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Felix Welti, Andrea Herfert (Hrsg.): Übergänge im Lebenslauf von Menschen mit Behinderungen

Rezensiert von Prof. Dr. Elisabeth Müller Fritschi, 09.07.2018

Cover Felix Welti, Andrea Herfert (Hrsg.): Übergänge im Lebenslauf von Menschen mit Behinderungen ISBN 978-3-7376-0266-2

Felix Welti, Andrea Herfert (Hrsg.): Übergänge im Lebenslauf von Menschen mit Behinderungen. Hochschulzugang und Berufszugang mit Behinderung. Kassel University Press (Kassel) 2017. 169 Seiten. ISBN 978-3-7376-0266-2. D: 17,00 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 18,20 sFr.

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Thema

Das Buch dokumentiert die Ergebnisse der ersten wissenschaftlichen Tagung des Netzwerks „Inklusive Hochschulen Hessen“, die im Juni 2016 in Fulda stattfand. Mit dem Tagungsthema „Übergänge im Lebenslauf von Menschen mit Behinderungen: Hochschulzugang und Berufszugang mit Behinderung“ standen aktuelle Erkenntnisse zur zentralen Bedeutung von Übergängen für selbstbestimmte (Erwerbs-)Biographien im Fokus.

HerausgeberIn und Entstehungshintergrund

Ziel des Netzwerkes „Inklusive Hochschulen Hessen“ ist „die Entwicklung und Implementierung eines hohen Standards der Barrierefreiheit und Inklusion an hessischen Hochschulen“ (S. 1). Co-Herausgeber Felix Welti gehört dem wissenschaftlichen Beirat des Netzwerkes an. Die vom Netzwerk initiierte Tagung, auf die sich der Band bezieht, wurde von der Universität Kassel und der Hochschule Fulda vorbereitet.

Aufbau und Inhalt

Im Kapitel „Tagungsbericht zur Fachtagung“ (S. 1 bis 20) gibt Alice Dillbahner eine Übersicht über die verschiedenen Tagungsbeiträge und die daran anschließenden Diskussionen.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Felix Welti und Diana Ramm (S. 21 bis 40) zeigen im Kapitel „Rechtliche Rahmenbedingungen für die Übergänge behinderter Menschen, insbesondere zur Hochschule“ auf, wie die Bestrebungen für Inklusion vor dem Hintergrund von (Schul-) Pflichten und Rechten und insbesondere der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) legitimiert sind. Es wird auf die Diskrepanz zwischen einer Forderung nach einem inklusiven Bildungssystem und dem (wenig) inklusiven Arbeitsmarkt hingewiesen. So werden etwa die Übergangsproblematiken hervorgehoben, die sich aus den kaum aufeinander abgestimmten rechtlich-institutionellen Logiken von Schulen, Hochschulen, Arbeitgebenden (und Sozialleistungsträgern) ergeben. Autorin und Autor kommen zum Schluss, dass es einer Institution bedarf, „die den Übergang zwischen den verschiedenen Phasen der Erwerbsbiographie unterstützt und dabei behinderungsspezifische Probleme bearbeitet“ (S. 37). Sie plädieren dafür, den „Auftrag der Bundesagentur für Arbeit stärker im Sinne eines Übergangsmanagements“ (S. 38) auszugestalten.

Tim Plasa (S. 41 bis S. 59) präsentiert im Kapitel „Auswirkungen von chronischen Erkrankungen & Behinderungen auf Studium und Berufseinstieg aus Sicht des Kooperationsprojekts Absolventenstudien (KOAB)“ empirische Erkenntnisse zur Frage, „in welchem Masse eine chronische Erkrankung bzw. Behinderung das Studium und den anschließenden Karriereweg beeinträchtigt“ (S. 42). Die Daten stammen aus einer jährlich online durchgeführten Studie verschiedenster Hochschulen, die sich an Hochschulabsolvent/innen richtet, die ihren Abschluss ca. 1.5 Jahre vor der Befragung erwarben. Seit 2013/2014 umfasst das Erhebungsinstrument einen optionalen Teil „Chronische Erkrankung“. Der Beitrag zeigt die Ergebnisse zu den Fragen, die von der Gruppe mit und der Gruppe ohne Beeinträchtigung unterschiedlich beantwortet werden: Studienwahl, Regelstudienzeit, Belastung, Kontakt zu (Mit-)Studierenden, Studierendenzufriedenheit, Dauer der Arbeitssuche nach dem Studium, Einkommen, Berufszufriedenheit. Als Fazit formuliert der Autor, dass es gelte, Strategien zur Reduzierung der Studiendauer von Studierenden mit Beeinträchtigungen und Hilfestellungen zum Übergang von der Hochschule in den Beruf zu entwickeln.

