Günther Lanier: Land der Integren (Burkina Faso)
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.05.2018

Günther Lanier: Land der Integren. Burkina Fasos Geschichte, Politik und seine ewig fremden Frauen. Guernica Verlag (Linz) 2017. 552 Seiten. ISBN 978-3-9503578-7-5. D: 19,50 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 22,30 sFr.
Africa en marche?
Im transnationalen, interkontinentalen und interkulturellen Diskurs darüber, wie Macht entsteht, wie und warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden (Jan Morris, Wer regiert die Welt, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12186.php), welche Motive und Ursachen bewirkten, dass sich Ethno-, Eurozentrismus, Kolonialismus und Rassismus im Werteverhältnis der Kontinente und Menschen durchsetzen konnten (Wulf D. Hund, Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/24010.php), werden humane und inhumane, logische und irrationale, menschenrechtliche und ideologische Begründungen herangezogen. Die Fragen nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der Welt werden seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Denn die kapitalistischen, neoliberalen und neokolonialen Entwicklungen verdeutlichen, dass die Habenichtse immer ärmer und die Wohlhabenden immer reicher werden. Diese skandalöse, unmenschliche Entwicklung zeigt sich in individuellen und lokalen, als auch in globalgesellschaftlichen Zusammenhängen. Es sind die ungerechten Nord-Süd-Entwicklungen, bei denen auf der einen Seite die Industrieländer der Nordhalbkugel Wohlstand und Wachstum generieren und andererseits die sogenannten Entwicklungsländer im Süden der Erde zu Verlierern in der globalen Entwicklung geworden sind. Spätestens seit dem ersten Bericht an den Club of Rome, 1972, sollte der Menschheit bewusst geworden sein, dass die (ökonomischen) Grenzen des Wachstums erreicht seien und die Menschheit vor der Herausforderung steht, „umzudenken, sich umzuorientieren und (sich) gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden, wie dies die Weltkommission ‚Kultur und Entwicklung‘ 1995 eindringlich gefordert hat.“ Der „Nord-Süd“-Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1980 trägt den Titel „Das Überleben sichern“ und verweist auf die gemeinsamen Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer (North-South: A Programme for Survival). 1990 haben sich rund 20 Expertinnen und Experten aus den Ländern des Südens in der „Südkommission“ zusammen gefunden, um „über die Eigenverantwortung der Dritten Welt für dauerhafte Entwicklung“ nachzudenken (Stiftung Entwicklung und Frieden, SEF, Die Herausforderung des Südens, Bonn/Bad Godesberg 1991, 430 S.). Es sind Schuldzuweisungen – gegen koloniale, imperiale und hegemoniale Herrschaft, Anklagen über Fremd- und Selbstverschulden, wie sie z.B. eindringlich der ugandische Kulturwissenschaftler Okot p'Bitek (1931 – 1982) mit seinem „Gebet“ formuliert hat:
Oh Gott, bewahre Afrika
Vor unseren neuen Herrschern;
Lass sie demütig werden
Öffne ihre Augen,
Damit sie sehen,
Dass der materielle Fortschritt
Nicht auf einer Stufe steht mit geistigem Fortschritt.
Oh Herr, öffne die Ohren der afrikanischen Herrscher
Damit sie Freude empfinden
Beim Klang ihrer Trommeln
Und der Gedichte ihrer Mütter
(Okot p'Bitek, Afrikas eigene Gesellschaftsprobleme, in: Rüdiger Jestel, Hrsg., Das Afrika der Afrikaner. Gesellschaft und Kultur Afrikas, edition suhrkamp 1039, Ffm 1982, S. 249ff).
Und es sind Unsicherheiten und Unklarheiten, wie sie sich in den individuellen und kollektiven, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ergeben und vom ghanaischen Poeten M. F. Die-Anang (1909 – 1977) in seiner Frage „Wohin?“ gestellt werden:
Wohin?
Zurück?
Zu den Tagen der Trommeln
und festlichen Gesänge im Schatten
sonnengeküßter Palmen -
Zurück?
Zu den ungebildeten Tagen
Da die Mädchen immer keusch waren
und die Burschen schlechte Wege verabscheuten
aus Angst vor alten Göttern -
Zurück?
