Siegfried Lamnek, Susanne Vogl: Theorien abweichenden Verhaltens II Moderne Ansätze
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 12.10.2018
Siegfried Lamnek, Susanne Vogl: Theorien abweichenden Verhaltens. II Moderne Ansätze.
UTB
(Stuttgart) 2017.
4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage.
411 Seiten.
ISBN 978-3-8252-4722-5.
D: 20,99 EUR,
A: 21,60 EUR,
CH: 28,50 sFr.
UTB Band 1774.
Thema
Abweichendes und kriminelles Verhalten hat eine hohe gesellschaftliche Bedeutung und ist Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema gezeigt, dass ältere sozialwissenschaftliche Theorien weder hinsichtlich ihrer Erklärungskraft noch in Bezug auf die praktische Umsetzung ihrer Erkenntnisse immer befriedigen konnten. Der vorliegende Band gibt einen Überblick, welche neuen Ansätze in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, um abweichendes Verhalten besser erklären und verstehen zu können.
Das Buch setzt die Darstellung aus Lamneks Standardwerk „Theorien abweichenden Verhaltens I“ fort, das sich mit den „klassischen“ Theorien befasst.
Autor und Autorin
Prof. Dr. Siegfried Lamnek war bis 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Dr. Susanne Vogl arbeitet als Universitätsassistentin am Institut für Soziologie der Universität Wien.
Aufbau und Inhalt
Das Handbuch bietet nach einer Vorbemerkung der AutorInnen zehn Kapitel in denen ausführlich auf die Aspekte
- Moderne Ansätze als Paradigmenwechsel?
- Haferkamp und der handlungstheoretische Ansatz
- Das Konzept der Selbstkontrolle nach Gottfredson und Hirschi
- Die materialistisch-interaktionistische Kriminologie
- Die Rational Choice-Theorie
- Neurobiologische Aspekte des abweichenden Verhaltens
- Sozialräumliche Kontext- und Aggregationseffekte
- Viktimologie
- Soziale Kontrolle und Prävention
- Abolitionismus
eingegangen wird. Alle größeren Abschnitte werden jeweils am Ende in einer kompakten Form zusammengefasst, wobei zentrale Aussagen und Theoriebausteine in Form von didaktisch aufbereiteten Lernkästen dargestellt werden.
1 Moderne Ansätze als Paradigmenwechsel? Im Einführungskapitel wird der historische Wechsel kriminologischer Theorie beschrieben, vor allem die Abkehr von eher individuell-pathologischen Erklärungsansätzen hin zu gesellschaftlich-interaktiven Theorien. Abweichendes und insbesondere kriminelles Verhalten wird damit mehr als gesellschaftliches Phänomen, weniger als individuelles Fehlverhalten interpretiert, in dem soziale Verhältnisse, Rollenzuschreibungen, Normvorgaben und Normanwendung zu Abweichungsphänomenen führen. Die Autoren beschreiben diesen Paradigmenwechsel und die darauf begründete radikale Kriminologie, die stärker auf empirische Befunde, gesellschaftskritische und konflikttheoretische Ansätze ausgerichtet ist. In einem eigenen Abschnitt wird die Entwicklung der kritischen Kriminologie in Deutschland nachgezeichnet und deren zentralen Positionen (Etikettierungsperspektive, konflikttheoretische Perspektive, marxistische Perspektive) dargestellt, die insgesamt zu einer stärkeren theoretischen Betonung der gesellschaftlichen Konstruktion von Kriminalität geführt haben.
2 Handlungstheoretischer Ansatz. Der zentrale Ausgangspunkt der hier referierten Überlegungen definiert Konformität und Devianz als zwei entgegengesetzte Formen sozialen Handelns, die strukturell nach denselben Prinzipien ablaufen. Dabei spielen Normvorgaben, Normdurchsetzung und gesellschaftliche Reaktion auf Normabweichung eine wesentliche Rolle. Abweichung, Devianz, Delinquenz beziehen sich in diesem Ansatz auf den mehrheitlich-gesellschaftlichen Rahmen, in dessen Raum Abweichung überhaupt erst möglich wird. In diesem Zusammenhang haben Aspekte wie Macht und Herrschaft eine besondere Bedeutung, insbesondere das zugrunde liegende Machtgefälle. Im handlungstheoretischen Ansatz sind somit, ohne dass dies explizit ausformuliert wird, gesellschaftskritische Überlegungen enthalten, die Devianz und Delinquenz stärker als normatives und interpretatives Geschehen definieren.
