Lena Rosenkranz: Exzessive Nutzung von Onlinespielen im Jugendalter
Rezensiert von Prof. Dr. Franco Rau, M. A. Ann-Kathrin Steiner, 17.01.2020

Lena Rosenkranz: Exzessive Nutzung von Onlinespielen im Jugendalter. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 297 Seiten. ISBN 978-3-658-15359-5. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Thema
Die Studie von Lena Rosenkranz bietet einen empirisch fundierten Beitrag zur Diskussion über exzessives Computerspielen im Jugendalter aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Dieser Diskussionsbeitrag ist insbesondere deshalb relevant, weil Gaming Disorder bzw. Online-Spielsucht seit 2018 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der 11. Auflage der International Classification of Diseases (ICD-11) aufgenommen wurde. Während die WHO damit einerseits den Versuch unternimmt, standardisierte Diagnosekriterien für Symptome einer Computerspielsucht zu konkretisieren, stellen sich in der Praxis sozial- und medienpädagogischer Arbeit weiterhin vielfältige Fragen und Herausforderungen (z. B. Kohring, Poerschke und Pohlmann 2019). Im Kontext der zunehmenden Digitalisierung bzw. Mediatisierung vielfältiger Lebensbereiche und den damit neu entstandenen Unterhaltungsangeboten stehen beispielsweise nicht nur Jugendliche vor der Schwierigkeit ein angemessenes Verhältnis zu digitalen Medien zu entwickeln. Die Frage, inwiefern eine spezifische Mediennutzung dabei normal oder exzessiv ist, wird je nach Kontext durchaus kontrovers diskutiert.
An diesen Herausforderungen und Fragestellungen anknüpfend bietet die vorliegende Studie einen wissenschaftlichen Einblick in die familiäre Situation von exzessiv spielenden Jugendlichen. Auf Basis qualitativer Interviews mit männlichen Jugendlichen und ihren Müttern zeigt Rosenkranz die Problemwahrnehmung aus unterschiedlichen Perspektiven und bietet eine differenzierte Auseinandersetzung mit einem komplexen und vielschichtigen Phänomen.
AutorIn oder HerausgeberIn
Dr. Lena Rosenkranz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung an der FernUniversität in Hagen. Zuvor arbeitete sie übere mehrere Jahre an der Universität Hamburg im Forschungsprojekt „Exzessive Internetnutzung in Familien (EXIF)”. Zu ihren Forschungsinteressen gehören die Veränderungen von Lehr- und Lernsettings durch die Digitalisierung, das medienerzieherische Handeln in Familien sowie der Prozess der Computerspielsozialisation.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sechs Teile und elf Kapitel gegliedert. Der erste Teil „Einführende Gedanken“ umfasst das Kapitel „Problemaufriss und Zielsetzung der Arbeit“. Rosenkranz verortet die durchgeführte qualitative Studie als erziehungswissenschaftlichen Beitrag zur Diskussion des Phänomens suchtartiger bzw. exzessiver Computerspielnutzung. In Abgrenzung von klinischen und epidemiologischen Studien zur Diagnostizierbarkeit von Computerspielabhängigkeit geht es Rosenkranz darum, die Perspektive betroffener Jugendlicher und Eltern zu erfassen. Die zentrale Fragestellung der Studie lautet: „Welche Rolle spielen adoleszenztypische Veränderungen in der Eltern-Kind- Beziehung bei der Entstehung und dem Verlauf einer problematischen Onlinespiele-Nutzung?“ (S. 7).
