David Brehme: Normalitätskonzepte im Behinderungsdiskurs
Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger, 24.10.2018

David Brehme: Normalitätskonzepte im Behinderungsdiskurs. Eine qualitative Befragung inklusiv-beschulter Brandenburger Grundschulkinder. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2017. 139 Seiten. ISBN 978-3-658-16822-3. 44,99 EUR.
Thema
Am 11. März 2009 wurde auf SPIEGEL online ein Artikel von Theresa Münch und Karl-Heinz Rath veröffentlicht; unter dem Titel: „Das Ende der Sonderschule rückt näher“ stellten die beiden Autoren – mit Blick auf die von den Vereinten Nationen initiierten und verabschiedeten Übereinkunft über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – die Hypothese auf, dass das „Abschieben“ von Schülern mit Behinderung auf spezielle Förderschulen baldmöglichst beendet sein sollte (vgl. www.spiegel.de/).
Die aus der UN-Konvention konsequenterweise abzuleitende Vision einer „inklusiven Schule für alle“ sollte und soll demnach dazu beitragen, Schülerinnen und Schüler vor einer diskriminierenden Separation zu bewahren; mit einem Bildungsangebot, das unabhängig von individuellen und familiären Merkmalen ist, wird gemeinsames Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Handicap ermöglicht; dies schafft – so der Grundgedanke – adäquate Chancen für die gleichberechtigte, möglichst normale gesellschaftliche Teilhabe aller.
Knapp zehn Jahre nachdem die UN-Konvention für die Bundesrepublik nun verbindlich geworden ist, legt David Brehme eine empirische, kritisch-sozialpsychologische Befragung inklusiv-beschulter Brandenburger Grundschulkinder vor; mit seiner Untersuchung will der Verfasser – eben im Kontext der inklusiven Schule – zeigen, dass Behinderung und Normalität als wechselwirkende Konzepte untrennbar und auf vielfältige, widersprüchliche Weise miteinander verbunden sind.
Autor
David Brehme – so verrät es der Klappentext – studierte Psychologie in Groningen, Edinburgh und Potsdam; Schwerpunkte seiner Ausbildung liegen in den Bereichen kritische Psychologie, Sozialpsychologie und/oder qualitative Forschungsmethoden; neben der vorliegenden - 2016 an der Universität Potsdam vorgelegten – Masterthesis erforscht der Autor auch im Rahmen seiner aktuellen Promotion die Rolle und Funktion von Normalitätskonzepten an inklusiven Schulen; hierbei gilt sein Blick auch dem internationalen Vergleich an den Schnittstellen von Psychologie und Disability Studies.
Aufbau und Inhalt
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Nach einem knappen, einführenden Geleitwort von Prof. Dr. Nadine Spörer und einer persönlichen Danksagung skizziert der Verfasser in seiner Einleitung, die der Arbeit zugrundeliegende These, dass Behinderung nicht ohne ein Normalitätskonzept gedacht werden kann; ausgehend von dieser Perspektive soll dementsprechend empirisch erforscht werden, wie das Verhältnis von Behinderung und Normalität spezifisch im Kontext der inklusiven Schule / inklusiv beschulter Kinder wirkt und verstanden werden kann.
Die notwendige Definition der zentralen Begriffe Normalität und Behinderung erfolgt im 1. Kapitel zunächst – äußerst knapp – über das medizinisch-individuelle Modell von Behinderung, das primär statistische Methoden in den Mittelpunkt rückt und Behinderung anhand von „Normalverteilungen“ analysiert; das soziale Modell von Behinderung fokussiert demgegenüber stärker die gesellschaftlichen Komponenten im Kontext von Teilhabe und Ausgrenzung; im kulturellen Modell wird Behinderung schließlich als soziale Konstruktion deutlich.