Zu dunklen strohgedeckten Hütten
wo Güte herrschte und Trost wohnte -
Oder vorwärts? Wohin?
In die Slums wo Mensch auf Mensch gepfercht ist
wo Armut und Elend ihre Buden aufschlugen
und alles ist und traurig?
Vorwärts? Wohin?
In die Fabrik
um harte Stunden zu zermahlen
in unmenschlicher Mühle
in einer einzigen endlosen Schicht?
Entstehungshintergrund und Autor
Sind es die Aufbruchstimmungen und erfolgreichen Initiativen, die ein Ende der westlichen Arroganz gegenüber den Afrikanern fordern (Helmut Danner, Das Ende der Arroganz. Afrika und der Westen – ihre Unterschiede verstehen, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13530.php; sowie: Fritz Habekuss, Ein Kontinent drängt nach vorn, in: DIE ZEIT, Nr. 15 vom 5.4.218, S. 35 )? Sind es die Perspektivlosigkeiten und Verlockungen, die viele junge Afrikanerinnen und Afrikaner veranlassen, sich auf die schwierigen und gefährlichen Fluchtwege in Richtung Europa zu machen? Oder ist es doch die Hoffnungen, dass es gelingen könnte, die menschengemachten, -feindlichen und chaotischen Entwicklungen und Krisensituationen zu überwinden und ein würdiges, gutes Leben für alle Menschen auf der Erde zu ermöglichen (Fabian Scheidler, Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/24035.php)?
Der österreichische Ökonom und Ethnologe Günther Lanier lebt seit 2002 in Ouagadougou, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes Burkina Faso. Er lehrt an der dortigen Universität und engagiert sich in der europäisch-afrikanischen Entwicklungszusammenarbeit. Während der französischen Kolonialzeit hieß Burkina Faso Obervolta. Das Land wurde, wie viele andere ehemalige Kolonien in Afrika 1960 unabhängig. Fragen der Anbindung oder Loslösung, Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht bestimmen bis heute den kontroversen Diskurs der Burkinabè. Dem Aufstieg einer dünnen, ausgewählten Schicht von politischen Führern und ökonomisch Mächtigen standen und stehen bis heute die Mehrheit der armen und verarmten Bevölkerung gegenüber. Wie auch in den anderen (Sahel-)Ländern vollziehen sich Entwicklungen wie Landflucht und Verstädterung aufgrund von regelmäßig wiederkehrenden Dürre- und Hungerkatastrophen, bis hin zu den neuen, global-imperialen Landnahmen (Landraub), kapitalistischen Verführungen und enkulturellen Veränderungsprozessen. Gegen diese Entwicklungen und Machtgänge gab es auch in Afrika immer wieder kritische Stimmen und Gegenbewegungen, wie z.B. die Négritude und den Afrikanischen Sozialismus. In Burkina Faso war es der „Sankarismus“, benannt und initiiert vom sozialistischen Revolutionär und Offizier Thomas Sankara, mit dem Ziel, eine Politik und Verfassung des Landes nach panafrikanischen Freiheitsideen zu begründen. Nach einem Staatsstreich kam er 1983 an die Macht und wurde Präsident. Mit der Umbenennung von Obervolta in Burkina Faso, dem „Land der Unbestechlichen/Integren/Gerechten“, 1984, wollte Sankara mit seiner Partei Conseil national de la révolution (CNR) eine Politik der Ehrlichkeit, der Gleichheit, Emanzipation und des Fortschritts verwirklichen. Mit seiner rigorosen und kompromisslosen Politik insbesondere gegenüber den westlichen, politischen und hegemonialen Interessen führte nicht nur dazu, dass die ehemalige Kolonialmacht Frankreich die Entwicklungshilfe im Land einstellte, was, mit weiteren Repressalien dazu führte, dass sich in Burkina Faso die Interessengegensätze zwischen der urbanen und ruralen Bevölkerung vertieften und bürgerkriegsähnliche Zustände entstanden. Beim Militärputsch unter der Führung von Sankaras ehemaligen Weggefährten Blaise Compaoré am 15. Oktober 1987 wurde Sankara entmachtet und getötet. Mit der Zustimmung und dem Wohlwollen Frankreichs und einiger afrikanischer Staaten herrschte Compaoré fast drei Jahrzehnte im Land. Die „Union pour la Renaissance / Parti Sankariste“ gibt es zwar in Burkina Faso, doch sie kann keine Mehrheiten erringen. Immerhin: Der Zusammenschluss von afrikanischen Intellektuellen, „Convention panafricaine sankariste“ (CPS), ruft zu einer Politik gegen Korruption, Machtmissbrauch und Armut und für Emanzipation und Gleichheit in der Gesellschaft auf. Der Philosoph von der Universität in Ouagadougou, Etienne Traoré, verweist auf die im Land steigenden Verteilungsungerechtigkeiten und die fatalen Zustände insbesondere der Frauen auf dem Lande.