Im zweiten Abschnitt „Der Forschungsgegenstand“ eröffnet Rosenkranz mit ihrem Kapitel „Problematische Onlinespiele-Nutzung?“ einen Einblick in den aktuellen Forschungsdiskurs. Es erfolgt eine Betrachtung der Computerspielenutzung von Jugendlichen sowie Anreize und Motive für die Nutzung dieser. Neben dem Unterhaltungsfaktor von Computerspielen werden auch entwicklungsbezogene Faktoren wie Identitätsbildung, Selbsterfahrung sowie soziale Austauschmöglichkeiten aufgezeigt. Rosenkranz skizziert weiterhin die englischsprachige Diskussion über „Internet Gaming Disorder“ und zeigt auf, inwiefern diese von unscharfen Begrifflichkeiten, fehlender standardisierter Diagnosekriterien und weiterem Forschungsbedarf geprägt ist. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass aus einer subjektorientierten Perspektive von Eltern und Jugendlichen weniger objektive Kriterien zur Einschätzung problematischer Computerspielnutzung relevant sind, sondern die jeweils subjektive Wahrnehmung der Beteiligten. Diese Perspektive ist relevant, weil Eltern durch ihre Medienerziehung, wie Rosenkranz skizziert, auf das problematische Nutzungsverhalten ihrer Kinder, positiv als auch negativ, wirken können.
Der dritte Teil „Theoretische und empirische Bezüge zu Jugend und Individuation“ umfasst die zwei Kapitel „Jugend aus psychologischer, pädagogischer und soziologischer Perspektive“ und „Individuation – Ein Zusammenspiel von Identitäts- und Beziehungsentwicklung“. Zur Auseinandersetzung mit der Lebensphase der Jugend werden das Konzept der Entwicklungsaufgabe und die Entwicklungsthemen diskutiert. Rosenkranz arbeitet heraus, dass Onlinespiele einerseits als Entwicklungshelfer dienen können. Andererseits kann das exzessive Computerspielen „aber auch als dysfunktionale Bewältigungsstrategie für bestimmte Entwicklungsthemen fungieren“ (S. 46). Im vierten Kapitel wird der Prozess der Individuation im Hinblick auf theoretische Konzepte sowie empirische Befunde dargelegt. Es wird sichtbar gemacht, dass dieser Prozess auf individuelles Erleben zurückführbar ist, doch auch das Verhalten von Eltern signifikanten Einfluss hierauf hat. Rosenkranz diskutiert das Spannungsfeld zwischen Autonomie und Verbundenheit in Eltern-Kind-Beziehungen, welche in dysfunktionale Muster wie übermäßiger Nähe oder übermäßige Distanz umschlagen können. Diese Muster werden als Untersuchungskriterium für Familien, in denen eine exzessive Mediennutzung herrscht, herangezogen.
Anknüpfend an die theoretische Hinführung, erfolgt im vierten Teil „Methodik“ eine Erläuterung des methodischen Vorgehens der Studie. In vier knappen Kapiteln gibt Rosenkranz einen Einblick in die grundlegenden Forschungsprinzipien der Grounded Theory und begründet ihr gewähltes Vorgehen. Das Sample bilden fünf Mütter und die jugendlichen Söhne, die in Form von episodischen Interviews befragt worden sind. Zur Einschätzung der Geltungsbegründung und Limitationen der Untersuchungsergebnisse diskutiert Rosenkranz relevante Gütekriterien und macht transparent, inwiefern diese eingehalten worden sind.
Anschließend erfolgt im fünften Teil die „Darstellung der Ergebnisse“ auf zwei Ebenen. Die erste Ergebnisebene umfasst ausführliche Falldarstellungen mit Beschreibungen der familiären Situation, der Problemwahrnehmung aus den unterschiedlichen Perspektiven sowie eine fallbezogene Konkretisierung der zentralen Kategorien „Autonomie”, „Verbundenheit” und „Verantwortung”. Die zweite Ergebnisebene umfasst eine integrative Analyse, um fallübergreifende Phänomene herauszuarbeiten. Rosenkranz verfolgt insbesondere das Ziel, „übergeordnete Strukturen zu benennen und das erklärende Potenzial der Individuation zur Entwicklung einer exzessiven Onlinespiele-Nutzung aufzuzeigen (S. 227). Dabei wird deutlich, dass problematische Computerspielnutzung nicht durch einzelne Faktoren erklärbar ist, „sondern erst unter Einbezug von persönlichen Dispositionen, sozialen Erlebnissen, inkorporierten Beziehungsstrukturen sowie phasentypischen Veränderungsprozessen zu verstehen ist.” (S. 227). Diese Aspekte werden unter der Kernkategorie „Individuation aushandeln” zusammengefasst und markieren ein zentrales Ergebnis.
