoch oft Barrieren aller Art, die die Zugänge zu Kunst und musischer Tätigkeit versperren (S. 181): „Ein Hindernis für die Entfaltung inklusiven Kulturlebens ist die negativ getönte Einschätzung künstlerischer Begabung von Menschen mit Behinderung“ (S. 181). Die Begabungen von Menschen mit Behinderung sind bislang übrigens kein Forschungsthema in der Wissenschaft (S. 182), auch nicht für die sog. Wirkungsforschung. Irmgard Merkts These lautet: „Die Gleichung Inklusion = Niveauverlust ist zumindest in allen performativen künstlerischen Disziplinen eines der größten Hindernisse für die Entwicklung teilhabegerechter Kultur. Die Gleichung Inklusion = Innovation für alle wäre eine angemessene Alternative“ (S. 183).

Die Autorin plädiert dafür, Inklusion zur Basis der Lehramtsausbildung zu machen und Menschen mit Behinderung an den Kunst- und Musikhochschulen vom sog. Nebenfachzwang zu befreien (S. 184) – neue Möglichkeiten des Kunstschaffens entstehen, wie die Tabellen auf S. 187f unter Einbezug neuer Technologien zeigen: Gleichzeitig müssten jedoch auch neue Qualitätskriterien entwickelt und evaluiert werden (S. 191).

Ad 11

Siegfried Saerberg erörtert in seinem Beitrag die Auswirkungen von Teilhabe und Inklusion auf ein neues Selbst- und Weltbild (S. 196). Am Anfang des Aufsatzes werden persönliche Erfahrungen mit Blindheit bei Museumsbesuchen mit den Lesenden geteilt, die sehr eindrücklich sind, weil dem Blinden anstelle visueller Erfahrungen haptische und taktile Erfahrungen ermöglicht wurden (S. 198). Hier plädiert der Autor dafür, neue soziale Regelungen für Wahrnehmungen (z.B. für Museen und Ausstellungen) zu entwickeln und kreativ in der Suche nach Lösungen zu sein (S. 199) und hier auch vor paradoxen Entscheidungen nicht zurückzuschrecken (S. 202): „Das Geheimnis der Kunst sollte … unabdingbar – und dies folgt direkt aus der Dialektik zwischen Werkbegriff und Kunstideal – im Dunkeln verborgen liegen bleiben“ (S. 208).

Ad 12

Thorsten Hinz schildert zu Beginn seines Aufsatzes die Schwierigkeiten von Menschen mit Mehrfachbehinderungen und ihren Möglichkeiten der Kunstausübung (S. 212). Unter „Schwerstbehinderung“ wird nach Ursula Haupt/Andreas Fröhlich (1982) „eine komplexe Behinderung in vielen Fähigkeits- und Tätigkeitsbereichen“ verstanden, „die den gesamten Menschen in allen seinen Lebensvollzügen beeinträchtigt … Es sind dabei in der Regel alle emotionalen, kognitiven, körperlichen und sozialen Fähigkeiten betroffen. Es handelt sich also nicht um eine einzige Beeinträchtigung“ (S. 213). Die kulturelle Teilhabe bzw. Nichtteilhabe dieses Personenkreises sei schwer erfassbar, allenfalls könne man rechtliche Rahmenbedingungen für eine gelingende Inklusion formulieren. Gleichwohl forderte aber schon 1969 der Psychiater Klaus Dörner Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit schweren Formen psychischer Störungen und Behinderungen (S. 217). Immerhin gibt es seither tatsächlich Möglichkeiten der Teilhabe, allerdings in geschützten Räumen. Das Problem ist aber, dass Menschen mit Mehrfachbehinderung in der Regel bei solchen Veranstaltungen allein unter ihresgleichen sind (S. 219).