Aufbau und Inhalt
Günther Lanier gliedert seine aktuelle Bestandsaufnahme der politischen und gesellschaftlichen Situation in Burkina Faso in zwei Teile.
- Im ersten Teil vermittelt er mit „An der Peripherie der Peripherie“ einen historischen Überblick bis hin zur Postkolonie.
- Im zweiten Teil setzt er sich mit der Situation der Frauen, als „die ewigen Fremden“ im Land, auseinander.
Es sind Informationen als Landeskunde über die Ethnien in Burkina Faso, die sich in rund 70 Sprachen, davon 7/8 indigen, verständigen. Die Bevölkerungsmehrheit der Mossi (52,5 % der Bevölkerung) spricht Mooré, die Peulh (8,4 %), die Gourmantché (6,8), die Bobo (l4,8), die Gourounsi (l4,4), die Bissa (3,9), die Lobi (2,5), die Dagara (2,4), die Touareg (1,9), die Dioula (0,8) … ihre jeweils eigenen Sprachen. Französisch ist Amtssprache. Jedes Volk praktiziert eigene Traditionen und Bräuche und stützt sich in ihrer Kultur auf überlieferte Mythen und Sagengestalten, Hierarchien, Ordnungs- und Glaubensvorstellungen. Die Lebensbedingungen der Burkinabè waren bedingt und abhängig von den natürlichen Gegebenheiten und den Naturgewalten.
Als in der Neuzeit 1853 die ersten europäischen Forschungsreisenden die Gebiete des heutigen Burkina Faso erreichten, z.B. der Hamburger Afrikaforscher Heinrich Barth (1821-1865) – vergessen wird dabei immer der vermutlich erste neuzeitliche Hildesheimer Afrikaforscher Friedrich Konrad Hornemann> (1752 – 1801), der zwar vermutlich nicht direkt die Landschaften des heutigen Burkina Faso, aber die benachbarten Gebiete in der Sahel-Region erkundete – da öffneten sich die weiten Tore, die zur europäischen Kolonisation in Westafrika führten, und gleichzeitig zu diplomatischen und kriegerischen Auseinandersetzungen der Kolonialmächte um die Kolonialgebiete. „Die Weißen teilen die Beute“. Die französischen Kolonialherren regierten, unterstützt von den Missionaren das Land: „Wir besetzen das Land, aber wir verwalten es nicht“; diese Politik kennzeichnete die französische Kolonialherrschaft. Die Aufrechterhaltung der traditionellen, hierarchischen Strukturen unter der „Peitsche der Kolonisten“ bestimmte die koloniale Ordnung. Sie war selbstverständlich und wurde gerechtfertigt durch die eurozentrierten Höherwertigkeitsvorstellungen, wie sie z.B. der Missionar, Sprachforscher, Ordentlicher Professor der Berliner Humboldt-Universität, Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Leiter des International Africa Institute in London, Diedrich Westermann (1875 – 1956) zum Ausdruck brachte: „Das Geschick des Afrikaners ist für alle absehbare Zeit mit dem des Europäers aufs engste verbunden, ja es ist von ihm abhängig, er ist der Schüler und Arbeitnehmer, wir die Lehrer und Arbeitgeber, aber auch: wir sind die Herren und er der Untergebene“.