3 Selbstkontrollkonzept. Das Kapitel referiert die zentralen Aussagen aus dem Werk von Gottfredson & Hirschi (1990), „A General Theory of Crime“ und das dort formulierte Konzept der Selbstkontrolle. Das Konzept versucht nicht nur Teilbereiche des Phänomens Kriminalität zu erklären, sondern Kriminalität in seiner Ganzheit zu erfassen. Dabei werden die Erklärungsansätze der verschiedenen mit Kriminalität befassten Disziplinen in ihrer jeweiligen fachlichen Beschränkung/Eindimensionalität kritisiert und in einer allgemeinen Theorie der Merkmale krimineller Handlungen (Bedürfnisbefriedigung, Milieuaspekte, Selbstkonzepte, Aktualitäts- und Situationsbezug, Ökonomie der Delinquenz, Bestrafungsrisiko etc.), sowie die vorhandenen individuellen und sozialen Kontrollaspekte (Sozialisation, Persönlichkeitsaspekte, Betonung der situativen Bewertung zu Lasten einer Langzeitperspektive) zusammengeführt. Selbstkontrolle ist dabei ein Merkmal der Handlungssteuerung, das auf eine je konkrete situationsabhängige Kosten-Nutzen-Kalkulation fußt.
4 Materialistisch-interaktionistische Kriminologie. Die im Wesentlichen von Gerlinda Smaus ab den späten 1980er Jahren formulierte Theorie verbindet die Überlegungen des Labeling-Approach mit einer sozialstrukturellen Komponente, hier vor allem gesellschaftlich-materielle, sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Der Ansatz bezieht darüber hinausgehend eine feministische Perspektive, i. S. einer Kritik patriarchaler (Macht)verhältnisse mit ein, vereinfacht formuliert ist Kriminalität das Ergebnis eines Zuschreibungs- und Ausgrenzungsprozesses.
5 Die Rational Choice-Theorie. Dieser Ansatz erklärt individuelles (abweichendes, kriminelles) Verhalten als Ausdruck einer Präferenzordnung, an der der Akteur sein Handeln ausrichtet, Zielsetzung ist dabei die Maximierung individuellen Nutzens und die Zuordnung zu einer sozialen Struktur (kollektive Sachverhalte). Verhalten ist demnach zweckrationales Handeln, das konkrete aktuelle Situationen nach Nutzen, Erfolg und Reaktion (z.B. Bestrafung) bewertet.
6 Neurobiologische Aspekte. Kapitel sechs erschließt die Er- und Beiträge der modernen Biowissenschaften, insbesondere der neurowissenschaftlichen Disziplinen und der Genetik in Bezug auf abweichendes Verhalten. Der Text erschließt die Fragestellungen und Methoden der modernen Hirnforschung (Stichwort: bildgebende Verfahren zur Lokalisation beteiligter Gehirnareale bei bestimmten Entscheidungs- und Verhaltensprozessen), den Zusammenhang von Gehirn und Persönlichkeit (hirnphysiologische Determinanten menschlichen Handelns und der Persönlichkeit), die Diskussion um den „Freien Willen“ des Menschen, also die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung menschlichen Handelns und die Frage organsicher Bedingtheit kriminellen Verhaltens (die abschließend nicht geklärt, bzw. beantwortet/beantwortbar ist).
7 Sozialräumliche Kontext- und Aggregationseffekte. Das Kapitel rezipiert die bis heute vorliegenden Befunde und Erklärungsansätze zur Frage sozialräumlicher Bedingungsaspekte für abweichendes und kriminelles Verhalten von Individuen und Gruppen, insbesondere der stadtsoziologischen Forschungen. Deutlich wird, dass ein vermuteter Zusammenhang zwischen (z.B. schädigendem) Stadtteilmilieu und Kriminalität empirisch abschließend nicht befriedigend zu beweisen war, sich die Befunde jedoch dahingehend erhärtet haben, dass eine soziale Desorganisation (als kulturell gestiftetes Verhalten) im Kontext einer sozialökologischen Einbettung zu sehen ist, etwa in Bezug auf einen niedrigen sozioökonomischen Status, gestörte Familienstrukturen, ein geringes soziales Netz und dadurch geringere soziale Zuwendung und Kontrolle und die Verdichtung dieser Phänomene im sozialen Raum.
8 Viktimologie. Gegenstand dieses Kapitels sind allgemeine und einleitende Informationen zur Viktimologie, zur Struktur von Opfermerkmalen, die individuelle und soziale Bedeutung des Opfer-Erlebens und die Täter-Opfer-Beziehung. Vertiefend wird der Prozess der Opferwerdung beschrieben, welcher auf drei Ebenen angesiedelt ist und neben dem unmittelbaren Erleben einer Straftat als beteiligtes Opfer mögliche Fehlreaktionen des sozialen Nahraums und der Behörden und als weitere Entwicklung die dauerhafte Integration der Opferrolle in die Identität des Opfers (tertiäre Viktimisierung) umfasst.
9 Soziale Kontrolle und Prävention. Soziale Kontrolle wird in diesem Abschnitt in seiner begrifflichen Weite als sozialpolitisches und sozial-strukturelles Phänomen (im Sinn von sozialem Miteinander), als auch in seiner kriminalpolitischen Ausprägung als Reaktion auf Fehlverhalten definiert. Damit kommt einer -intensiven- sozialen Einbettung ein gewisser Schutz vor Abweichung und Delinquenz zu, also ein kriminalpräventives Moment. Auf diesen Überlegungen aufbauend leiten die Autorinnen weitergehende Ansätze für kriminalpräventive Maßnahmen ab, die sich, je nach Zielrichtung und kriminologischer Auffassung, entweder stärker am Individuum, oder an den sozialen Strukturen ausrichten.
