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Merlin Wolf: Paulo Freire und die Kritische Theorie

Rezensiert von Arnold Schmieder, 16.08.2018

Cover Merlin Wolf: Paulo Freire und die Kritische Theorie ISBN 978-3-9817199-3-2

Merlin Wolf: Paulo Freire und die Kritische Theorie. Econotion Verlag (Heidelberg) 2017. 300 Seiten. ISBN 978-3-9817199-3-2. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thema

Das „Ideal“ des Ziels, „dass die erziehende Person sich überflüssig macht und die erzogene Person ihre Unmündigkeit ablegt“, sei in den „meisten modernen Erziehungstheorien (…) die vollständige Mündigkeit oder die Autonomie“, wobei der Autor den Hinweis einflicht, dass die „Geschichte der Pädagogik (…) eine Geschichte der Gewalt“ ist. Sowohl Inhalte wie Methoden der Pädagogik bedurften und bedürfen der Kritik; das hätten sowohl die Kritische Theorie als auch Paulo Freire erkannt, was Merlin Wolf äußerst ausführlich darlegt und dabei Unterschiede und Affinitäten herausarbeitet.

Freires pädagogisches Programm wurde bekanntlich von Theorie in Praxis übersetzt, vor allem in Brasilien und später in Chile. Der Autor stellt gleich eingangs in der Einleitung die Frage, ob „Freires Pädagogik der Befreiung den Anforderungen, die die Kritische Theorie der Gesellschaft an eine kritische Pädagogik stellt, gerecht werden“ kann, weshalb er in der Folge akribisch untersucht, „inwieweit Konsens und Dissens zwischen den Annahmen der Kritischen Theorie in den sozialen Kategorien besteht“, wobei zu beachten sei, dass anders als in der Kritischen Theorie Freires „Fixpunkt“ hinsichtlich der Erziehungsaufgaben nicht die „Nazibarbarei“ gewesen ist. Bereits an dieser Stelle erfolgt der Hinweis, dass die theoretischen Differenzen der „Frankfurter Schule“ resp. der eben nicht als einheitlich zu betrachtenden Kritischen Theorie nicht unterschlagen werden dürfen, die besonders auch darum zu untersuchen seien, „weil Freires Bezugnahmen sich auf Fromm und Marcuse“ konzentrieren. (S. 9 ff.)

Aufbau

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalt

Nach seiner ausführlicheren Einleitung geht der Verfasser auf das Institut für Sozialforschung ein, weist theoretische Hintergründe und Bezüge der so genannten Frankfurter Schule aus, geht auf die Vertreter und ihre unterschiedlichen Schwerpunkte ein, unterschlägt auch nicht Spannungen und Auseinandersetzungen etwa bis zur Stürmung des Instituts 1969, in dessen Folge Adorno genötigt war, vor Gericht gegen seinen prominenten Schüler Hans-Jürgen Krahl auszusagen, was Adorno schwer zugesetzt hatte. Er verweist auch darauf, dass Horkheimer seinen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie, Jürgen Habermas, für ein „Sicherheitsrisiko“ am Institut hielt. (S. 35)

Im Anschluss werden ideengeschichtliche Bezüge der Kritischen Theorie skizziert, um zu zeigen, auf welchem Hintergrund und mit welchen Argumenten für die Frankfurter „jede soziologische Fragestellung die gesamtgesellschaftliche Totalität“ voraussetzt und warum die „Gesellschaft vom Standpunkt ihrer möglichen Emanzipation zu begreifen“ ist. (S. 42)