Im Weiteren verdeutlicht der Autor Ziele und Stellenwert dieser Studie; da es – so David Brehme – im deutschsprachigen Raum kaum veröffentlichte Forschungsergebnisse dazu gibt, widmet er sich zunächst der Frage, wie im Alltag über Behinderung und Normalität gesprochen wird; dies wird im Folgenden auf die Fragestellung fokussiert, wie Kinder an inklusiven Schulen über Behinderung sprechen und welches Verhältnis von Behinderung und Normalität hier sprachlich re-produziert wird; zentral wird diese Untersuchung auch dadurch, dass es in dieser Arbeit nicht nur um akademischen Selbstzweck gehen soll; vielmehr besteht die politische Ambition, die „Hegemonie der Normalität zu bekämpfen, um die Beziehung zwischen Behinderung und Normalität neu denken zu können“ (S. 12 f.).
Als zentrale Forschungsfragen der Studie benennt der Verfasser:
- Wie wird (Nicht-)Behinderung diskursiv durch Normalisierungskonzepte hergestellt?
- Welche „Wahrheiten“ werden in Beschreibungen von Andersartigkeit in inklusiven Schulen konstruiert?
Das folgende Kapitel umfasst die Darstellung der Methoden der empirischen Untersuchung; deutlich gemacht wird die Stichprobe anhand der Rekrutierung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer; als Datengenerierungsmethode wurden sieben – etwa eine Schulstunde dauernde – Interviews in Kleingruppen mit jeweils zwei bis fünf Schulkindern gewählt; an genutzten Materialien werden in der vorliegenden Untersuchung ein Lehrkraftbogen und ein entsprechenden Interviewleitfaden genutzt (vgl. Anhang); die Datenauswertungsmethoden gliedern sich in drei – im Text auch erläuterte und begründete – Schritte: die Transkription der Tonaufzeichnungen, eine qualitative Inhaltsanalyse und abschließend die diskursanalytische Interpretation der für die vorliegenden Forschungsfragen relevanten Kategorien des induktiv erstellten Kategoriensystems; die Erläuterungen zur Studie schließen mit kompakten Überlegungen zu Frage, was gute qualitative Forschung – im Kontext von Reliabilität, Validität, Objektivität – ausmacht.
Auf den folgenden knapp 40 Seiten dokumentiert David Brehme die Ergebnisse seiner Untersuchung; beginnend mit einer kurzen Skizze des entstandenen komplexen Kategoriensystems von Behinderung und Normalität verdeutlicht die Analyse der Interviewtranskripte, dass Behinderung von den befragten Kindern vielfach als individuelle, negative konnotierte Abweichung von Normalität verstanden wird, Normalität beliebt zumeist aber implizit bzw. unbenannt (S. 49); Behinderung und Normalität werden als sich nicht überlappende Konzepte verstanden, wobei Normalität von den interviewten Kindern so in Stellung gebracht wird, dass es undenkbar ist, Behinderung als normal zu verstehen (S. 51); kurze Auszüge / Originalzitate sind als Belege für die gewonnene Erkenntnisse im Text eingebettet; es entstehen Abstufungen in der Bewertung von Behinderung wie „richtige“ Behinderung, „unbedeutende“ Behinderung oder die „Eigentlich nich“-Behinderung; das Konzept der Normalität lässt ähnliche Abstufungen zu; bezeichnend ist die formulierte, zusammenfassende Erkenntnis, dass Normalität von Menschen mit Behinderung als Sehnsuchtsort positioniert werden kann – ganz im Sinne einer Idealisierung des Lebens „normaler Menschen“ (S. 76).