Wie in mehreren (west-)afrikanischen Ländern war die Zeit nach der Unabhängigkeit 1960 geprägt von Einparteien- und Militärherrschaft, die eher diktatorische denn demokratische Züge trugen und bestimmt waren von hegemonialen Einflüssen durch die ehemalige Kolonialmacht und die politischen Zustände in den Nachbarländern. Die von de Gaulle favorisierte Afrikapolitik, insbesondere gegenüber den eigenen Kolonien, war bestimmt von der Überzeugung: „Wir haben die Kolonisation in Kooperation verwandelt“, natürlich mit den französischen Interessen vorangestellt. Die Bemühungen, in Westafrika ein antikoloniales Bündnis zustande zu bringen, mit Côte d’Ivoire, Obervolta, Niger, Dahomey und Togo, scheiterten vor allem deshalb, weil die politischen Führer und ihre Einheitsparteien in den jeweiligen Ländern sich nicht auf die politischen Grundsätze einigen konnten, sollen sich die neuen afrikanischen Länder eher den Positionen des (kapitalistischen) Westens oder den (kommunistischen/sozialistischen) Ostens zuwenden. Im Gegensatz zu einigen anderen afrikanischen Ländern verfügt Burkina Faso nicht über nennenswerte Bodenschätze, außer Gold und Mangan in geringen Mengen. In der Landwirtschaft dominieren Baumwolle und Viehzucht. Immer wieder aber sind Burkinabè als Kunsthandwerker, Künstler und Musiker hervorgetreten. So hat sich Ouagadougou als „afrikanische Kinohauptstadt“ und als innovativer Treffpunkt für CineastInnen entwickelt.
Mit der von Thomas Sankara und seinen Gefolgsleuten begonnenen Revolution sollten all die Missstände, Abhängigkeiten, Nöte und Perspektivlosigkeiten im Land beseitigt, Hierarchien abgeschafft und eine „Moralisierung des öffentlichen Lebens“ geschaffen werden. Es sind Parolen, die an das „Wir sind das Volk“ erinnern, aber die mehrheitlich ländliche, konservative Bevölkerung kaum erreichten. Grenzstreitigkeiten und Kriegshandlungen mit dem Nachbarland in Mali, die Regierungsbeschlüsse, Einfuhrzölle einzuführen, die für die Landbevölkerung nicht spürbaren Veränderungen erhöhen die Unzufriedenheit im Land. Sankaras Revolution „scheitert nicht, sie versickert“. Sein Tod, die absolute Machtübernahme seines früheren Mitstreiters, Blaise Compaoré, und seine 27 Jahre dauernde, von Frankreich und den (weltmarkt-)ökonomischen Interessen gestützte Alleinherrschaft verändert im Land nichts Wesentliches. Die Präsidentschaftswahlen von 1991 und den folgenden verschafften der CDP (Congrès pour la démocratic et le progrès) die absolute Mehrheit im Parlament. Die rigorosen, undemokratischen Machtmethoden, die zu Verhaftungen von Kritikern der offiziellen Regierungspolitik führen und 1998 zur Ermordung des Journalisten und Herausgebers der Wochenzeitung „L’Intépendent“, Norbert Zongo, führen, Preissteigerungen der Grundnahrungsmittel, Korruption und Bereicherung bringen Unruhe in die Bevölkerung; oppositionelle Gruppierungen bilden sich, wie z.B. „Balai Citoyen“, der BürgerInnenbesen, und rufen zum Reinemachen und Hinauskehren der Machteliten auf. Volkes- oder Machtmacht? Nach der Absetzung von Blaise Compaoré und seine Flucht mit einem Konvoi von schwerbepackten Fahrzeugen in die Elfenbeinküste errang Roch Marc Christian Kaboré die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen 2015. Der ehemalige Vertraute und Minister des gestützten Präsidenten ist amtierender Staatspräsident. Mit der Gründung seiner neuen Partei, dem „Movement du peuple pour le progrès (MPP)“ sorgte er für das Instrument, weitgehend weiter als Alleinherrscher regieren zu können. Das „RSS—Regime“, wie Lanier die heutigen Mächtigen in Burkina Faso titelt (Roch – Salif – Simon), sorgt dafür, dass sich in Burkina Faso nichts ändert, was den globalen, kapitalistischen und neoliberalen Mächten Sorgen bereiten müsste.
