Matthias Nauerth, Kathrin Hahn et al. (Hrsg.): Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Ursula Christen, 13.07.2018
Matthias Nauerth, Kathrin Hahn, Michael Tüllmann, Sylke Kösterke (Hrsg.): Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2017. 512 Seiten. ISBN 978-3-17-032206-6. D: 45,00 EUR, A: 46,30 EUR.
Thema
Die Autoren und Autorinnen beobachten „eine Renaissance von Religion“, die den öffentlichen Raum mit Wertedebatten, Neofundamentalismen, Identitätsfragen, Ausgrenzungsprozessen und Anerkennungsforderungen durchzieht. Die Soziale Arbeit hat weder in ihrer Theoriebildung noch in der praktischen Tätigkeit dem menschlichen Bedürfnis nach Religion und Spiritualität Rechnung getragen, sondern sich dem weltanschaulichen Strang der Religionskritik und Säkularisierung angeschlossen. „Eine zentrale Intention zur Herausgabe dieses Buches besteht darin, gegen diese Leerstelle anzuarbeiten.“ (Nauerth et al.S. 14).
HerausgeberInnen und Zielsetzung
Die beiden Herausgeber und die zwei Herausgeberinnen sind alle in der Stiftung ‚Das Rauhe Haus‘ in Hamburg tätig und haben Lehrtätigkeiten und sozialpädagogische Aufgaben inne.
Das Ziel des Buches ist es, „sich der Kategorie des Religiösen in der Sozialen Arbeit differenziert und systematisch zu widmen, eine Zwischenbilanz zu ziehen und auf diese Weise etwas Klarheit in das Forschungsfeld zu bringen.“ (Nauerth et al.S. 16).
Aufbau
Das Buch gliedert sich in fünf Teile:
- Wie thematisiert die Soziale Arbeit als Wissenschaft die Realität von Religion?
- Welche Erkenntnisse liegen bereits vor zu Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit?
- Wie kann sich das methodische Handeln religionssensibel ausrichten?
- Wie sehen gelungene Praxisbeispiele aus?
- Wie sieht Religionssensibilität aus konkreten konfessionellen Perspektiven aus?
Vorangestellt ist den Beiträgen ein Gespräch mit Hans Thiersch.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Zum ersten Teil
Im ersten Teil des Buches beschreibt Micha Brumlik das Spannungsfeld zwischen traditionellen Glaubensüberzeugungen muslimischer Jugendlichen und der gelebten Realität der sie umgebenden westlichen Gesellschaft. Er sieht darin für den betreffenden Jugendlichen eine Entwicklungsaufgabe, deren Bewältigung im besten Fall nach Fowler auf die vierte Stufe des ‚individuierend-reflektierenden Glaubens‘ führt.
Axel Schulte befasst sich mit den Menschenrechten: Einerseits mit dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit, andererseits mit dem Umgang von Religionen und religiöser Gemeinschaften mit den Menschenrechten. Denn Menschenrechte und Demokratie sind weder gott- noch naturgegeben, und sie sollten sich daher nicht vor religiösen Positionen rechtfertigen müssen, sondern im Gegenteil eine Leitplanke für das Religiöse in der Einwanderungsgesellschaft darstellen.
Martin Lechner fordert in seinem Beitrag „eine religiöse Grundbildung für alle“ (Lechner, S. 80), „eine religiöse Sensibilisierung und Grundalphabetisierung für alle Kinder und Jugendlichen“, (Lechner, S. 86), denn die christlich geprägte Kultur stellt mit ihren Werten das Fundament der Verfassung des Zusammenlebens dar. Ebenso haben Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit einen Nachholbedarf in Theologie, Religionswissenschaft und Religionspädagogik.
Sich stützend auf Habermas und Berger beschreibt Wofram Weisse Modernisierung als Prozess nicht von Säkularisierung, sondern Pluralisierung und anschliessend die seit 2010 bestehende Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg als Beispiel für sinnvollen interreligiösen Dialog.
Von Josef Freise findet sich der Vortrag im Kölner Rathaus im Rahmen der Kölner Wissenschaftsrunde im Januar 2016 abgedruckt, in dem er für den interreligiösen Dialog in einer „postsäkularen Gesellschaft“ (Habermas) plädiert. Von den vier Sichtweisen auf andere Religionen – exklusiv, inklusiv, plural und perspektivisch – erachtet er die perspektivische als die geeignetste zur Prävention von religiös motivierter Gewalt und Terror.
