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Peter Antes, Rauf Ceylan (Hrsg.): Muslime in Deutschland

Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 21.06.2018

Cover Peter Antes, Rauf Ceylan (Hrsg.): Muslime in Deutschland ISBN 978-3-658-15114-0

Peter Antes, Rauf Ceylan (Hrsg.): Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 374 Seiten. ISBN 978-3-658-15114-0. D: 44,99 EUR, A: 46,25 EUR, CH: 46,50 sFr.
Reihe: Islam in der Gesellschaft.

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Entstehungshintergrund

Das vorliegende Buch ist der erste Band einer geplanten Reihe „Islam in der Gesellschaft“. Themen und Fragen wie die folgenden sollen künftig in den Bänden dieser Reihe theoretisch und empirisch erörtert werden:

  • „Welchen Ort und Status hat der Islam in modernen Gesellschaften.
  • Was prägt ihn, was verankert und verändert ihn?
  • Wie wird der Islam wahrgenommen?
  • Welches Verhältnis haben Muslime und andere religiöse Menschen zum Islam?
  • Welche muslimischen wie nicht muslimischen Interpretationen des Islam gibt es?
  • In welcher Beziehung stehen Islam und Integration wie Migration?…“ (V, im Original ohne Auflistung)

Thema

Dieser erste Band steht im Kontext der aktuellen Debatte darum „ob der Islam überhaupt zur Gesellschaft gehört und ob Muslime gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft sind“ (VI) und will die „Breite und multidisziplinäre Perspektive auf den Islam“ (ebd.) deutlich machen.

Aufbau

Dies geschieht in fünf thematischen Abschnitten, in denen jeweils in unterschiedlichen Einzelbeiträgen spezifische Aspekte des Islam in Deutschland analysier und diskutiert werden:

  1. Gesellschaftliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Akzeptanz der Muslime in Deutschland
  2. Rechtliche Anerkennung des Islam in Deutschland
  3. Akademische und schulische Integration des Islam
  4. Muslimische Identitäten und Religiosität
  5. Muslimische Strukturen und Organisationen

Diesen Abschnitten ist ein kurzer Überblick der Herausgeber über Struktur und Aufbau des Werkes vorangestellt.

Inhalte und Positionen

Zu Themenschwerpunkt 1 (Gesellschaftliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Akzeptanz der Muslime in Deutschland)

Der erste Beitrag „Perceptions of Islam in Western Publics“ (Maxi Wolf/Dirk Halm) basiert auf einer BA-Arbeit und analysiert das Bild des Islam in den Medien exemplarisch an der Berichterstattung des Daily Telegraph. Er konstatiert, dass Islam in den Medien vorwiegend im Kontext von Terror, Gewalt und Fundamentalismus thematisiert wird, wobei Orientalismus (Edward Said) und Islamophobie die zentralen Deutungsfolien bieten.

Daran schließt sich der Beitrag „Das Vorurteil über Muslime“ (Andreas Zick) nahezu nahtlos an. Ausgehend von einem sozialpsychologischen Verständnis von der Entstehung und Funktion sozialer Vorurteile erläutert der Autor Konzept und Facetten dieses Vorurteils und unterlegt seine Befunde empirisch.

Mit seinem Beitrag „AfD, Pegida & Co.“ zeichnet Alexander Häusler „die Formierung einer muslimfeindlichen Bewegung“ (59) nach und weist auf gefährliche Entwicklungen des Rechtspopulismus im Hinblick auf muslimfeindlichen Rassismus in Deutschland hin.

Zu Themenschwerpunkt 2 (Rechtliche Anerkennung des Islam in Deutschland)

Unter dem Titel „Muslimische Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts“ erläutert Stefan Muckel aus juristischer Sicht die rechtliche Verfasstheit des Islam in Deutschland. Er erläutert das Konstrukt der „Körperschaft“ in seinen Vor- und Nachteilen und seine Bedeutung für den Islam als Religionsgemeinschaft. Dabei geht er auch auf aktuelle Konfliktfelder wie beispielsweise die Kontakte der DITIB zur Türkei ein. Trotzdem sieht er gute Chancen für eine vermehrte Anerkennung muslimischer Dachverbände als Körperschaften öffentlichen Rechts.

Der Beitrag „Deutsche Religionspolitik im Kontext des Islam“ (Sven Speer) untersucht „Ursachen und Auswirkungen der Re-Formation von Religionspolitik als Integrationspolitik“ (so der Untertitel). Dezidiert zeichnet der Autor die religionspolitischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte nach und geht dabei auch auf aktuelle Diskurse und Modelle ein. Sein Fazit: „Die im Kern fehlgehende Fixierung auf den Islam als Problem und Gefahr führt zu einer Religionspolitik, die als Integrations- und Sicherheitspolitik nur scheitern kann – wenn sie nicht sogar schadet.“ (137)

Zu Themenschwerpunkt 3 (Akademische und schulische Integration des Islam)

Mit ihrem eigenen Beitrag „Die Etablierung der Islamischen Theologie“ skizzieren die Herausgeber die „Institutionalisierung einer neuen Disziplin und die Entstehung einer muslimischen scientific community“ (151) und folgern, dass diese künftig gut und qualifiziert in der Lage sein wird, relevante, den Islam betreffende theologische Fragestellungen für den deutschen Kontext zu beantworten.