Anschließend wird Paulo Freire vorgestellt: „Katholischer Marxist, radikaler Aufklärer, gefeierter Pädagoge“ (S. 43) – gefeiert wohl auch darum, weil gegenseitiger Respekt und gemeinsamer Dialog die Säulen seiner Pädagogik waren (woran anzuschließen war und ist). Bevor er Berater für Bildungsfragen in Entwicklungsländern des ökumenischen Weltkirchenrates wurde, hatte er sich erklärt: „Meine Sache ist die Sache der Armen dieser Erde. Sie sollen wissen, dass ich mich für die Revolution entschieden habe“; auch deshalb „ging ich also zu Marx, und (…) sah überhaupt keinen Grund, weshalb ich mich nicht weiter mit Christus treffen sollte.“ (zit. S. 48 f.) Seine ideengeschichtlichen Bezüge waren weit gespannt: Er beschäftigte sich, angeregt durch vor allem die Frühschriften von Marx, mit Hegel, aber auch Gramsci, Lenin, Guevara und auch Mao. Außerdem soll es Bezüge zu Kosíks Dialektik des Konkreten geben und er wurde methodisch wohl von Lévi-Strauss beeinflusst. Mit Illich arbeitete er eng zusammen und beide standen der Befreiungstheologie nahe. Er selbst bezeichnete sich als „Eklektiker“. (S. 52) Wolf hält fest, „dass sich Freires Vorstellungen im Kontext verschiedenster theoretischer Einflüsse aus der Praxis entwickelten“ und für die „weitere Analyse (…) insbesondere die Verweise auf Karl Marx, Erich Fromm und Herbert Marcuse aufschlussreich sein“ werden. (S. 56)

Die beiden folgenden Kapitel sind sehr ausführlich und ebenso kritisch wie informativ angelegt; dabei geht es laut Titeln um zum einen empirische Sozialforschung und zum anderen theoretische Kategorien. Wolf beginnt mit Comte, der mit seinem Positivismus „unwillentlich eine darauf basierende Utopie verwalteter Welt“ entworfen habe, referiert Webers „Wertfreiheitspostulat“, der schon erkannt habe, dass Wissenschaft eben nicht wertfrei, „sondern von Interessen motiviert und gesteuert“ sei (S. 58 f.), um darüber in der Folge (u.a. auch) auf das Wissenschaftsverständnis der Kritischen Theorie zu kommen (insb. Horkheimer, Adorno). Er weist zunächst darauf hin, dass „Dialektik“ schon bei Platon als „Kritik bewußtloser Voraussetzungen“ (Stapelfeldt) gefasst sei und plausibilisiert den Ansatz der „Dialektischen Sozialforschung“ seitens der Kritischen Theorie (S. 75), um danach auf deren empirischen Forschungen wesentlich zum autoritären Charakter einzugehen, wobei sich in dem Wort von Horkheimer eine (an dieser Stelle nicht eigens hervorgehobene) Affinität zu Freire auftut: „Die heute vorherrschenden Menschentypen sind nicht dazu erzogen, den Dingen auf den Grund zu gehen, und nehmen die Erscheinung für das Wesen.“ (zit. S. 91)

Freire lieh auch bei der ethnographischen Forschung an, machte für sich die von Malinowski bereits hervorgekehrten Desiderate an Beobachtung fruchtbar, wonach sie als in der „Auseinandersetzung mit der Kultur“ gewonnene „wesentlich wertvoller“ wären „als die bloße Befragung von außen, da die Forschenden so selbst die Binnenperspektive gewinnen könnten.“ (S. 102) Freire ging mit seiner „Aktionsforschung“ weiter, er wollte, dass „auch das scheinbar selbstverständlich Eigene erforscht wird“ und „das Untersuchungsobjekt selbst zum Forschungssubjekt wird“, womit er statt teilnehmender Beobachter „dialogische Teilnehmer“ forderte. (S. 106)

Das Für und Wider der Diskussionen in Pädagogik und Soziologie um Aktionsforschung stellt Wolf dar und hält Freire zugute, er habe „nur die Selbstreflexion und das sich selbst entdecken lernen im Dialog“ favorisiert, worin die „einzige Weisheit“ bestünde: „Freires Aktionsforschung steht damit ganz in der Tradition, die Sokrates eröffnet hat.“ (S. 111) Dazu passe Freires Forderung nach einer historischen und kulturellen Psychoanalyse, deren Ziel er bestimmte: „Wir müssen die Menschen dazu bewegen, sich vor sich selber zu enthüllen, indem wir die Wirklichkeit enthüllen, in der sie sich befinden.“ (zit. S. 115)