Zum zweiten Teil
Der zweite Teil des Buches beginnt mit einem Beitrag des Mitherausgebers Matthias Nauerth, in dem er begründet, warum Soziale Arbeit religionssensibel werden muss und einige Schwierigkeiten auf dem Weg dahin aufzeigt. So sind Religionen als „Deutungssysteme zu verstehen, die sich auf Transzendenzerfahrungen beziehen, die alle Menschen machen.“ (Nauerth, S. 132). Und wenn sich die Soziale Arbeit wie von Thiersch gefordert, der Lebenswelt ihrer Klienten und Klientinnen zuwendet, finden sich darin zahlreiche religiöse Formen, Vorstellungen und Praktiken. Um eine religiöse Lebenswelt überhaupt wahrnehmen, geschweige denn verstehen zu können, brauchen Sozialarbeitende ein religiöses Grundverständnis und eine Sensibilität für die Funktionsweisen von Religion, denn darüber hinaus sollten sie in der Lage sein, konstruktive und destruktive Formen religiöser Realität unterscheiden zu können, um erstere förderlich in den Beratungsprozess einzubauen, letztere aber zu dekonstruieren und in Frage zu stellen.
Axel Bohmeyer diskutiert, wie sich aus Luhmann’scher Sichtweise die Soziale Arbeit als Funktionssystem einer modernen Gesellschaft ausdifferenziert hat, und sich säkular, wenn nicht gar religionskritisch verortet hat. Dabei wäre sie durchaus anschlussfähig an religiöse Bezüge: einerseits über ihre historischen Wurzeln der Barmherzigkeit und andererseits über die vielen religiösen Organisationen, die die Soziale Arbeit tragen. Insofern sollte dem „funktionalen religiösen Analphabetismus der Sozialen Arbeit“ (Bohmeyer, S. 153) mit einer „religious literacy“ begegnet werden.
Gemäss Andreas Lob-Hüdepohl kann eine menschenrechtsbasierte Soziale Arbeit gar nicht anders als religionssensibel sein, denn ihre Lebensweltorientierung, ihr Respekt vor subjektiven Lebensentwürfen kann das Religiöse nicht ausklammern. Ein Eingriff in die religiöse Selbstbestimmung eines jeden Menschen ist für Sozialarbeitende nur legitim, wenn Fremdgefährdung oder (und dies ist der weitaus schwieriger zu beurteilende Fall) Selbstgefährdung vorliegen.
Ortrud Lessmann und Gunter Graf gehen den Spuren von Religion und Religiosität im Capability-Ansatz nach Martha Nussbaum und Amartya Sen nach. Da religiöse Praktiken für viele Menschen Bestandteil eines guten Lebens sind und es zur Kernkompetenz von Religionen gehört, darüber nachzudenken, was ein gutes Leben ist, sollte der Raum, den der Capability-Ansatz bietet, intensiver genutzt werden und zwar sowohl für wie auch gegen ein Bekenntnis zu religiösen Vorstellungen. Religionen sind pluralistisch, religiöse Zugehörigkeit kann sich im Verlaufe des Lebens verändern und Religion sollte als wichtiger Teil von Identität geschützt werden, aber nie die ganze Identität eines Menschen und all seine Teilbereiche vereinnahmen.
Ephraim Meir will mit seinem Beitrag Orientierung bieten für Sozialarbeitende, die mit interkulturellen und interreligiösen Begegnungen befasst sind. Als ‚Transdifferenz‘ bezeichnet er das menschliche Bemühen, über Unterschiede hinweg und mit Offenheit für das Anderssein in einer gemeinsamen Welt zu leben. Er plädiert für eine Reinterpretation religiöser Quellen, denn aus diesen lässt sich durchaus schliessen, dass Diversität von Gott gewollt ist. „Es ist eine religiöse Pflicht, Flüchtlinge zu unterstützen.“ (Meir, S. 185) – diese Pflicht begründet er mit Zitaten aus Quran, Talmud, Midrasch, Bibel, sowie philosophischen Lehren von Kant, Maimonides, Buber und vielen anderen.