Ad 13

Rolf Emmerich diskutiert in seinem Aufsatz (S. 222) am Beispiel des „multipolaren“ Kunstfestivals „Sommerblut“, wie eine Bühne für Menschen mit Behinderung als Expertenkünstler*innen aussehen kann und welche Hindernisse einer vollumfänglichen Verwirklichung von Theaterprojekten u.a. entgegenstehen (S. 223). Zum einen ist die finanzielle Ausstattung ein Problem, weil für Kulturfestivals für Menschen mit Behinderung umfänglichere Mittel bereitgestellt werden müssen, weil menschliche und vor allem technische Ressourcen in größerem Maß vorhanden sein müssen (S. 225). Im Kulturfestival „Sommerblut“ gibt es aber auch sehr gute Praxisbeispiele wie das Tanztheaterprojekt unter Leitung von Jerôme Bel oder die Theaterproduktion „menschen!formen!“ (S. 227). Andere und weitere Probleme entstehen, wenn Menschen mit Behinderung auf Menschen ohne Behinderung treffen und in einem Theaterprojekt zusammenarbeiten und lernen müssen (S. 228), was die Ressource ZEIT erforderlich macht. Weitere Probleme entstehen in Artikulation oder Präzision des Ausdrucks, wozu ebenfalls mehr Probenzeit zu veranschlagen sei. Ein wichtiges Problem sei auch die Verniedlichung von Behinderung durch einen Kuschelfaktor „Alle haben sich lieb“, was gerade bei Theaterproduktionen nicht zielführend sei (S. 231).

Ad 14–16

Die Interviews wurden mit dem Schauspieler und Publizisten Peter Radtke (S. 239–251), dem Schriftsteller und Filmemacher Axel Brauns (S. 252–266) und dem Dirigenten und Politiker Benedikt Lika (S. 267–282) geführt.

Peter Radtke hat zuerst eine Dolmetscherausbildung absolviert, dann Amerikanistik, Romanistik und Germanistik studiert, in Romanistik promoviert und spielt immer wieder auf Bühnen in Kafka-Stücken. Für körperbehinderte Schauspieler*innen hat er vor einiger Zeit einen eigenen Studiengang initiiert.

Axel Brauns wurde nach dem 1984 abgebrochenen Studium freiberuflicher Autor und absolvierte eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten. In dieser Zeit verfasste er seinen autobiografischen Roman „Buntschatten und Fledermäuse“, weitere Bücher folgten. Im Jahr 2004 erschien der erste Film „Tsunami und Steinhaufen“. Bücher und Film geben einen Einblick in das Innenleben und in die Innenperspektive eines „hochfunktionalen Autismus“ (S. 252). In „Buntschatten und Fledermäuse“ erzählt Axel Brauns seine Kindheit und das Leben mit einem älteren Bruder. Die wesentliche Frage ist: „Wie lebt man als Autist richtig in einer Gesellschaft, die man als falsch empfindet“ (S. 262)?

Benedikt Lika lernte schon in seiner Schulzeit Klavier und Schlagwerk, kombiniert mit Harmonielehre und Komposition. Von 2003 bis 2010 studierte Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Kunstgeschichte an der Universität Augsburg. 2007 erwarb er die Qualifikation der Wiener Meisterkurse „Dirigieren mit Orchester“ und gründete in Augsburg die sozio-kulturelle inklusive Konzertreihe „Roll and Walk“.

Fazit

Das Buch vermittelt in beeindruckender Weise, wie kulturelle und musische Inklusion gelingen kann und öffnet völlig neue Perspektiven von Inklusion. Die geschilderten Beispiele zeigen, dass kulturelle Inklusion auf jeden Fall eine Bereicherung für jede Form von Kultur darstellt; gleichwohl wird in den Beiträgen dafür sensibilisiert, welche Barrieren existieren, wie schwierig die Zugänge zu Kunst und Kultur für Menschen mit Beeinträchtigung oder Behinderung sind und welche Haltungen notwendig sind, um Inklusion gesamtgesellschaftlich zu akzeptieren.

Rezension von
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann
Professor für Evangelische Theologie, Schulpädagogik und Religionsdidaktik an der Evangelischen Hochschule Freiburg im Fachbereich II (Theologische Bildungs- und Diakoniewissenschaft)
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ISSN 2190-9245