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Gert Lang: Zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit

Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 30.05.2018

Cover Gert Lang: Zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit ISBN 978-3-658-14994-9

Gert Lang: Zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde zur gesellschaftlichen Kohärenz. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 504 Seiten. ISBN 978-3-658-14994-9. D: 59,99 EUR, A: 61,67 EUR, CH: 62,00 sFr.

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Thema

In der Postmoderne driften nach dem Verschwinden der osteuropäischen staatssozialistischen Systeme Reich und Arm zunehmend auseinander. Die Gefahr wird gesehen, dass die Kohäsion der Gesellschaften bricht, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt in einem nicht mehr zu beherrschenden Kampf der vielen Armen mit schwindenden Lebensgrundlagen gegen die wenigen die Machthebel handhabenden Reichen verloren geht. Stößt da soziale Ungleichheit noch auf Befürwortung? Dieser Frage geht Gert Langs bei Springer in Wiesbaden erschienene Dissertation „Zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde zur gesellschaftlichen Kohärenz“ auf der Grundlage einer Sekundäranalyse von Dateisätzen aus dem International Social Survey Programm ISSP für europäische Länder nach.

Autor

Dr. Gert Lang wurde an der Universität Wien bei Professor Dr. Anton Amann promoviert. Der Autor beschäftigt sich als Soziologe mit Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention, Alters-, Ungleichheits- und Lebensqualitätsforschung sowie mit empirischer Sozialforschung.

Überblick

Gert Langs Veröffentlichung zur Ungleichheits-Akzeptanz versucht, die verschiedenen Regionen der Europäischen Union in den Blick zu nehmen. Theoretisch wird der in Mehrebenen-Modellen von Subjekt-, Kontext- und Objekt-Bezug betrachtete Gegenstand der sozialen Stratifizierung nach einer Abhandlung der gängigen Klassen-, Schicht- und Mentalitäts-Modelle am Lebenslagen-Konzept abgehandelt und am Akzeptanz-Konzept von Doris Lucke vermessen. Die Arbeit geht sekundäranalytisch auf der Grundlage von Datenmaterial des ISSP-Pools (International Social Survey Program) vor, das mittels der EU-NUTS-Arbeiten (Nomenclature des Unités Territoriales Statistiques) auf die Ebene der Europäischen Union transferiert wurde. Im Ergebnis haben sich für die sozialstrukturellen Differenzierungen in den europäischen Gebieten insgesamt über ein Fünftel Befürwortungen bei knapp vier Fünfteln auf sozialen Änderungs-Wandel bedachten Ablehnungen gefunden. Die Voten differierten nach der politischen, sozial-partizipativen, konfessionellen, siedlungsstrukturellen und ethnischen Ausrichtung der betrachteten europäischen Regionen.

Aufbau und Inhalt

Die Akzeptanz-Untersuchung zur Ungleichheit zerfällt in einen vorbereitenden Theorieteil mit der Schilderung von Sozialstrukturanalysen und in einen empirischen analysierenden Teil.

Einleitend wird Doris Luckes Konzept der Akzeptanz im Sinne von Befürwortung oder Ablehnung auf die Erscheinung der sozialen Ungleichheit übertragen. Gesehen wird, dass Akzeptanz eine subjektive Einstellungsseite und eine sich objektiv niederschlagende Handlungsseite hat mit graduellen Stufungen und prozesshaften Veränderungen. Sie kann in Wertkonservativismus wie aber auch in sozialen Wandel führen.

Die vorfindlichen Sozialstrukturen manifestieren sich soziologietheoretisch in Klassen, Schichten, Mentalitäten und Lebenslagen. Vorgestellt werden Karl Marx' Klassentheorie, Max Webers Herrschaftsdichotomie, Theodor Geigers Schicht-Mentalitäten, Ralf Dahrendorfs Konflikttheorie, Talcott Parsons Funktionalismus, das Disparitätstheorem Claus Offes und die Kapitalien-Ausstattung nach Pierre Bourdieu. Mit Ulrich Becks Individualisierungsthese in der Risikogesellschaft und den individualistischen Übergängen zu postmateriellen Werten nach Ronald Inglehart wird der Zerfall hergebrachter Sozialstrukturen illustriert. Durch die Entfernung der sozialen Verortung von den ausschließlich an der traditionellen Erwerbsarbeits-Welt gewonnenen Bezügen (mit Beruf, Bildung, Arbeitseinkommen) gewinnen Momente wie Wohnen, Freizeit, Gesundheit, Partizipation, Familienstand und sozialpolitische Ausgleichsleistungen für die Stratifizierung einen immer wichtigeren Bezug. Dies bedingt es, den mehrdimensionalen Lebenslagen-Ansatz nach Ingeborg Nahnsen für die soziale Stratifizierung und deren Akzeptanz-Beurteilung bei der betroffenen Einwohnerschaft in den europäischen Ländern in den Blick zu nehmen.