Kerstin Löchelt und Germo Zimmermann zeigen anhand von qualitativen Interviews, die mit Jugendlichen im Rauhen Haus Hamburg durchgeführt wurden, wie Böhnischs Konzept der biografischen Lebensbewältigung und Honneths sozialphilosophische Anerkennungstheorie für eine religionssensible Pädagogik genutzt werden können. Für die Jugendlichen in prekären Lebenssituationen, stellen Religion und Glaube wichtige Ressourcen dar; für die Profession der Sozialen Arbeit gilt es, Spiritualität und Religion wieder neu zu entdecken und in ihre Arbeit einzubauen.
Dörthe Vieregge stellt eine qualitative Untersuchung zu Religionssensibilität in einem kirchlichen Jugendhilfe-Träger einer norddeutschen Grossstadt vor. Ziel war es, die subjektive Bedeutung und Struktur von Religiosität der betreuten Jugendlichen zu verstehen und die Sichtweisen der sie betreuenden PädagogInnen mit einzubeziehen. Für die Jugendlichen, die zumeist Brüche in ihren Lebensbiografien aufweisen, sind auf allen drei untersuchten Ebenen (Existenz- Transzendenz- und Konfessionsglauben) Ambivalenzen sichtbar. Ihre Betreuer und Betreuerinnen tun sich schwer mit allen Formen dogmatischer Glaubenssysteme, sind aber grundsätzlich offen für den Einbezug von Religion in ihre Arbeit, sofern sie dem jeweiligen Jugendlichen gerecht werde. „Religionssensibles Arbeiten hiesse demnach, Sensibilität – auch durch entsprechende diagnostische Kompetenz – dafür zu entwickeln, wann Religion für welchen Jugendlichen in welcher Form hilfreich sein kann bzw. wann und in welcher Form sie es nicht ist.“ so Vieregges, Fazit (S. 224).
Eckhard Frick und Klaus Baumann beschäftigen sich mit der Frage, mit welchen qualitativen und quantitativen Instrumenten Spiritualität und Religion überhaupt messbar sein können. Der Artikel führt von Ninian Smarts ‚acht Dimensionen des Heiligen‘ über Glock und Starks ‚fünf Strukturprinzipien von Religion‘, Theissens ‚Theorie des Urchristentums‘ bis hin zu zahlreichen qualitativen Studien aus den Gesundheitsberufen, die in der Pflege eine Zunahme an Einbezug spiritueller Bedürfnisse konstatieren.
Einen persönlich geprägten Text liefert Ayşe Güzin Altunbay, die in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik in Hamburg arbeitet und eine markante Zunahme von jungen Menschen mit Fluchthintergrund, die therapeutische Hilfe suchen, feststellt. Sie verwebt soziologische und tiefenpsychologische Konzepte der transkulturellen Psychiatrie mit autobiografischen Erfahrungen, die sie als Studentin in Wien gemacht hat. Mit ihren tscherkessischen Wurzeln und ihrem Kopftuch löste sie Irritationen aus und war selber irritiert von fremden Normen. Insbesondere das ‚Modell der Emotionslogik bei der Begegnung von zwei Fremden‘ nach Machleidt und Wolf kann hilfreiche Impulse geben, um die Auseinandersetzung von Einheimischen und Zugewanderten in Europa zu verstehen.
Zum dritten Teil
Michael Tüllmann und Sylke Kösterke beschreiben als Auftakt für den dritten Teil des Buches das Forschungsprojekt ‚Religions- und kultursensible Pädagogik‘, welches die Stiftung das Rauhe Haus in Kooperation mit der Akademie der Weltreligionen in Hamburg seit 2013 betreibt. Während deutsche Jugendliche eher individuell religiöse Patchworkvarianten zeigen, sind die Jugendlichen mit Migrationshintergrund – zumeist Muslime – stark konfessionell gebunden. Sowohl in der Arbeit mit erschöpften Familien, mit straffälligen Jugendlichen, mit geflüchteten Jugendlichen, in Wohngruppen und im Kinder- und Familienzentrum – immer wieder zeigt sich die Notwendigkeit, religiöse und spirituelle Fragen in die Beratung und Begleitung miteinzubeziehen. Diversität in den Grenzen des Grundgesetzes, Offenheit, Respekt, Vertrauen und sich Einlassen auf die Lebenswelt der Adressatinnen und Raum für existenzielle Fragen sind wichtige Grundpfeiler religions- und kultursensibler Pädagogik. „Es spricht für diese Gesellschaft, wenn sie lernen will, besser mit Diversität umzugehen.“ (Tüllmann und Kösterke, S. 286).