Mit „Marxistische(n) Grundlagen: das revolutionäre Subjekt“ beginnt das Kapitel über „theoretische Kategorien“, was der Autor bis zu „Weiterführende(n) Kategorien in Freires Gesellschaftsanalyse“ spannt. Auch hier stellt er (unter den Bezugnahmen auf Marx und den Marxismus) die Kritische Theorie resp. die verschiedenen Argumentationsfiguren ihrer Vertreter vor und lotet sie eben auch zur Seite ihrer Differenzen aus, gleich eingangs vor allem in Bezug auf Pollock (Staatskapitalismus-These), Benjamin (der den historischen Materialismus als „Schachtürken“ bezeichnete), Fromm (der einen „ökonomisch rationalisierten deterministischen Materialismus“ ablehnte), Adorno (nach dem sich die reale Bedeutung von Klassen verändert habe, „weil die Unterdrückten, nach der Voraussage der Theorie die übergroße Mehrheit der Menschen, sich nicht als Klasse erfahren können“) und schließlich Marcuse mit seiner Aussicht auf eine „große Weigerung“, der meinte, unter der „konservativen Volksbasis“ befände sich das „Substrat der Geächteten und Außenseiter“, deren Opposition das „System von außen“ träfe und „deshalb nicht durch das System abgelenkt“ würde. (zit. S. 119 ff.) Auch nach Horkheimer sei die „bloße gesellschaftliche Stellung des Proletariats (…) kein Garant für Vernunfterkenntnis.“ (S. 121) Freire, um diese Diskussionen wissend und vertraut mit linken Klassikern, habe Marcuses Gedanken von Gegenkultur und Gegengewalt aufgenommen, habe jedoch zunächst auf „eine revolutionäre Avantgarde“ gesetzt, „die die Gemeinschaft mit dem Volk nicht verlieren“ dürfe. Später sei es ihm um „Demokratisierung“ gegangen und statt von „revolutionären Anführern“ habe er von „fortschrittlichen Erzieherinnen“ gesprochen. (S. 123 f.) In seinem – ebenfalls in Bezug auf Marx und die Kritische Theorie höchst kenntnisreich vorgetragenen – Unterkapitel über „Anthropologie“ hebt Wolf die Überzeugung Freires über das Bildungs- und Selbstbildungsvermögen des Menschen hervor; die „zentrale Idee der befreienden Pädagogik“, schrieb Freire, „ist, daß der Mensch seine Bestimmung als Subjekt verwirklicht.“ (zit. S. 133)

Verwirklichung nötigt Praxis ab; damit beschäftigt sich der Autor im Unterkapitel „Theorie und Praxis“ und zitiert Marx/Engels: „Ideen können überhaupt nichts ausführen. Zum Ausführen der Ideen bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten.“ (zit. S. 137) Freire war vom Theorie-Praxis-Verständnis des jungen Marx beeinflusst, wobei sein Augenmerk selbstredend mehr auf soziale Praxis gerichtet war, wobei ihm – mit Marcuse – klar war, dass ein Begreifen der Welt, wie sie ist, somit Erklärung unverzichtbar macht, was auch Adorno betonte, „daß die vernünftige Analyse der Situation die Voraussetzung zumindest von politischer Praxis ist“. (zit. ebd.) Allerdings ist er skeptisch gegenüber der von ihm vermuteten Marxschen Vorstellung, „daß die Philosophen nichts besseres tun können als einpacken und Revolutionäre werden, also auf die Barrikaden steigen“. (Adorno, zit. ebd.)