Die Diskussion der Untersuchungsergebnisse beschließt die vorliegende Masterthesis; David Brehme skizziert einleitend noch einmal sein Untersuchungsinteresse – also die Untersuchung des Verhältnisses von Normalität und Behinderung und die daraus abgeleiteten / resultierenden explorativen Fragen ob Normalität eine explizite oder implizite Rolle in Aussagen von Kindern über Behinderung spielt; im Kern – so der Verfasser – wird gezeigt, wie innig verbunden sich Normalität und Behinderung auf diskursiver Ebene; es ist im Weiteren deutlich, das Normalität als ein viel wirkungsmächtiger Referenzpunkt für Behinderung verstanden werden kann / muss; schließlich erscheint es offensichtlich, dass ein zentraler Widerspruch im diskursiven Nexus von Behinderung und Normalität die ambivalente Konstruktion ihrer Grenzen ist (S. 80 ff.); neben den nachvollziehbaren Ausführungen zu den aus der Untersuchung abgeleiteten Rückschlüssen setzt sich der Autor auch mit den Limitierungen und Beschränkungen der Untersuchung auseinander (wie z.B. die Stichprobenauswahl oder die Datengenerierung); dies wiederum führt zu Empfehlungen für weiterführende Forschungen (wie beispielsweise die Idee, Normalität explizit zu thematisieren oder zukünftig verstärkt Menschen mit Behinderung zu befragen).
Der Text schließt mit einem Fazit zur Bedeutsamkeit der Arbeit und einer persönlichen Reflexion welche mit der formulierten Hoffnung des Autors für diese Untersuchung endet, selbst neue Perspektiven zu gewinnen und auf diesem Wege auch anderen neue Perspektiven auf Normalität und Behinderung zu eröffnen (S. 106); die Anhänge dokumentieren zentrale Dokumente wie z.B. das Anschreiben an die Eltern bzw. die teilnehmenden Kinder oder auch den genutzten Lehrkraftfragebogen.
Diskussion
Normalität und Behinderung sind Begriffe, die allzu oft und allzu schnell miteinander verknüpft werden und oftmals zu selbstverständlich, nicht trennscharf genug und/oder gerade dadurch möglicherweise auch (ab-)wertend genutzt werden; nicht selten passiert dies so sowohl Lehrenden, Forschenden wie auch professionellen Fachkräften im Kontext der Arbeit mit Menschen mit Behinderung; es ist sicherlich notwendig und zielführend, sich mit den in dieser Masterthesis aufgeworfenen Fragestellungen intensiver zu befassen, um den fachlichen Diskurs anzustoßen / zu verändern.
Dass sich David Brehme hier auf den Weg gemacht hat ist mutig, innovativ und sicherlich (auch) ein Grund dafür, dass seine Untersuchung in die Publikationsreihe BestMasters aufgenommen wurde; gerade hinsichtlich der theoretischen Fundierungen und vielleicht sogar im Bereich der ganz handlungspraktischen Perspektiven für z.B. Lehrerinnen und Lehrern in inklusiven Schulen ist dem Text der Charakter einer Abschlussarbeit doch anzumerken; hier wäre es doch wünschenswert, die Masterthesis entsprechend zu editieren und die reine Grundlagenforschung zu erweitern.
Fazit
Mit der vorliegenden Untersuchung zu Normalitätskonzepten in Behinderungsdiskurs widmet sich der Verfasser in der Tat einer bislang wenig beachteten Fragestellung im Bereich psychologischer Forschung; es werden Themen berührt und Fragestellungen untersucht, die sicherlich forschend und auf einer Handlungsebene weiterverfolgt werden müssen; ob die vorliegende Analyse tatsächlich das Potenzial hat, gesellschaftliche Veränderungen voranzubringen – wie es David Brehme in seinem Fazit doch etwas kühn formuliert (S. 104) – das werden sicherlich erst weiterführende Auseinandersetzungen mit Normalitätskonzepten im Kontext von Behinderung zeigen; der vorliegende Text allein bleibt hier an vielen Stellen doch noch recht knapp; nicht zuletzt der vergleichsweise hohe Preis des vorliegenden Textes begrenzt den Kreis der möglichen Leserinnen und Leser auf den Bereich grundlegend Forschender und Lehrender.
Literatur
www.spiegel.de/ (Datum des Zugriffs: 30.09.2018)
Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger
Diplom-Sozialpädagoge (FH)
Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Hochschule Coburg, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, u.a. in tätig in den Lehrgebieten: Sozialmanagement / Organisationslehre / Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit / Praxisanleitung und Soziale Arbeit für Menschen mit Behinderung.
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