Astrid Giebel verweist auf das ‚Handbuch der Vereinten Nationen‘, welches unter dem Titel „Was ist Soziale Arbeit?“ neben dem geografischen, politischen, sozioökonomischen und kulturellen auch den spirituellen Kontext anführt. Ebenso garantiert die ‚Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Personen‘ ein Recht auf religiöse Handlungen und Respekt vor kulturellen und religiösen Werten. Damit ist spirituelle Begleitung Bestandteil professioneller helfender Tätigkeit und kann nicht länger dem Zufall oder der Begabung der einzelnen Sozialarbeitenden überlassen werden. Von religionssensiblen Sozialarbeitenden muss eine interkulturelle Orientierung, Öffnung und Kompetenz erwartet werden. In gemeinsam erlebten Liturgien und Gottesdiensten liegt darüber hinaus eine Kraftquelle, aus der Hoffnung geschöpft werden kann.
Cornelia Muth ist der Überzeugung, dass Meditation ein Heilmittel sein kann, welches hilft, sich authentisch mit der Welt zu verbinden. Sie verknüpft diese Haltung ausführlich mit den Gedanken von Martin Buber und Rigdzin Shikpo.
Claudia Schulz erzählt, wie sie Religionssensibilität an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg konkret im Unterricht vermittelt: Während die Studierenden zu Beginn noch abstrakt davon überzeugt sind, dass in der sozialarbeiterischen Beratung eine strikt neutrale Haltung angesagt ist, entdecken sie in der Auseinandersetzung: „Es gibt im Themenfeld Schwangerschaftsabbruch oder Pränataldiagnostik keine Neutralität, sondern nur individuell entwickelte Haltungen und das Bemühen um Verständnis für die die Haltungen der (werdenden) Eltern und ihrer Lebenssituationen.“ (Schulz, S. 311). Durch einen Zugang des forschenden Lernens erkennen die Studierenden, welch grosse Bedeutung Religion im Leben von Menschen haben kann und verlassen den anfänglichen Standpunkt von ‚religionsneutral‘ zugunsten einer fundierten Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Glaubensinhalten.
Um Religionssensibilität besser in die Beratung der Sozialen Arbeit einzubauen und das methodische Handeln daran auszurichten, hat Kathrin Hahn einem Imam und einer Pastorin über die Schulter geschaut, die immer schon auch religiöse Fragen in die Arbeit mit Klienten und Klientinnen miteinbeziehen. Eine religionssensible Lebensweltorientierung ist dann am besten gegeben, wenn die beratende Person differenzsensible Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeiten mitbringt und einen eigenen Zugang zu Religion und Spiritualität hat. Um Auszubildende dahin zu führen, sind Räume für spirituelle und religiöse Erfahrungen in Aus- und Weiterbildung der Sozialen Arbeit begrüssenswert. Jedoch ist die eigene Spiritualität keine Voraussetzung, für den Beruf der Sozialen Arbeit, sie ist vielmehr ein zusätzliches Potenzial.
Anita Hüseman sucht nach Möglichkeiten, die Arbeit mit Gruppen für Religionssensibilität zu öffnen. Nebst einem fundierten Wissen über Gruppenprozesse und Gruppendynamiken sind Neugier, Forscherlust und echtes Interesse für andere Lebenswelten wichtige Voraussetzungen. Die Deutungshoheit liegt dabei immer beim Gegenüber, es darf nachgefragt werden, aber keine heimlichen Interpretationen geben. Die pädagogisch Handelnden müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein, dass sie mit ihrer Haltung Räume öffnen und schliessen können und dass sie als Vorbild für konstruktive Debatten wirken. An konkreten Methoden werden Aktionssoziometrie, Theaterformen und künstlerische Verfahren vorgeschlagen.