Freire wollte das – dialektisch – verzahnen, was aus seinem Verständnis von Dialog erhellt; „Aktion und Reflexion sind die Bedingung der kritischen Auseinandersetzung mit der Welt“ (S. 138) – und weiter Freire: „Wer richtig denkt, weiß bis zum Überdruss, dass Worte, denen die beispielhafte Umsetzung fehlt, wenig oder nahezu nichts wert sind. Richtiges Denken heißt, richtig zu handeln.“ (zit. S. 139) Dass und wie hier theoretische Probleme auch für die Kritische Theorie aufgeworfen sind, dokumentiert Wolf mit Lucács' Aufsatz Grand Hotel Abgrund, in dem er „den Vertretern der Kritischen Theorie“ vorwirft, „das Elend der Welt von der Terrasse eines Grand Hotels zu betrachten“ (wogegen der Autor die Kritische Theorie verteidigt, gleichzeitig Adornos kritische Einschätzung der Praxis der 68er Studentenbewegung diskutiert). (S. 140) Dass das „Denken selber (…) auch eine Form von Praxis“ ist (Adorno), dass „Theorie (…) nur dort im eigentlichen Sinne Theorie (ist), wo sie der Praxis dient“ (Horkheimer), darüber geht Marcuse hinaus, der Adornos Auffassung, die wie gegebene Wirklichkeit lasse keine Praxis mehr zu und der sie gleichsam vertagen wolle, nicht teilt; für Marcuse war Theorie nie „so nötig wie heute. Heute mehr als jemals zuvor kann es keine revolutionäre Praxis geben ohne die Theorie, die diese Praxis anleitet.“ (zit. S. 143 ff.)

Im Anschluss setzt sich Wolf mit den Marxschen Begriffen „Entfremdung, Verdinglichung und Fetisch“ und ihrer Aufnahme in der Kritischen Theorie auseinander. In Bezug auf Freire leitet er darauf hin, dass dessen Begriff der Entfremdung in der „gleichen Theoriegeschichte (steht), er unterscheidet sich aber vom frühmarxistischen Gebrauch genauso deutlich wie vom Entfremdungsbegriff Adornos oder Marcuses.“ (S. 157) Fast „beliebig“ sei Freires Entfremdungsbegriff und erschwere daher eine Definition; er habe etwas Unbewusstes und daher schwer zu entdeckendes gemeint, „denn“, so Freire, „wir haben die Tendenz, vor dieser Art Wissen zu fliehen“ und vor allem, dass die „Unterdrückten um jeden Preis dem Unterdrücker gleichen (wollen), sie möchten ihn imitieren, möchten ihm nachfolgen.“ (zit. S. 157 ff.) Demgegenüber laute die „radikale Forderung Paulo Freires an die Unterdrückten, aber auch an die intervenierende Pädagogik, die dies unterstützt, (…) die Menschlichkeit wiederzugewinnen, aufzuhören sich gegenseitig als Objekte zu begreifen und als Menschen für ihre Würde zu kämpfen.“ (S. 162)

Den Entfremdungsbegriff bezieht Freire auch auf Bildung: „Entfremdete Bildung (…) ist Halbbildung. (…) Es fehlt dieser Bildung derjenige Teil, der es ermöglicht, Einsicht in die Gesamtheit der Vorgänge zu gewinnen, um diese kritisieren und überwinden zu können.“ (S. 164) Wolf legt die Elle von Adornos Bestimmung von „Halbbildung“ an, um abschließend zu problematisieren, ob vielleicht Bildung „ohne einen vorherigen Kenntnisstand der halbierten Bildung gar nicht möglich“ ist. (S. 168) Hauptsächlich um zu klären, „wie die Gesellschaft trotz ihrer Widersprüche in ihrer Totalität bestehen kann“ (was eben nicht nur Halbbildung besorgt), entfaltet der Autor „Psychologische Annahmen“ bei Adorno, Horkheimer und Fromm, wobei es wesentlich um „Autonomie“ geht und darum, ob sich „durch das was nicht ist, zeigt (…), was sein sollte.“ (S. 169) Insofern habe die Kritische Theorie der Psychoanalyse eine gesellschaftstheoretische Bedeutung zugemessen, was auch in Adornos Bemerkung zum Wahlverhalten zu Beginn des Nationalsozialismus aufscheine, der autoritäre Charakter gehe „gar nicht so sehr mit politisch-ökonomischen Kriterien zusammen“. (zit. S. 171) Freire, der sich hauptsächlich auf Fromm bezogen habe, habe diesbezüglich „lieblose Familienverhältnisse und Erziehungsstile“ in den Blick genommen, „die von einem Klima der Unterdrückung geprägt sind.“ (S. 173) Dort auch verortet er die „‚Kultur des Schweigens‘ der lateinamerikanischen Bevölkerung“, die „immer schon eine Folge der Unterdrückung“ gewesen sei. (zit. S. 183)