10 Abolitionismus. Im letzten Kapitel gehen Lamnek und Vogl auf den Abolitionismus ein, der im kriminalsoziologischen Verständnis den „Verzicht auf die totale Institution des Gefängnisses bzw. in einem noch umfassenderen und extremeren Sinne die Abschaffung des Strafrechts“ (290) meint. Der Text zeichnet die diversen Positionen dieses Ansatzes und seine zentralen Kritikpunkte am modernen Strafrecht nach. Diese befassen sich vor allem mit der sekundären Problemnatur sanktionierender Maßnahmen und den spezifischen lebensweltlichen Problemen der Betroffenen, aber auch mit dem Machtproblem staatlicher Machtpolitik (staatliches Gewaltmonopol). Als alternative Reaktionsform werden in dem Abschnitt die Möglichkeiten und Grenzen, Prinzipien und juristischen Voraussetzungen des Täter-Opfer-Ausgleichs aufgezeigt und diskutiert.
Zielgruppe
Als kriminalsoziologisches Handbuch wenden sich Lamnek und Vogl an alle in diesem Bereich forschend und praktisch tätigen Berufsgruppen, insbesondere SoziologInnen, PsychologInnen, JuristInnen und Sozialarbeitende, auch an Studierende dieser Fächer, aber auch an JournalistInnen.
Diskussion
Bereits in vierter Auflage liegt die Einführung in neuere (d.h. vorwiegend in den letzten 25 Jahren formulierte) Theorien abweichenden Verhaltens vor. Damit bündeln Lamnek und Vogel diese Fortschreibung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um abweichendes und kriminelles Verhalten, wodurch die Auseinandersetzung mit älteren Ansätzen und neuen sozialwissenschaftlichen Erklärungen befeuert wird. Der Nutzen dieser Publikation liegt auf drei Ebenen:
- Wird dadurch der aktuelle Diskussionsstand in der Disziplin zusammengefasst und protokolliert, was für die Weiterentwicklung des Fachs eine wertvolle Grundlage darstellt.
- Stehen der Öffentlichkeit Erklärungsansätze zur Verfügung welche die unterschiedlichen Facetten der Abweichung, Kriminalität und Gewalt erklären können und nun auch durch handlungswissenschaftliche Entwicklungen, z.B. den Täter-Opfer-Ausgleich, ergänzt und
- Ist die als Einführung konzipierte Publikation ein gründlich und didaktisch sehr gut gestaltetes und strukturiertes Fach- und Lehrbuch, das für die angesprochene Zielgruppe die relevanten Theorien für die Ausbildung überschaubar aufbereitet.
Die z.T. sprachlich sehr dichten Texte werden im Anschluss an größere fachlich zusammenhängende Abschnitte in kompakten Schaukästen zusammengefasst, sodass sich die differenzierten Aussagen in den Textpassagen im Überblick schnell erfassen lassen und die zentralen Inhalte unter dem Aspekt der Lernoptimierung komprimiert werden. Ergänzt durch ein Personen- und Stichwortregister und ein ausführliches Literaturverzeichnis ist der Zugang zu den Einzelaspekten und zu weiterführender Literatur rasch möglich.
Die vierte Auflage der „Modernen Ansätze“ bietet eine Auswahl von Theorien abweichenden Verhaltens. Die Autoren schreiben, dass diese Auswahl subjektiv erfolgte, sich jedoch an der fachlichen Relevanz, an ihrer jeweiligen kriminalsoziologischen Bedeutsamkeit orientierte. Die getroffene Auswahl überzeugt, allerdings hätten soziologische Längsschnittstudien vor allem die Erträge der soziologisch-ätiologischen Längsschnittforschung einen gebührenden Platz in dieser Auswahl verdient gehabt. Auch fehlt ein eigener Abschnitt zu Fragen der Bedeutung von Gruppenbildungen im Kontext von Migration und Flucht, als auch ein Beitrag zum Phänomen politisch-radikalisierter Devianz und Kriminalität.
Insgesamt überzeugt die vierte Auflage der „Modernen Ansätze“, das Werk ist, wie schon Lamneks Handbuch zu den „klassischen Ansätzen“ ein Standardwerk. Unverzichtbar für Lehre, Forschung und Praxis.
Fazit
Didaktisch hervorragend gestaltet bietet das Fachbuch eine ausführliche Einführung in die wichtigsten neueren sozialwissenschaftlichen Theorien und Erklärungsansätze des Phänomens abweichendes Verhalten, etwa die Handlungstheorie, das Konzept der Selbstkontrolle, die Rational Choice-Theorie, neurobiologische Befunde, die Sozialraumtheorie, die Viktimologie und den Abolitionismus. Als Standardwerk darf die aktuelle Auflage in keiner Bibliothek fehlen. Ein Muss für Ausbildung und Forschung.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 12.10.2018 zu:
Siegfried Lamnek, Susanne Vogl: Theorien abweichenden Verhaltens. II Moderne Ansätze. UTB
(Stuttgart) 2017. 4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-8252-4722-5.
UTB Band 1774.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24270.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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