Frank Düchting beschäftigt sich anhand von Theorien der Raumsoziologie nach Bourdieu, Löw und Kessl mit Religionssensibilität im öffentlichen Raum, im Gemeinwesen. Er wirft die Frage auf, wie Kirchen, Moscheen, Synagogen und Tempel miteinander vernetzt und zur Grundlage von ‚Community Organizing‘ werden können: „Die aktive Gemeinde der Gläubigen sollte heute und in Zukunft Teil der Bürgergemeinde, des Stadtteils und der Stadt sein, nicht ihr Gegenüber.“ (Düchting, S. 361).
Alexander-Kenneth Nagel und Mehmet Kalender nehmen die Schliessung des ‚Raums der Stille‘ an der TU Dortmund zum Ausgangspunkt, um über das Konzept solcher Einrichtungen nachzudenken. Sie tun dies anhand zweier Fallstudien, wovon sich die eine auf Krankenhäuser, die andere auf ‚Gärten der Religionen‘ bezieht – beides Versuche, der religiösen und kulturellen Pluralisierung in der Einwanderungsgesellschaft institutionell zu begegnen.
Zum vierten Teil
Im vierten Teil, in dem es um Religionssensibilität in Organisationen und Handlungsfeldern geht, arbeitet Friedemann Green die Trägergeschichte des Rauhen Hauses in Hamburg auf: Gegründet vor 180 Jahren zu Zeiten der Hamburger Erweckungsbewegung als christlich geprägter Lebensort für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, verlor das Rauhe Haus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine evangelische Prägung zugunsten einer professionellen pädagogischen und säkular ausgerichteten Haltung. Die heutige interkulturelle und teilweise religiös verankerte Klientel lässt eine Rückbesinnung auf die Haltung des Gründers J. H. Wichern, dass Religion eine resilienzfördernde Kraft innewohnt, sinnvoll erscheinen – allerdings Religion in einem weiteren, nicht konfessionell gebundenen Verständnis. Auch andere konfessionelle Träger könnten ihr diakonisches Selbstverständnis neu überdenken und ihre Professionalität mit einer wertschätzenden Haltung für die Dimension des Religiösen erweitern.
Direk Starnitzke nimmt diesen Gedanken auf und beschreibt in seinem Artikel das komplexe Feld, in dem sich konfessionelle Träger Sozialer Arbeit heute befinden. Nicht von den Angestellten solcher Organisationen sollte ein Glaubensbekenntnis eingefordert werden, sondern das diakonische Unternehmen selber sollte seine christliche Identität wieder ernster nehmen und als solche deklarieren. Hierfür braucht es religionssensibles spezialisiertes Personal, das – nebst den üblichen sozialarbeiterischen Grundkompetenzen – über interreligiöse Kompetenz und Offenheit verfügt.
Hanns-Stephan Haas nähert sich mit einer unternehmerischen Perspektive den beiden Begriffen der ‚Religionssensibilität‘ und des ‚Überzeugungspluralismus‘. Während sich Religionssensibilität auf die Arbeit mit Klienten und Klientinnen fokussiert, ist ‚Überzeugungspluralismus‘ die gelebte Realität unter den Mitarbeitenden. Anhand der Evangelischen Stiftung Alsterdorf legt Haas die Überlegungen dar, die zur Initiation neuer Mitarbeitenden anhand eines christlichen Gottesdienstes und mit dem Symbol des Kreuzes gemacht wurden: Trotz individueller persönlicher Überzeugungen anerkennen die Angestellten den Träger als konfessionsgebunden und das Christentum als den normativen Sinnhorizont.
Andreas Theurich befasst sich mit der Frage, wie eine religionssensible Führung einer Organisation aussehen könnte und diskutiert die in den USA bereits etablierten Konzepte von ‚spiritual leadership‘, ‚spiritual managment‘ und ‚workplace spirituality‘. Dabei setzt er sich auch mit der Kritik an diesen Konzepten auseinander, z.B. der von Tourish und Tourish geäusserten Verwischung von Grenzen (Privates vs. Berufliches) und Hierarchien oder der von Bartels formulierten Erkenntnis: „Religion hat immer auch einen exkludierenden Charakter.“ (zitiert nach Theurich, S. 427). Zudem sollte der Einbezug von Religion und Spiritualität nie der simplen Gewinnmaximierung dienen. „Religionssensibilität in Führungskontexten ist zu verstehen als ein spirituell-religiöses Fragen, das mehr an der Suche interessiert ist, weniger am Finden oder gar an Bestätigung des schon Bekannten.“ (Theurich, S. 428).