Schließlich kommt Wolf auf die „Notwendigkeit pädagogischer Intervention“, wo er in Unterkapiteln (u.a.) auf die Frage zu sprechen kommt, ob es eine kritische Pädagogik gibt, weiter die Grundlagen von Freires Pädagogik darstellt und erörtert, um schließlich zu „Weiterentwicklung und Auswertung“ zu kommen, wo er nochmals betont, dass „Freires eklektischer Ansatz (…) verschiedenste Auslegungen“ ermöglicht (S. 251) und er wie Gramsci „pädagogische Veränderungen nicht auf die Zeit nach der sozialen Revolution verschieben“ wollte, „sondern bei ihnen geht die kulturelle Aktion der Revolution voraus. Letzten Endes geht es beiden um eine Kulturrevolution.“ (S. 253)

Als Aufgabe kritischer Pädagogik – und neben Marx und Kritischer Theorie ist hier seine Referenz auch Negt – bestimmt er, auf den Bruch mit der Gesellschaft hinzuarbeiten, mit dem Ziel der „selbständigen Mündigkeit des Individuums“, was aber mündige Individuen voraussetze, weshalb „der Erzieher die Aufgabe“ habe, „sich selbst überflüssig zu machen“ und selbst erzogen sein soll (was übrigens nicht erst Marx zu entnehmen ist, sondern bereits bei Kant zu finden). (S. 194 f.) Zur „biographischen Selbstreflexion“ ist anzuleiten und dabei ist zu gewärtigen, dass kritische Pädagogik auch „auf bewussten Widerstand der Subjekte selbst“ stößt. (S. 199) Bereits Klafki hatte 1976 (und vorher in seinen Lehrveranstaltungen) betont, „Erziehungswissenschaft im Sinne kritischer Theorie“ müsse „notwendig zur permanenten Gesellschaftskritik werden oder sich mit Gesellschaftskritik verbünden“ (zit. S. 205) – vergleichbar vor allem Blankertz und Mollenhauer. Solche Ansätze hätten inzwischen an Bedeutung verloren und durch den Diskursansatz von Habermas wäre der Pädagogik plötzlich alles möglich erschienen, „so lange bei den Menschen nur die Kommunikationsfähigkeit gestärkt würde.“ Zu erinnern sei kritische Pädagogik an das, was sich auch bei Freire finde, dass sie nicht „anpassend oder konservierend erziehen darf, sondern auf einen gesellschaftlichen Bruch hinarbeiten muss.“ Das sei inkompatibel mit dem, was Freire das „Bankiers-Konzept“ nannte, nämlich das „Konzept der positivistischen Erziehungsmethoden“ (S. 208 ff.), wobei sich aus dem „Antagonismus zur Bankiers-Erziehung“ die „Grundlagen seiner Pädagogik“ ergäben, wesentlich dabei, dass „Lehren und Lernen (…) keine Dichotomie, sondern eine Synthese“ bilden. (S. 216 f.)

Danach stellt der Autor die „Alphabetisierung“ im Sinne von Freire vor, wobei es nicht nur auf das „Lesen des Wortes“ ankommt, sondern (dabei und dadurch) auf das „Lesen der Welt“ (zit. S. 220), wobei eben auch (methodisches) Ziel „die Lokalisierung der Widersprüche“ ist, „die sich in Bezug auf die gesellschaftliche Totalität finden lassen.“ (S. 241) Wolf unterschlägt nicht, dass es auch andere „Interpretationsmöglichkeiten Freires“ gibt, wobei er auch darauf hinweist, dass Negt direkt auf Freires Pädagogik der Befreiung verwiesen habe, „die sich in veränderter Gestalt auch für seine Arbeiterbildung eignen würde“ (was auf 1968 datiert). (S. 256) Als „Grundproblem“ sieht Wolf: „Freire gibt entweder das Wissen vor oder er glaubt an die Erkenntnisfähigkeit der Unterdrückten. Freires solidarische Pädagogik kaut entweder vor oder setzt auf das Erkenntnispotenzial. Es stellt sich die Frage ob Freire die aufklärende Wirkung seines Bildungsprogramms nicht überschätzt.“ (S. 269) Darauf gibt Freire – indirekt – eine Antwort, und zwar in Bezug auf Forderungen nach höherem Lohn: „Die Lösung liegt in der Synthese: die Führer müssen sich einerseits mit der Forderung des Volkes nach höherem Lohn identifizieren, während sie auf der anderen Seite den Sinn eben dieser Forderung als Problem formulieren müssen.“ (zit. S. 270)