Arnfried Schenk schließt im nachfolgenden Beitrag: „Islam – Made in Germany“ hier unmittelbar an: Auf der Basis von Interviews mit Akteuren der Islamischen Theologie an deutschen Hochschulen beschreibt er deren Stand und unterschiedliche Sichtweisen.

Der Beitrag „Stand und Entwicklung des Islamischen Unterrichts und Religionspädagogik in Deutschland“ (Ismail H. Yavuzcan) schildert ausgehend von der Bedeutung der Religion für muslimische Jugendliche die Vielfalt von Schulversuchen und Modellen für einen islamischen Unterricht an Schulen. Dieser wird „in seiner konzeptionellen und inhaltlichen Orientierung stark von der allgemeinen Integrationsdebatte überschattet oder im Kontext von Extremismusbekämpfung thematisiert. Dies belastet den Unterricht, denn Religionsunterricht – christlich, muslimisch, jüdisch – ist kein Integrationsunterricht.“ (184)

Der letzte Beitrag dieses Themenschwerpunktes „Feminisierung des Islam“ (Melahat Kisi) geht der Frage nach, „welche Möglichkeiten angehende muslimische Theologinnen als religiöse Autoritäten haben.“ (187) Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die Entwicklungsmöglichkeiten von Frauen als Theologinnen einerseits von der weiteren Entwicklung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt generell, andererseits davon abhängig sein werden, in welcher Form und welchem Umfang der innerislamische Diskurs Frauen religiöse Autorität zubilligt.

Zu Themenschwerpunkt 4 (Muslimische Identitäten und Religiosität)

In seinem Beitrag „Islamische Erziehung in Familien mit Zuwanderungsgeschichte“ beschreibt Haci-Halil Uslucan zunächst ganz allgemein die Rolle der Familie als Ort religiöser Erziehung. Er geht dann konkreter auf zentrale Werte und Inhalte islamischer Erziehung ein und erörtert abschließend, welche Auswirkungen eine betont religiöse Erziehung auf die Kindesentwicklung haben kann. Dabei geht es (natürlich) auch wieder um die Rolle, die islamische Erziehung für Integrationsprozesse haben kann. Auch hier zeigt sich – eigentlich wenig überraschend –, dass es „die“ Muslime nicht gibt, wenn man die Religiosität und deren praktische Relevanz im Alltagshandeln betrachtet. Vielmehr finden sich in der Gruppe der Muslime – wie in jeder anderen Religion auch – eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen und Formen gelebten Islams, die in den Blick genommen werden müssen.

„Dass man den Glauben der hier lebenden Muslime als Pfeiler ihrer Identität akzeptiert, davon scheint die deutsche Mehrheitsgesellschaft zurzeit weiter entfernt als jemals zuvor.“ (225) stellt Yasemin el-Menouar zu Beginn ihres Beitrags „Muslimische Religiosität: Problem oder Ressource“ fest. Vielmehr diene der Islambegriff dazu, „symbolische Grenzen zu ziehen, soziale Probleme zu etikettieren und Konfliktlagen vereinfacht abzubilden“. (ebd.) Die Autorin skizziert zunächst den defizit- und problemfokussierten Islamdiskurs in den Medien und der Öffentlichkeit und stellt fest, dass die damit verbundenen Denk-, Sprach- und Argumentationsmuster die Normalität, die Vielfalt und die positiven Aspekte des muslimischen Alltagslebens in der Wahrnehmung verdrängen. „Die Kluft zwischen der am Konstrukt eines ‚Homo islamicus‘ orientierten Wahrnehmung des Islam und der Wirklichkeit muslimischer Lebenswelten in Deutschland wird zunehmend größer.“ (258f) So gerät auch aus dem Blick, welche messbaren Ressourcen für eine Integration in einer religiösen Orientierung der Subjekte liegen können.

Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt der Beitrag von Naika Foroutan „Religiöses Kapital als Element muslimischer Identitätsperformanzen“. Sie formuliert: „Muslimisch sein ist ein Code geworden, der unabhängig von der Religiosität, symbolische, politische, gesellschaftliche oder solidarische Zugehörigkeit symbolisiert und unabhängig von bleibenden Grenzen und Unterschiedlichkeiten vor allem eine Kernaussage transportiert: ‚Ich teile Deine Erfahrungen des zugeschriebenen ‚Andersseins‘ – in vielen Fällen auch: Deine Erfahrung mit Abwertung, Diskriminierung oder Ausschluss‘.“ (268)

Der Beitrag „Muslimische Jugendkulturen in Deutschland“ (Markus Ottersbach) beabsichtigt „aktuelle muslimische Jugendkulturen darzustellen und die damit einhergehenden Lebensstile und Milieus muslimischer Jugendlicher sichtbar zu machen.“ (279) Seine Schlussfolgerung ist, „dass es sich bei vielen Stilen und Szenen um Ausdrucksformen handelt, zu denen gerade die prekäre Lebenssituation migrantischer Jugendlicher die Grundlage bzw. die Voraussetzungen liefern. Migrationserfahrungen werden hier beispielsweise artikuliert und aufgearbeitet, Konfrontationen mit der Aufnahmegesellschaft bzw. Efahrungen mit Diskriminierung zum Thema gemacht, Visionen eines multikulturellen Lebens entworfen.“ (290) Allerdings – so der Autor weiter, bleibt „die Behauptung, dass sowohl Jugendkulturen als auch die konkreten Lebensentwürfe muslimischer Jugendlicher sich grundsätzlich von denjenigen nicht-muslimischer Jugendlicher unterscheiden (,,,) empirisch gesehen unbeantwortet und somit konstruiert.“ (ebd.)

Der Beitrag „Salafismus als Erweckungsbewegung“ (Rüdiger Lohlker) schließt diesen Themenbereich ab.

Zu Themenbereich 5 (Muslimische Strukturen und Organisationen)

In seinem Überblick „Muslimische Organisationen in Deutschland“ lässt Thomas Lemmen die Entwicklung muslimischer Organisationen seit dem 17.Jahrhundert Revue passieren, schildert detailliert die Entstehung von Moscheegemeinden im Zuge der Arbeitsmigration und gibt einen Überblick über die aktuellen Strukturen der Moscheeverbände und muslimischen Spitzenorganisationen.

Im Zentrum des nachfolgenden Beitrags steht die Islamkonferenz als Katalysator islamischer Wohlfahrtsstrukturen. Unter dem Titel „Zur Notwendigkeit Islamischer Wohlfahrtspflege und Rolle der Deutschen Islamkonferenz: Einblicke, Rückblicke und Ausblicke“ (Samy Charchira) betont der Autor den Wandel der Islamkonferenz seit 2013 und skizziert die selbstbewusste Etablierung einer dezidiert islamischen Wohlfahrtspflege, die die etablierten Institutionen und Angebote des eingeführten deutschen Hilfesystems sinnvoll ergänzt.

Zwei sehr spezielle Beiträge schließen diesen Themenbereich und den vorliegenden Reader ab. Hakan Tosuner stellt „Das Avicenna-Studienwerk: ein Stipendienprogramm für leistungsstarke und engagierte muslimische Studierende und Promovierende“vor. Annett Abdel-Rahman und Kathrin Klausing plädieren engagiert für mehr muslimische Bildungseinrichtungen in ihrem Beitrag „Über die Notwendigkeit einer muslimischen Akademie“.

Fazit

Der vorliegende Band enthält eine Vielfalt unterschiedlicher Informationen und Aspekte zur Lebensrealität von Muslimen in Deutschland. Allerdings liegt die Fokus der Mehrzahl der Beiträge auf der rechtlichen und institutionellen Verfasstheit des Islam in unserer Gesellschaft, die zweifellos den Gestaltungsspielraum religiöser Praxis und muslimischer Identität prägen und als Kontextbedingungen muslimischen Lebens von zentraler Bedeutung sind, jedoch kommt die subjektive Seite, die tatsächliche Gestaltung muslimischen Alltags in vielen Beiträgen kaum vor. Zeitweise entsteht der Eindruck, den VerfasserInnen sei es gelungen, ein Buch über Muslime in Deutschland zu verfassen, ohne dass diese nennenswert in Erscheinung treten. Insofern ist der Titel eher irreführend und spiegelt nicht den tatsächlichen Inhalt der Beiträge wieder.

Die einzelnen Beiträge hingegen sind – obwohl wie bei Readern üblich von unterschiedlicher Diktion und Qualität – mehrheitlich gut geeignet, die eingangs erwähnte gesellschaftliche Diskussion über die Rolle des Islam in der deutschen Gesellschaft zu versachlichen und aus ihrem populistischen Kontext zu lösen. Einige wenige Beiträge sind allerdings wiederum so speziell, dass der Rezensent sich fragt, wie und warum sie Eingang in das Buch gefunden haben.

Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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Es gibt 62 Rezensionen von Willy Klawe.

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Zitiervorschlag
Willy Klawe. Rezension vom 21.06.2018 zu: Peter Antes, Rauf Ceylan (Hrsg.): Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen. Springer VS (Wiesbaden) 2017. ISBN 978-3-658-15114-0. Reihe: Islam in der Gesellschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24268.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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