Wolfgang Bayer thematisiert in seinem Artikel – nach einer persönlichen Reflexion seines Werdegangs zum Sozialarbeiter – die Psychiatrie. Er bedauert das komplette Ausscheiden religiöser und transzendenter Erklärungsmuster für psychische Auffälligkeiten und die an diese Stelle getretene einseitig rationale und medizinische Sichtweise. Er plädiert für einen ganzheitlicheren Ansatz, der wieder mehr den Menschen mit seiner Suche nach Sinn und Glaube ins Zentrum rücken muss.
Carsten Mai beschreibt das Projekt ‚Glauben in der Pflege‘, welches von 2011 – 2013 an der Evangelischen Berufsschule für Pflege des Rauhen Hauses durchgeführt wurde. Wichtig ist es, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Kompetenzen, die die Lernenden befähigen mit unterschiedlichen Dimensionen von Glauben in der Pflege umzugehen und so die existenziellen spirituellen und religiösen Bedürfnisse ihrer Patienten und Patientinnen adäquat wahrnehmen und zu ihrer Erfüllung beitragen zu können. Voraussetzung für diese wichtige Kompetenz ist eine Klärung des eigenen Standpunktes bezüglich Glauben.
Handan Aksünger berichtet über die aktuelle und vergangene Situation der Aleviten, insbesondere der anatolischen Aleviten, die aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind. Nach Glaubenskriegen mit den Osmanen galten die Aleviten als Ungläubige, wurden verfolgt und zogen sich als Geheimreligion, die sich ein Schweigegebot auferlegte, in die anatolischen Berge zurück. Mit Gründung der Türkei 1923 erhielten die Aleviten von Atatürk die türkische Staatsbürgerschaft, wurden aber als mystische Glaubensgemeinschaft verboten. Seit den 1960er Jahren wanderten viele Aleviten nach Deutschland ein, heute leben ca. 500000 anatolische Aleviten in Deutschland, aber erst ab 1980 begannen sie sich als Religionsgemeinschaft zu organisieren. Dabei praktizieren sie jedoch keineswegs eine religiöse Abschottung, sondern tragen zum interreligiösen Dialog bei und engagieren sich für das Gemeinwohl.
Zum fünften Teil
Der fünfte Teil beschreibt zwei Perspektiven aus konfessionellen Kontexten:
- Özlem Nas analysiert die Situation der Muslime im gegenwärtigen Deutschland, insbesondere der jungen Generation in Schulen, Kindertagesstätten und Jugendeinrichtungen. Fakt ist, dass es eine homogen deutsche Gesellschaft nicht mehr gibt und dass sich die Bewohner und Bewohnerinnen dieses Einwanderungslandes mit der Vielfalt auseinandersetzen müssen – ob sie dies wollen oder nicht. In Fortbildungen für Lehrkräfte hat Nas Methoden ausprobiert, um eine grundlegende Empfindungsfähigkeit für Religion und damit einen sensiblen, handlungskompetenten Umgang mit religiösen Menschen zu fördern. Einige davon stellt er in seinem Artikel vor. Interkulturelle Kompetenz und religionssensible Pädagogik sollte nicht nur dann stattfinden, wenn es Probleme gibt, sondern integraler und obligatorischer Bestandteil von allen Aus- und Weiterbildungen darstellen.
- Kay Kraack beendet den Band mit einigen Überlegungen zu den Veränderungen des Stadtteils St. Georg in Hamburg. Er beschreibt anhand ganz konkreter pragmatischer Lösungen – z.B. dem Einrichten einer Disko nur für Mädchen, weil Muslima die gemischtgeschlechtliche nicht aufsuchen durften – wie in diesem vielfältigen Stadtteil verschiedenste Bevölkerungsgruppen zu Dialog und gemeinsamen Projekten zusammengebracht wurden und werden. Dabei schreckte die Kirchgemeinde St. Georg auch nicht davor zurück, so schwierige Themen wie die Anschläge von 9/11 oder die kirchliche Haltung zu Homosexualität aufzugreifen.