In seinem abschließenden (würdigenden) Ausblick testiert der Autor Freire: Er lehne den Positivismus ab und entwickele eine dialektische Forschung; er beziehe sich auf den Menschen als „‚Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse‘ und auf das Unbewusste, das psychoanalytisch und durch die politische Ökonomie bedingt ist“; Erziehung gemeinhin erkenne er als systemstabilisierende Gewalt und hält dialektische Erziehung zur Autonomie dagegen. Ob mangelnder Ökonomiekritik ignoriere er den Fetischcharakter der Ware nach Marx, was zu Mängeln in der Ideologiekritik geführt habe und ihm dabei Herrschaft „vereinfachend als invasive(r) Akt von Personen gegenüber Personen“ erscheine. Auch glaube er, da es im Interesse der Unterdrückten liegen müsse, „dass die Bewusstmachung dieser Unterdrückung die Unterdrückten zum revolutionären Subjekt macht.“ (S. 272) Seiner Untersuchung sei zu entnehmen, was mit Freire nicht erklärt werden konnte und in der bisherigen Forschung nicht diskutiert wurde, „warum Freires Pädagogik der Befreiung in ihrer bisherigen Anwendung keine kritische pädagogische Intervention gegen Antisemitismus oder beispielsweise auch gegen Antiziganismus darstellt.“ Auch darum stünde an, und zwar ganz im Sinne Freires hinsichtlich sich stellender Herausforderungen, gegenstandsbezogene neue Methoden zu entwickeln, weil einfache Übertragungen an der Sache vorbeigehen könnten: „Letzten Endes bleibt aber die eine Gefahr antiautoritärer Pädagogik bestehen. Sie ist ihr wesentlich. Wenn Pädagogik auf Richtungsangaben verzichtet, droht den Teilnehmenden sich zu verirren. Das gilt auch für die problemformulierende Methode.“ Doch hebt Wolf hervor: „Freires Versuch einer dialektischen Aufhebung der Widersprüche von Anleitung und Befreiung kann diese Gefahr verringern“. (S. 275 f.)

Diskussion

Dieses Buch von Merlin Wolf irritiert – allerdings nur bei einer ersten Kenntnisnahme, wenn man glaubt annehmen zu dürfen, er kreise hauptsächlich um die ‚Freire-Pädagogik‘, auf die er in der Tat immer wieder zu sprechen kommt. Bei dann systematischer Lektüre stellt sich schnell heraus, dass der Titel, wie es ja auch sein soll, beim Wort zu nehmen ist: „Paulo Freire und die Kritische Theorie“. Dabei erscheint die Kritische Theorie gleichsam als Elle, die der Autor an Freires Pädagogik und in der Folge an kritische Pädagogik anlegt, ohne sie in toto zu verwerfen da, wo sie sich von den Analysen der Kritischen Theorie entfernen. Im Subtext, dann allerdings deutlich, macht er auf ein Problem emanzipatorischer Politik aufmerksam, hier auf pädagogische Intervention bezogen, die „Einheit von Theorie und Praxis, die (…) zu einer kruden Praxis (wird), ohne dass eine echte Theorie dahinterstände.“ (Horkheimer, der dies auf den Anti-Amerikanismus der 68er Studentenbewegung bezog.)