Dieser Ansatz mit seinen Werten für materielle Ausstattung, Kontakten, Erfahrungen, Regeneration, Muße und Einfluss passt sich in seiner Mischung aus ökonomischen, sozialstaatlichen und sozialkulturellen Größen gut in Doris Luckes Akzeptanz-Modell mit seinen objektiven und subjektiven Dimensionen und seinen Wandelsverläufen ein. Die Alternative zur stabilisierenden Wirkung der Akzeptanz wie zu destabilisierenden Veränderungsbestrebungen bis hin zu Brüchen bleibt im Horizont der Betrachtung.

Empirisch wird in einer Sekundäranalyse der ISSP-Daten der International-Social-Survey-Programme nach den Einstellungen wie nach dem manifesten Handeln der einbezogenen EU-Bürgerschaft gesucht. Eine absehbare europäische Wohlstands-Konvergenz zeigte sich innereuropäisch-regional eher als gebrochen. Das nicht so sehr zwischenstaatlich, sondern auch inner-einzelstaatlich zwischen Zentren und Peripherien, ethnisch-homogenen und gemischten Regionen, eher partizipativ-beteiligenden oder zentralistisch-dirigistischen Regimen. Als Lösung wurde für die Auswertung ein Mehrebenen-Design gewählt.

In den Datensätzen waren 17.943 Befragte einbezogen. Der Rücklauf lag länder-durchschnittlich bei 62,4 Prozent. Regionale Ausdifferenzierungen erlaubten die EU-NUTS-Statistik-Daten (Nomenclature des Unités Territoriales Statistiques = Zusammenführung statistischer territorialer Einheiten). Gemeinsame Schlüsselbegriffe bei ISSP und NUTS ermöglichten glücklicherweise das Zusammenführen der Daten. Regionsspezifisch konnten aus 107 Gebietsregionen Daten punktuell ausgelesen werden. Die kognitive und emotionale Akzeptanz wurde per Konstruktvalidität aus den Datensätzen heraus gefiltert. Bei der Berechnung wurden algorhythmische Programme robuster Schätzmethoden zugrunde gelegt.

Im Ergebnis halten zwischen 74,2 und 87,8 Prozent Befragte die Einkommensunterschiede für zu stark, lehnen sie ab und sind der Auffassung, dass ihre Regierung sie reduzieren sollte. 80,9 Prozent wollen, dass Reiche einen (viel) höheren Steueranteil entrichten sollten. Der empirische Mittelwert der Akzeptanz von Ungleichheit lag auf einer Skala von 1 (keine) bis 25 (maximale) Akzeptanzwert mit 10,02 auf einem niedrigen bis unter-mittleren Wert, wobei 8 Prozent Akzeptanzunterschiede auf regionale Gegebenheiten/Einflüsse rückführbar sind.

Interessant ist, dass die exzerpierten Soziallagen in ihrer Ausstattungs-Skalierung nicht voll mit der Rangfolge der Akzeptanz-Reihung übereinstimmen. Zwar messen die stark und leicht Privilegierten der sie begünstigenden Struktur eine hohe Legitimität zu, während die Benachteiligten sie ablehnen; diese Ablehnung fällt aber bei den stark Benachteiligten schwächer aus als bei den nicht so stark Benachteiligten. Außerdem finden sich Teile Bevorzugter in einem Akzeptanz-Dilemma.

Frauen lehnen Ungleichheiten stärker ab als Männer. Städter sind gegenüber Ungleichheiten nachsichtiger als Landbewohner. Bei hohen Ausgaben der Staatsverwaltung für Bildung und Gesundheitssysteme, in sozialdemokratisch links dominierten und ökonomisch prosperierenden Regionen fällt die Ungeichheits-Akzeptanz höher aus. In ethnisch-konfessionell homogenen (etwa römisch-katholischen) Gebieten, in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und in politisch föderal aufgebauten Territorien ist die Ungleichheits-Akzeptanz geringer. Insgesamt hat das soziale Bewusstsein der Individuen einen starken Einfluß auf ihre Ungleichheits-Akzeptanz bzw. -Ablehnung. Für die Urteile über die Sozialstruktur sind neben der eigenen sozialen Lage eben auch subjektive Reflektionen über die Ressourcen-Mobilisierung durch die Staatsorgane in die unmittelbare Umgebung der Beurteilenden wichtig.