Diskussion
Dieses umfassende Werk bietet viele interessante Anknüpfungspunkte für die Auseinandersetzung der Sozialen Arbeit mit Religion. Klar ist die Prämisse der Herausgeber und Herausgeberinnen, sowie der meisten Autoren: Nämlich, dass Religion und Spiritualität eine wichtige Quelle persönlichen Erlebens und eine Ressource für Resilienz darstellen und folglich von der Sozialen Arbeit nicht länger vergessen oder bewusst ausgeklammert werden dürfen. Stattdessen sollen sie in vielfältiger Weise ins methodische und konzeptionelle Denken, in Leitbilder und Organisationskulturen, in die Beratungen, Gruppen- und Gemeinwesenarbeit, sowie in die Ausbildungsstätten der Sozialen Arbeit einbezogen werden. Hierfür wird einerseits auf das religiöse Erbe der Sozialen Arbeit im Sinne von barmherziger Fürsorge wie auch auf die sich verändernde pluralistische, aber keineswegs säkulare Gesellschaft hingewiesen.
Da alle Autoren und Autorinnen sich in irgendeiner Form rund um das Rauhe Haus in Hamburg situieren, sind die Texte insgesamt recht einheitlich, wenn sie auch aus unterschiedlicher Perspektive begründen, warum sich die Soziale Arbeit (wieder) vermehrt Religion und Spiritualität gegenüber öffnen sollte. Auch inhaltlich gibt es einige Redundanzen: So wird etwa immer wieder auf die eigene empirische Studie des Rauhen Hauses verwiesen, in mehreren Artikeln Habermas' Zitat der „postsäkularen Gesellschaft“ angeführt, der „religiöse Analphabetismus“ bemängelt und historisch aufgezeigt, wie sich die Soziale Arbeit von ihren religiösen Wurzeln entfernt und dem religionskritischen Strang der Soziologie angeschlossen hat.
Während das Plädoyer für mehr Religion und Spiritualität, insbesondere bei konfessionell gebundenen Trägern und mit einer Klientel, bei der Religion einen erheblichen Teil der Lebenswelt ausmacht, gut nachvollzogen werden kann, sitzt der Teufel auch hier in den Details, die zu wenig reflektiert werden:
Beispielsweise wird im Bemühen um interreligiösen Austausch der Umgang mit der konfessionslosen Bevölkerung ausgeklammert. Obwohl viel Toleranz gegenüber jeglicher Form von Spiritualität und Religion geäussert wird und mannigfaltige Formen von Dialog entwickelt werden, erscheint implizit und manchmal auch explizit die religionsferne Mehrheitsbevölkerung nicht zu existieren oder höchstens als noch zu überzeugende vorurteilsbehaftete Masse. Wie aber bei der ganzen Hinwendung zu religiösen Themen auch atheistische Migranten und agnostische Migrantinnen abgeholt werden können und sollen, wie also nicht nur das Recht auf Religion, sondern auch das Recht auf Abstinenz von Religion in einer religionssensiblen Sozialen Arbeit gewährleistet wird – diese Debatte wird weitestgehend vermieden.
Das von Claudia Schulz vorgestellte Ausbildungskonzept für religionssensible Soziale Arbeit bildet ein anschauliches Beispiel dafür: In einer Forschungssequenz werden die religiösen und die nicht-religiösen Studierenden in zwei Gruppen eingeteilt, wobei anschliessend die nicht-religiösen Interviews mit den gläubigen durchführen – nicht aber umgekehrt. „Wichtigstes Ergebnis dieser Übung ist es, dass sich für alle Beteiligten in kurzer Zeit die Vorstellung erübrigt, es gebe eine Dichotomie von religiösen und nicht religiösen Menschen (…) und immer wieder werden überraschende Nähen zwischen Positionen von Studierenden unterschiedlicher religiöser Prägung sichtbar.“ (Schulz, S. 313). Klar ist hier und im ganzen Buch, dass sich die Religionsfernen mit den Positionen von religiösen Menschen auseinandersetzen müssen, wer über kein religiöses Sensorium verfügt, erscheint im Konzept der Religionssensibilität als defizitär.