Auch in Bezug auf Freire wird dieser Problemhorizont eröffnet: Robert Musil sprach davon, dass es, wo es „Wirklichkeitssinn“ gäbe, auch „Möglichkeitssinn“ geben müsse. ‚Wirklichkeit‘ ist bekanntlich nicht mit ‚Wesen‘ identisch, und wo auch über ‚Kritik‘, die nicht zum ‚Wesen‘ vordringt, aufgeklärt wird, bleibt ‚Möglichkeit‘ im Entwurf an ‚Wirklichkeit‘ kleben. Für emanzipatorische Politik stellt sich dieses Problem – vielleicht nur cum grano salis – analog nach wie vor; bereits Hans-Jürgen Krahl (Schüler Adornos, der 1969 zusammen mit dem späteren Sucht- und Sexualforscher Günter Amendt und dem späteren Verleger K.-D. Wolff, der als führender Kopf des SDS galt, wegen Aufruhrs und Landfriedensbruch als Rädelsführer vor Gericht stand), hatte zu jener Zeit geschrieben: „In der Aktionsgeschichte der neuen Linken haben sich die bürgerlichen Antinomien des antiautoritären Bewusstseins zur kleinbürgerlichen Klassenschranke ihres politischen Erkenntnisvermögens verfestigt.“ Zwei „geschichtliche Bezugsmomente“ lieferten die Erklärung für diesen „kleinbürgerlichen Stagnationsprozess der Protestbewegung: die Emanzipation von der funktionalistisch zerschlissenen bildungsbürgerlichen Liberalität einerseits und der fehlende Hintergrund einer existierenden proletarischen Organisation.“ – Die LeserInnen des Buches, sofern in diese Richtung angeregt, mögen entscheiden (und ggf. diskutieren), inwieweit Krahls Worte, der selbst praktisch politisch im linken Protest aktiv war, heute nachhallen.

Wolf erweist sich als brillanter Kenner der Kritischen Theorie und der Schriften ihrer Vertreter, die Stefan Müller-Doohm ganz richtig „eine Ansammlung ganz eigensinniger Köpfe“ nannte (und ihnen auch Habermas zurechnet, was Wolf weit differenzierter sieht und in der Weise nicht tut). So kann er auch die unterschiedlichen Positionen zwischen Adorno und Horkheimer auf der einen und nicht auf einer ganz anderen Seite Marcuse und Fromm deutlich und immer belegt herausarbeiten – und schließlich auf das Thema der Pädagogik von Freire beziehen, wobei auch immer wieder die Kritik der Politischen Ökonomie von Marx herangezogen wird, nicht nur das ‚Kapital‘, sondern auch die ‚Frühschriften‘. Manchmal nur in kritischen Anmerkungen oder Nebensätzen rückt er die inzwischen vielen einseitigen (z.B. sog. Neue Marxlektüre), verwässerten bis interessiert umdeutenden Marx-Interpretationen und ebenso die der Kritischen Theorie bis in die Niederungen ihrer Verballhornungen ‚gerade‘ (soweit Marx und die Kritische Theorie nicht im Mainstream des akademischen Betriebs gänzlich oder zumindest versuchsweise totgeschwiegen werden). Gerade durch seine intime Kennerschaft des Marxismus und der Kritischen Theorie, die bei solider Wiedergabe eben viel Raum beansprucht, vermag er zur kritisch-würdigenden Aufnahme der Werke und der praktischen Arbeit von Freire gelangen und eröffnet das Fundament für eine Diskussion, die er ganz wesentlich vorantreibt, die anschlussfähig ist, die – nach wie vor – geführt werden muss, weil ihre Aktualität ungebrochen ist.

Wolf exkulpiert Freire über seine „naives Verständnis von Herrschaft“ dafür, dass u.a. dadurch seine „pädagogische Arbeit gegen antisemitisches Denken“ nicht Teil seines „Programms“ gewesen sei. Er hält die „erste Forderung der Kritischen Theorie“ dagegen, „zu verhindern, dass etwas wie Auschwitz jemals wieder geschehe beziehungsweise zugelassen wird.“ (S. 272) Man möchte Freire zugutehalten, was der Autor selbst anregt, dass nächst des Umstandes, dass Pädagogik ‚praktisch‘ angelegt ist, die sozioökonomische, historische und politische Situation im Brasilien der 60er Jahre eine andere war; Brasilien war „zwar formal eine parlamentarische Demokratie, das Wahlrecht war aber an die Fähigkeit des Lesens und Schreibens gebunden. Von 34,5 Millionen Einwohnerinnen waren daher nur 15,5 Millionen wahlberechtigt. Es gab 16 Millionen Analphabetinnen, die älter als dreizehn Jahre waren. Sie hatten nicht einmal indirekt oder passiv die Möglichkeit politisch zu partizipieren. Sie gehörten damit formal juristisch zu einer Bevölkerungsgruppe, deren Kultur Freire als Kultur des Schweigens bezeichnet.“ (S. 219 f.)