Diese subjektive Sozialstruktur-Beurteilung schlägt sich in einer Typologie nieder, die nochmals zeigt, dass es zwischen objektiver Soziallage und Beurteilung durchaus überraschende Divergenzen gibt. Der Autor Gert Lang kommt am Ende seiner Arbeit zu der folgenden Typologie von vier Einstellungen:

  1. Legitimierende Akzeptanz von Privilegierten, die ihre Besserstellung als richtig empfinden und sie für legitimiert halten. Dies sind 13,2 Prozent Untersuchte.
  2. Im Akzeptanz-Paradoxon befinden sich Benachteiligte, die die sie beschränkende Sozialstruktur für richtig halten. Sie machen 8,6 Prozent aus.
  3. Im Ablehnungs-Dilemma rangieren Beurteilende, die sich selbst in guter Lebenslage befinden, die aber die gesellschaftliche Ressourcen-Zuteilung für fragwürdig halten und somit für die Stratifizierung ein Wandels-Potenzial darstellen. Sie machen 34,9 Prozent aus.
  4. Delegitimierende nehmen eine negative Haltung gegenüber den Ungleichheiten ein. Die eigene Deprivation wird als ungerecht und veränderungsbedürftig empfunden. Sie stellen mit 43,3 Prozent den höchsten Anteil.

Diskussion

Der Soziologe Gert Lang legt eine anregende und differenzierte Beschreibung zur Beurteilung der europäischen Bevölkerung über deren sozialstrukturelle Verortung vor. Angesichts des zunehmenden Auseinanderdriftens von privilegierten und benachteiligten Bevölkerungsteilen wundert die zustimmende Akzeptanz von nur einem Fünftel und der Wunsch nach Verbesserung der Soziallagen durch sozialen Wandel bei vier Fünftel der in die breite Untersuchung einbezogenen fast 18.000 Europäerinnen und Europäer nicht. Die methodischen Schritte der Sekundäranalyse werden breit erörtert.

Die vielen dabei vom Verfasser mitgeteilten interpretativen und extrahierenden Möglichkeiten zu seinem Erkenntnisgewinn aus den benutzten Datensätzen sind für die empirisch nur durchschnittlich informierte Leserschaft doch recht ermüdend und hätten in einer Veröffentlichung für eine breitere Abnehmerschaft etwas stärker gerafft gehört.

Der Aufbau der Untersuchung von der Schilderung der verschiedenen Sozialstruktur-Modelle über die präferierte Auswahl des Lebenslagen-Ansatzes und die empirische Analyse des zugrunde gelegten Datenmaterials ist einleuchtend. Im Detail ergibt sich dann aber doch ein

etwas komplexer Aufbau: Die Sozialstruktur-Typologie wird in Teil 3.1 ab Seite 32 ff. abgehandelt, findet sich dann aber nochmals für die subjektive Akzeptanz unter Teilen 3.3.2 und 3.3.3 (auf Seiten 113 ff. und 119 ff.) sowie unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten (Teil 3.4 auf Seite 193 ff.) eingeführt. Die Schätzverfahren zur Ermittlung der subjektiven Akzeptanzbereitschaft erscheinen nicht unbedingt reliabel, da sie nicht direkt in den ISSP-Untersuchungen erhoben wurden, sondern aus anderen Angaben explorativ geschlossen werden (Seite 410). Bei der Zusammenschau von Objekt-, Kontext- und Subjekt-Bezug des Lebenslagen-Modells tritt das Interesse des Verfassers an der inneren Verarbeitung der sozialen Ungleichheiten der Individuen doch etwas sehr stark durch (Seite 226).

In die Erörterungen einbezogen gekonnt hätten werden können John Rawls Differenzprinzip mit dem Zugute-Kommen zusätzlicher Vorteile einer Gesellschaft Ungleicher im höheren Ausmaß an die am wenigsten Begünstigten sowie die von der einstigen Frankfurter Schule verbreitete Lehre von der autoritären Persönlichkeit mit der Verarbeitung von Frustration über die eigene Schwäche durch die bewundernde Identifikation mit den Starken durch die Unterlegenen.

Schreibfehler finden sich auf Seiten 192, 391 und 467.

Fazit

Die Untersuchung über die Akzeptanz und Ablehnung von sozialer Ungleichheit in Europa gibt wichtige Fingerzeige für die Aufrechterhaltung sozialer Kohäsion an politisch Verantwortliche wie an die gesamte Bürgerschaft. Ohne laufende, sich regional auswirkende soziale Korrekturen wird die soziale Folgebereitschaft noch weiter abnehmen.

Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Es gibt 101 Rezensionen von Kurt Witterstätter.

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Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 30.05.2018 zu: Gert Lang: Zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde zur gesellschaftlichen Kohärenz. Springer VS (Wiesbaden) 2017. ISBN 978-3-658-14994-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24273.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.


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