Im Diskurs um Entwicklungshilfe, Entwicklungszusammenarbeit und globaler Gerechtigkeit wird immer wieder betont, dass die lokalen und globalen Perspektivenwechsel und Veränderungsprozesse in besonderer Weise von den Aktivitäten und der Emanzipation der Frauen bestimmt sein sollten. Besonders in Afrika seien es die Frauen, die Entwicklung bewirkten. Im zweiten Kapitel seiner Bestandsaufnahme über die gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Prozesse in Burkina Faso setzt sich Lanier mit der Situation der Frauen im Land auseinander. Bei den Protesten gegen die Machteliten waren es insbesondere die burkinischen Frauen, die mit großen Holzlöffeln und Besen auf die Straße gingen. „Wenn Burkina Faso bis heute überlebt hat, die Volkswirtschaft ebenso wie die einzelnen Haushalte, dann Dank seiner Frauen“.
Doch der Titel des zweiten Teils – „Die ewigen Fremden“ – signalisiert schon, dass in der Gesellschaft, der Mentalität und in den kulturellen Sitten und Bräuchen des Landes diese Leistungen eher nicht gewürdigt und anerkannt werden. Das beginnt schon damit, dass die Geburt eines Jungen in der Familie hochgelobt, eines Mädchens eher ertragen wird. Diese freilich nicht nur auf burkinische Verhältnisse anwendbare, sondern nach wie vor weltweit zu registrierende Situation der Benachteiligung, Geringschätzung und Unterordnung von Mädchen und Frauen, wirkt sich in vielen afrikanischen Ländern existentiell aus: „Armut ist weiblich“. Die burkinischen Armen leben auf überwiegend auf dem Land, in Großfamilien und in poygynen Verhältnissen. Die Mädchen- und Müttersterblichkeit ist erschreckend hoch. Gewalt gegen Kinder, Genitalverstümmelung (Exzision), Kinderheirat, Vielehe, Zwangsheirat, Verstoßen … werden trotz gesetzlicher Verbote nach wie vor selbstverständlich praktiziert: „Männer dürfen alles – Frauen dürfen nichts!“.
Fazit
Es ist keine Schimpfe, kein Fingerzeig, und es sind keine Katastrophenmeldungen, die der Autor aufzählt und belegt. Vielmehr wird deutlich: Die Analyse berücksichtigt, dass die beschriebenen Praktiken auf althergebrachten Bräuchen und Traditionen beruhen und keinesfalls nur burkinisch betrachtet werden dürfen; ebenso wie die in Burkina Faso auf dem Lande verbreitete Hexerei, die sowohl als gesellschaftlich akzeptiert und genutzt wird, als auch zu ausschließenden Hexereivorwürfen, -vertreibungen und -verbannungen führen. Sie nicht hinzunehmen und fatalistisch oder achselzuckend wahrzunehmen, sondern deutlich zu machen, dass und wie die Missstände behoben werden können, das steht im Mittelpunkt von Laniers Bericht. Es sind Bildung und Aufklärung von Kindesbeinen an, bis hin zu den familialen und lokalen Gemeinschaften, „wenn alle miteinander reden, ernsthaft ausgiebig und offen, und wenn sie dann … bereit sind, gemeinsam (zu) entscheiden, die Tradition aufzugeben“, und zwar die, die sie einengt, unwürdig und unterwürfig macht. Hier hilft, in Burkina Faso, anderswo in Afrika und überall auf der Welt, was in einer Gedichtstrophe aus Lateinamerika so lautet: „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“.
Günther Laniers deutlich emotional und engagiert verfasste Bestandsaufnahme der individuellen, gesellschaftlichen und politischen Situation im westafrikanischen Land Burkina Faso, das er als seinen „Lebensmittelpunkt“ bezeichnet, bietet die Chance, ein Bewusstsein zu empfinden dafür, dass jeder Mensch, wo er auch immer lebt und was er auch immer ist, tagtäglich die Verantwortung und Verpflichtung mit sich trägt, eine gerechte Eine Welt mit zu gestalten.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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