Catrin Siedenbiedel beleuchtet im Kapitel „Übergänge im Lebenslauf mit Behinderungen. Wege zum Hochschulzugang aus der Schule“ (S. 60 bis 87) die besonderen Herausforderungen und offenen Diskussionspunkte rund um den Übergang Schule-Hochschule. Ausgehend von der Feststellung, dass Übergänge zwischen Systemen grundsätzlich sensibel für Selektion und damit auch für Benachteiligungen sind, stellt dieAutorin zunächst theoretische Rahmungen zum Inklusionsbegriff vor. Sie skizziert danach die Problematik des Zusammenhangs zwischen Kategorisierungen bzw. Behinderungszuschreibungen und der Legitimation von (sonderpädagogischem) Förderbedarf, der die Inklusionsdebatte im Schulsystem bewegt. Die Hochschulen wiederum orientieren sich gemäß Autorin weniger am Förderbedarf als an einer medizinisch/psychiatrischen Diagnostik, welche personengebundene Defizite benennt und daraus Rechte (auf Nachteilsausgleich) ableitet. In Bezug auf Teilhabe-Barrieren stelle sich die Frage, inwiefern die Schulen Kinder mit Förderungsbedarf überhaupt auf ein Hochschulstudium vorbereiten (wollen), etwa indem sie diesen Bildungsweg für diese Kinder überhaupt vorsehen. Zentral sei zudem, ob die Hauptfunktion der gymnasialen Oberstufe bei der Selektion oder aber bei der Förderung von Studier-/Berufsfähigkeit gesehen werde, wobei Letzteres die Chancen inklusiver Bildung erhöht. Es wird die Frage gestellt, ob neben dem Nachteilsausgleich auf der Hochschulebene nicht auch die Idee einer besonderen Förderung diskutiert werden sollte.

Christian Schmidt thematisiert unter dem Titel „Inklusion in berufliche Bildung im Anschluss an die Förderschule“ (S. 88 bis 107) den Weg, den Menschen mit Behinderung in der beruflichen Bildung machen. Er fokussiert die Übergänge und die Zuweisungsprozesse, die dabei stattfinden und stützt sich auf ein durch die Disability Studies ermöglichtes „pädagogisch-förderndes Verständnis von Inklusion“ (S. 91), in Abgrenzung zu einem „klinischen Blick“ auf Behinderung. Entscheidende Weichen werden, so der Autor, zunächst beim Prozess der Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs gestellt. Schon dieser Prozess sei sehr kontextabhängig. Beim Eintritt in die Berufswelt, also nach der Förderbeschulung, finden weitere kaum transparente Zuweisungs- und Selektionsprozesse statt, und der Übergang in eine unbefristete Erwerbstätigkeit gelingt nur einem kleinen Prozentsatz der Menschen mit sonderpädagogischer Förderung. Zudem können nur wenige Menschen mit Behinderungen von einer gemeinsamen beruflichen Bildung zusammen mit Menschen ohne Behinderung profitieren. Anders bei den Hochschulen: Deren Zugangskriterien sind transparent und das Bildungsangebot ist insofern „inklusiv“ als es keine Sonderveranstaltungen für Menschen mit Behinderungen umfasst.

Sabine Lauber-Pohle und Marc Ruhlandt stellen im Kapitel „Inklusives Studieren bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung – Übergänge zwischen Institutionalisierung und Nachfrageorientierung“ (S. 108 bis 123) ein Projekt der Philipps-Universität Marburg vor. Ziel dieses Projektes war es, Informationen zum Studieren mit Beeinträchtigung zu erhalten. Es sollten speziell die Interessen der Studierenden mit Sehbeeinträchtigungen und das Beratungs- und Unterstützungsangebot erfasst werden (u.a. mit 21 Experteninterviews). Besonderes Interesse galt den Phasen des Studieneinstieges und des Studienabschlusses, denn in diesen Phasen spielen u.a. in der Sozialisation erworbene Orientierungsmuster (etwa planvoll-zielorientiert versus suchend-abwägend) eine wichtige Rolle. Wurden die Studierenden vorgängig in spezialisierten Einrichtungen beschult, zeigen sie andere Orientierungsmuster als wenn sie eine allgemeine („inklusive“) Schule besucht haben. Die sozialisierten Muster beeinflussen die Anpassungsleistung, die am Übergang zur Hochschule gefordert ist. In Bezug auf die Angebote sei zu berücksichtigen, dass individuelle Beratungsangebote Studierenden mit „suchend-abwägenden“ Orientierungsmustern entgegenkommen, während strukturierte Angebote (etwa Kurse und Berufs- und Übergangsberatung) eher den Studierenden mit „planvoll-zielorientierter Ausrichtung“ (S. 121) entsprechen. Für eine gelingende Übergangsgestaltung bedürfe es einer „sensiblen Passung“ (S. 121) zwischen Individuum und Organisation, und Vernetzung.