Im letzten Teil erfolgt eine „Abschließende Betrachtung“ zur Diskussion und der Ergebnisse für unterschiedliche Diskurse: zur Theorie der Individuation, zum Diskurs über Internetabhängigkeit sowie zur aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskussionen zur Medienerziehung. Abschließend wird auf die Bedeutung der Ergebnisse für die Beratungspraxis verwiesen, welche Orientierungsmöglichkeiten für Familien mit Jugendlichen bieten, um mit problematischer Computerspielnutzung angemessen umgehen zu können.
Diskussion
Rosenkranz stellt sich dem Anspruch, einen erziehungswissenschaftlichen Beitrag zur Diskussion über Computer- und Internetsucht zu liefern, welcher zugleich Impulse für die medien- und sozialpädagogische Arbeit mit Familien eröffnen kann. Als Dissertation richtet sich das Buch vorwiegend an den wissenschaftlichen Diskurs. Gemessen an der formulierten Zielstellung kann die vorliegende Studie als gelungen betrachtet werden. Entgegen eindimensionaler Erklärungsmodelle gelingt es Rosenkranz mit Hilfe ausführliche Einzelfalldarstellungen und vergleichenden Analysen die komplexen familialen Bedingungen zu rekonstruieren, in denen Jugendliche in exzessiver Weise Computerspiele nutzen (bzw. nutzten). Wenngleich die Formatierung des Buches nicht durchgehend konsistent erscheint, bieten die inhaltlichen Ausführungen von Rosenkranz eine nachvollziehbare Möglichkeit, die beschriebenen Perspektiven der betroffenen männlichen Jugendlichen und ihrer Mütter verstehen zu können.
Die Betrachtung des Phänomens exzessiven Computerspielens „aus dem Blickwinkel des adoleszenztypischen Individuationsprozesses” (S. 259) bietet in diesem Zusammenhang eine theoretische Verortung und ein nachvollziehbares Strukturangebot. Über den Vergleich familienspezifischer Interaktionsmuster wird zudem herausgearbeitet, inwiefern Eltern ebenso wie die Jugendlichen am Verlauf einer exzessiven Computerspielnutzung beteiligt sind. Die formulierten Erkenntnisse bieten Orientierungsmöglichkeiten für die aktuelle Beratungspraxis in unterschiedlichen Institutionen.
Fazit
Das Buch „Exzessive Nutzung von Onlinespielen im Jugendalter” bietet als qualitative Studie einen differenzierten empirischen Einblick in das aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive bisher kaum untersuchte Forschungsfeld zum exzessiven Onlinespielen von männlichen Jugendlichen. Interessant erscheint das Buch insbesondere für LeserInnen, die sich für den wissenschaftlichen Diskurs zu den Themen Medienerziehung in der Familie, Computerspielsucht sowie der Theorie der Individuation interessieren. Lesenswert ist die Dissertation zudem für MedienpädagogInnen, Beratungsstellen und Eltern, die sich jenseits vereinfachter Erklärungsmodelle mit den komplexen Hintergründen einer exzessiven Nutzung von Onlinespielen im Jugendalter auseinandersetzen möchten.
Rezension von
Prof. Dr. Franco Rau
Professor für Mediendidaktik an der Universität Vechta
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M. A. Ann-Kathrin Steiner
Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Global Awareness Education an der Universität Tübingen
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