Nicht umsonst macht Wolf darauf aufmerksam; zum einen zeigt es, warum Freires ‚Alphabetisierung‘ eine enorme politisch-praktische Bedeutung zukam, eben auch in der Form und mit den Inhalten, wie er sie konzipierte, allerdings auch ein wenig blauäugig in der Hoffnung, wie Wolf herausarbeitet, damit ‚revolutionäre Subjekte‘ auf den Weg zu bringen. Doch darin scheinen sattsam bekannte, verallgemeinerbare Probleme politischer-emanzipatorischer Agitation auf. Auch mögen LeserInnen daran denken, wie weltweit jene „Kultur des Schweigens“, im günstigen Fall eine ‚Kultur des beredten Schweigens‘ heute verbreitet ist (und ggf. ein Stachel im Fleisch verzweigter klassentheoretischer Positionen und entsprechender Diskussionen). Zum anderen mag man darauf aufmerksam werden, dass die ‚Erziehungsproblematik‘ in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft schon lange virulent ist und nicht erst durch Marx in ihrer Integrationsfunktion erst einmal durch den „stumme(n) Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ thematisiert. Bereits Kant (s.o.) vermerkte in seiner Pädagogik: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“ Dass es auch schlechte Erzieher gibt, die gegenüber der „Bestimmung“ des Menschen kontraproduktiv erziehen, war Kant nicht entgangen. Zwar wird auch eine Kantianerin bei seinem wie hier verwendeten Begriff von „Natur“ sich auf Diskussion einlassen müssen, wenn es bei Kant weiter heißt: „Aber es ist für den spekulativen Kopf eine eben so wichtige, als für den Menschenfreund eine traurige Bemerkung, zu sehen, wie die Großen meistens nur immer für sich sorgen, und nicht an dem wichtigen Experimente der Erziehung in der Art Theil nehmen, daß die Natur einen Schritt näher zur Vollkommenheit thue.“ Die „Großen“ sind hier nicht die „Unterdrücker“ genannt, wie es bei Freire der Fall ist, der damit auch den Marxschen „Zwang“ vernachlässigte.

Und dass der Mensch seine Bestimmung erst suchen müsse, „dies (…) aber nicht geschehen (kann), wenn er nicht einmal einen Begriff von seiner Bestimmung hat“ (Kant), vor diesem Problem stand auch Freire, was Wolf deutlich macht, und womit die Tastatur eines gesellschaftlich fortwährenden – und sich verschärfenden – Problems kritischer Pädagogik angeschlagen ist. Und das wird erst dann auf den Weg einer Lösung gebracht, wenn Pädagogik gesellschaftskritisch, dann im Wortsinne laut Marx ‚radikal‘ ausgerichtet ist und so ihr Scherflein beiträgt bzw. mehr noch einen wichtigen Beitrag zu leisten sich müht, sich auf die Marxschen Analysen und die der Kritischen Theorie besinnt. Dazu leitet das Buch von Merlin Wolf in höchst überzeugender Weise an.

Fazit

Das Buch ist nicht nur PädagogInnen, SozialarbeiterInnen, überhaupt allen, die in erzieherischen Berufen tätig sind, zu empfehlen, Studierenden entsprechender Disziplinen zumal. SoziologInnen und auch PhilosophInnen, die sich vielleicht erst einmal nicht so sehr mit Freire, dafür aber mit Kritischer Theorie vertraut machen möchten, haben hier eine Handreichung, die ihnen in bester Weise weiterhelfen wird. Es ist nicht abwegig (s.o.), dieses Buch, ein zugleich wissenschaftlich beachtenswertes und verständlich geschriebenes, auch all jenen zu empfehlen, die in Feldern politisch-praktischer Emanzipation tätig sind.

Rezension von
Arnold Schmieder
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ISSN 2190-9245