Angela Rauch beschreibt im Kapitel „Menschen mit Behinderung und ihre Teilhabe am Erwerbsleben. Ein offenes Forschungsfeld?“ (S. 124 bis 146) Sozialstrukturen und Bildungsbeteiligung von Menschen mit Behinderung. Sie skizziert die (sinkenden) Teilhabechancen für Menschen mit geringerer Bildung in einer Wissensgesellschaft, und sie zeigt die Situation von Menschen mit Schwerbehinderungen auf dem Arbeitsmarkt anhand von Statistiken zur Beschäftigung zu Arbeitslosigkeit und zu den Wegen aus der Arbeitslosigkeit auf. Die Autorin verdeutlicht, inwiefern verschiedene Faktoren sozialer Ungleichheit (neben gesundheitlichen Beeinträchtigungen etwa Bildung, Alter etc.) die Teilhabechancen von Menschen mit (Schwer-)Behinderungen beeinflussen. Um die Teilhabe am Arbeitsleben zielgerichteter ausbauen und fördern zu können, müssten gemäss Autorin noch differenziertere Informationen über den aktuellen Stand der Partizipation und die Exklusionsrisiken generiert werden.

Petra Friedrich berichtet im Kapitel „Übergänge: Wohin gehen Studierende mit Behinderungen?“ (S. 147 bis 153) von Angebot und Erfolg ergänzender individueller und behinderungsspezifischer Maßnahmen zur Vermittlung von Menschen mit Behinderungen in Hessen. Zentral für die Vermittlung ist gemäß Autorin die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteur/innen (Arbeitgebende, Träger der Arbeitsvermittlung, Integrationsfachdienste) bei der Aktivierung, Heranführung, Anbahnung und zum Teil Begleitung von Arbeitsverhältnissen. Zudem seien spezialisiertes Wissen (bspw. Fachwissen rund um Wechselwirkungen von behinderungsbedingten Einschränkungen), Kontinuität bei der Beratung, und ein Fokus auf Individualität und Passgenauigkeit zwischen Fähigkeitsprofil und Anforderungsprofil des Arbeitsplatzes entscheidend.

Susanne Groth, Jana Felicitas Bauer und Mathilde Niehaus legen unter dem Titel „Tatort: Übergang Hochschule Arbeitswelt – spannende Ereignisse und Falllösungen“ (S. 154 bis 164) den Fokus auf die Kernergebnisse einer Pilotstudie zum Thema „Barrieren in Studium und beim Übergang in den Beruf“ sowie auf zwei Praxisprojekte. DieArbeitslosendaten der Bundesagentur für Arbeit weisen darauf hin, dass sich die Arbeitslosenquote zwischen 2009 und 2012 für Akademiker/innen ohne Behinderung verringerte, während die Quote für Akademiker/innen mit Behinderung zunahm. Im Rahmen einer Zukunftswerkstatt an der Universität Köln wurden im Studium und am Übergang in den Beruf verschiedene behinderungsspezifische Barrieren ausgemacht: bauliche und technische Hürden, fehlende Unterstützung (finanzieller Art, oder beim Info- und Beratungsangebot im Studium), fehlendes Wissen darum, wer Informationen am Übergang ins Erwerbsleben zur Verfügung stellt. Als größtes Hindernis jedoch werden neben den bürokratischen die (psychologischen) Barrieren (in den Köpfen) bezeichnet: z.B. auf der einen Seite Berührungsängste und Unsicherheiten oder Vorurteile, auf der andern Seite Verschweigen aus Angst vor Diskriminierung oder Stigmatisierung. Thematisiert wird zudem ein Praxisprojekt, in dem Promotionsstellen für schwerbehinderte Akademiker/innen geschaffen wurden, und ein Mentoring-Projekt zwischen Akademikerinnen mit Beeinträchtigungen und Führungspersonen aus KMUs. Gemäss Fazit der Autorinnen sollte „das Thema ‚inklusive Hochschule‘ nicht nur als Querschnitts- sondern auch als Längsschnittthema gedacht werden“ (S. 162): Hochschulzugang, Studiensituation und Eintritt ins Erwerbsleben – alle drei, und deren Zusammenspiel, sollen erforscht und gefördert werden.

Fazit

Die Beiträge des Bandes werfen einen kritischen Blick auf die zum Teil intransparenten und höchst selektiven Vorgänge an den bildungsbiographischen Übergängen von Menschen mit Behinderungen auf ihrem Weg vom (Aus-)Bildungssystem ins Erwerbsleben. Es wird dabei deutlich, wie zentral eine kritische Betrachtung der Passung zwischen den individuellen Kompetenzen der Betroffenen, der (Hoch-)Schule und dem Erwerbsleben ist. Damit die Übergänge gelingen und entsprechend unterstützt werden können, brauchen neben den direkt betroffenen Menschen auch die Bildungsinstitutionen (bspw. die Lehrenden) und Bildungsverantwortlichen, sowie die Arbeitgebenden und alle vermittelnden/beratenden Stellen gut aufbereitetes Wissen. Der Band präsentiert eine breite Palette solchen Wissens aus Recht, Praxis und Forschung. Damit kann er wichtige Diskussionen über offene und versteckte Selektionsprozesse anregen. Er dürfte auch das Interesse an weiteren Projekten und Forschungsvorhaben zur Gestaltung bildungsbiographischer Übergänge für Menschen mit Beeinträchtigungen anregen.

Rezension von
Prof. Dr. Elisabeth Müller Fritschi
Referentin in der Fachstelle Didaktik und angewandte Linguistik
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Es gibt 13 Rezensionen von Elisabeth Müller Fritschi.

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ISSN 2190-9245