In einigen Artikeln werden explizit auch Grenzen und Gefahren angesprochen, wenn etwa gefordert wird, Religion konsequent an den Menschenrechten auszurichten und ein konstruktives Religionsverständnis von einem destruktiven zu unterscheiden. Die Kriterien für eine solche Unterscheidung sind jedoch (noch) nicht ausgereift. So scheinen den Herausgeberinnen und Herausgebern vermutlich ‚Sekten‘ und Patchworkreligionsgebilde von eher problematischer Natur, ob und wie sie von einer religionssensiblen Sozialen Arbeit erkannt, anerkannt, eingebettet oder ausgeschlossen werden sollen, wird in 500 Seiten Lektüre jedoch nicht ansatzweise klar.
Zahlreiche Artikel in diesem Buch verweisen auf Hans Thierschs Konzept der Lebensweltorientierung und nützen das Gespräch mit ihm als Argument für mehr Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit, aber kaum einer nimmt Sätze zur Kenntnis wie „Sie (Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter) können sich nicht auf theologische Kontroversen einlassen. Religiöse Auseinandersetzungen müssen religiös geführt werden.“ (Interview mit Hans Thiersch, S. 39). Oder „Ich finde solche weiteren Kompetenzen ungeheuer wichtig, aber sie sind nicht die primäre sozialpädagogische Kompetenz. Man könnte überlegen, ob es sinnvoll ist, dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter solche zusätzlichen Kompetenzen erwerben, etwas im Sport, das ist ja sehr naheliegend, oder in Musik oder im Theaterspiel. Aber die primäre sozialarbeiterische Kompetenz ist es nicht. Es wäre ein Zusatzfach, als ein solches könnte man sich auch Religion denken.“ (Interview mit Hans Thiersch, S. 39f). Als Titel des Interviews fungiert das Zitat „Alltag braucht Transzendenz“ und führt damit auf eine völlig falsche Fährte, denn Thiersch sagt ganz ausdrücklich „Transzendenz nicht im engeren Sinn religiös, sondern ganz allgemein verstanden als Abstand, als Blick von aussen und im weiteren Rahmen, damit man sich im Gewühl der unmittelbaren Aufgaben nicht verläuft und verliert.“ (Interview mit Hans Thiersch, S. 33).
Ein letztes die Rezensentin schockierendes Detail: Lessman und Graf kommen aus Sicht des Capability-Ansatzes klar zur Erkenntnis, dass Religionen nicht nur geschützt, sondern auch begrenzt werden müssen. Von Religionen muss gefordert werden, dass sie alle Bürgerinnen und Bürger als Gleiche anerkennen und mit gleichem Respekt behandeln etc. Und dann führen sie (S. 178) ausgerechnet den für seine Judenfeindlichkeit und seinen Antisemitismus bekannten Martin Luther als Vorbild für diese Haltung an!
Wer also Argumente und Möglichkeiten sucht, Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit vermehrt zu fordern und einzusetzen, findet in diesem Buch eine Menge Ideen und Ansätze. Wer sich eine neutrale oder kontroverse Auseinandersetzung mit dem Konzept der Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit erhofft, bleibt am Schluss etwas ratlos zurück mit den vielen Postulaten, wo überall und wie die Soziale Arbeit sich religiösen und spirituellen Inhalten zuwenden sollte.
Fazit
Das Fazit in den Worten eines der Herausgeber: „Soziale Arbeit benötigt eine Religionssensibilität, die religiöse Realitäten professionell wahrnehmen, verstehen, beurteilen sowie übersetzen kann und durch die sie sich zu qualifizierter Religionskritik befähigt.“ (Nauerth, S. 140). Diese Position wird auf vielfältige Weise begründet, eingefordert, an Beispielen veranschaulicht – kurzum: ein engagiertes Plädoyer, aber nur ansatzweise eine kontroverse Auseinandersetzung.
Rezension von
Ursula Christen
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Zitiervorschlag
Ursula Christen. Rezension vom 13.07.2018 zu:
Matthias Nauerth, Kathrin Hahn, Michael Tüllmann, Sylke Kösterke (Hrsg.): Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2017.
ISBN 978-3-17-032206-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24286.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
Urheberrecht
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