Philipp Sandermann, Sascha Neumann: Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Dieter Röh, 05.06.2018

Philipp Sandermann, Sascha Neumann: Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit. UTB (Stuttgart) 2018. 240 Seiten. ISBN 978-3-8252-4948-9. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.
AutorInnen
Dr. Philipp Sandermann ist seit 2017 Professor für Sozialpädagogik am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik der Leuphana Universität Lüneburg. Zu seinen Schwerpunkten gehören (vergleichende) Wohlfahrtssystemforschung, Epistemologie der Sozialpädagogik, Ombudsstellen für Kinder- und Jugendhilfe, unbegleitete Minderjährige auf der Flucht und sozialraumorientierte Familienforschung.
Dr. Sascha Neumann ist seit September 2017 Professor für Kindheitspädagogik an der Universität Luxemburg. Zu seinen Schwerpunkten gehören Kindheitspädagogik, Bildungsethnografie, Allgemeine Erziehungswissenschaften und Theorie und Geschichte Sozialer Arbeit.
Thema
Das didaktisch auf das Bachelorstudium der Sozialen Arbeit respektive der Sozialpädagogik angelegte Buch dient nach Ansicht der Autoren dazu, „Theorien der Sozialen Arbeit besser zu verstehen“ (S. 9). Es möchte „Studierende und andere Interessierte (…) mit Wissen zu Theorien der Sozialen Arbeit ausstatten und zugleich dazu anregen, selbst Wissen zu diesem Gegenstandsbereich zu entwickeln“ (ebenda). Um es gleich vorweg zu nehmen: Dem Anspruch einer Grundlegung im Bereich der Theorien Sozialer Arbeit in toto kann die als „Grundkurs“ betitelte Publikation nicht gerecht werden, da sie die Breite der wissenschaftlichen Diskurse der Wissenschaft Sozialer Arbeit und vor allem darin prominent diskutierte Theorien weitgehend nicht (re-)präsentiert.
Aufbau und Inhalt
In ihrem ansonsten anspruchsvoll angelegten Durchgang durch ausgewählte Theorien kommen – bis auf wenige Ausnahmen (systemtheoretische Soziologie Sozialer Arbeit, Theorie der intervenierenden Sozialpolitik) – vor allem solche vor, die sich auf ihre disziplinären Wurzeln in der universitären Sozialpädagogik zurück führen lassen bzw. ihren Diskursort dort finden.
Die Theorien werden allesamt entlang von drei Fragen untersucht bzw. vorgestellt: „1. Welches Erkenntnisziel formuliert die Theorie, 2. Wo und wie beobachtet die Theorie Sozialer Arbeit, und auf welchen Vorannahmen werden diese Beobachtungen aufgebaut? Und 3. Was identifiziert die Theorie als Praxis der Sozialen Arbeit?“ (S. 15)
Nach einer einführenden Einleitung, die die programmatische und didaktische Zielsetzung des Buches formuliert und einige metatheoretische Klärungen vornimmt, wird in Kapitel 1 und 2 die These expliziert, dass „es sich bei Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit nämlich um keinen einfachen und sich gegenseitig ausschließenden Widerspruch, sondern stattdessen sogar um einen sich gegenseitig hervorbringenden, und damit füreinander notwendigen Gegensatz“ (S. 12).
In Kapitel 1 eröffnen die Autoren ihr Programm und skizzieren ihr Theorieverständnis wie folgt: Es wird, wie in der Einleitung angedeutet, erstens zwar ein logischer, jedoch kein sie strikt voneinander trennender Zusammenhang von Theorie und Praxis konstatiert, „denn Theorie braucht, um überhaupt als Theorie auftreten zu können, immer auch ein Gegenüber, auf das sie beziehbar ist“ (S. 42), was „logischerweise auch umgekehrt“ (ebenda) gilt. Zweitens wollen sie die Theoriedarstellung selbst mit einer theoretischen Methode vornehmen, da sich „im Wechselspiel zwischen dem Material (hier also den Theorie-Texten, die in die Übersicht einbezogen werden) und der Art und Weise, wie man dieses Material in der Übersicht zugänglich macht“ zeigt, „auf welche Weise man Theorien der Sozialen Arbeit rekonstruiert“ (S. 45).
In Kapitel 2 widmen sie sich dann einer historiographischen Kennzeichnung der Entwicklungspfade sozialpädagogischer Theoriebildung von Mager bzw. Diesterweg als derjenigen, die den Begriff der „Sozialpädagogik“ das erste Mal in ihren Schriften verwendeten, über Natorp und Bäumer bis hin zu Mollenhauer. Interessant ist bereits hier die Entscheidung der Autoren, sich auf historischen Wurzeln der Sozialpädagogik zu konzentrieren, was sie auf dreierlei Weise begründen: Der Sozialpädagogikdiskurs sei erstens „der ältere als diejenigen, aus heutiger Sicht mit ihm verwandten diskursiven Auseinandersetzungen um ‚Sozialarbeit‘ oder ‚Soziale Arbeit‘. Zweitens ist der Sozialpädagogikdiskurs derjenige, der noch vor den anderen beiden Auseinandersetzungen wissenschaftliche Züge annahm, und drittens ist seine historische Entwicklung als unmittelbare Folge dessen auch wesentlich besser dokumentiert.“ (S. 53). Auch wenn man diesen Argumenten durchaus aus sachlichen Gründen zustimmen kann, zeigt sich darin doch schon das Problem der „Geschichtsschreibung“, die sie selbst als konstitutiv thematisieren, denn sie prolongiert diesen Vorsprung in gleicher Weise wie sie ihn nutzt.
In Kapitel 3, dem quantitativ größten Teil der Publikation, werden dann entlang der o.g. drei Fragen (Erkenntnisziel, Gegenstandsauffassungen, Praxisverständnisse) insgesamt zehn Theorien oder Ansätze vorgestellt und diskutiert. Wie bereits oben kritisiert, wurden nicht alle in der Wissenschaft Sozialer Arbeit vorfindlichen Theorien aufgenommen. Neben den „etablierten“, weil immer wieder rezipierten Theorien, wie der „Alltags- und Lebensweltorientierung“, der „Theorie der Unterstützung der Lebensbewältigung“, „der Theorie der Dienstleistungsorientierung“, der „Theorie der reflexiven Sozialpädagogik“, der „Theorien des sozialpädagogischen Diskurses“, der „Theorie der organisierten Hilfe“ und der „Theorie des Funktionssystems sozialer Hilfe“ wurden auch frühere Theorien („Theorie der industriegesellschaftlich gerahmten Erziehungswirklichkeit“) und neuere Theorien („Theorie des Regierungshandelns“, „Theorie der intervenierenden Sozialpolitik“) aufgenommen. Die einzelnen Theorien und ihre Analyse in dieser Rezension darzustellen, würde den gegebenen Rahmen sprengen und entspricht auch nicht dem Zweck einer Buchbesprechung. Hier sei auf die – durchaus auch voneinander unabhängige – Lektüre der einzelnen Unterkapitel verwiesen.
In Kapitel 4 versuchen die Autoren dann eine Zusammenfassung der bis hierhin gewonnenen Erkenntnisse und kommen zum Ergebnis, dass die Unterschiedlichkeit der Theorien kein Mangel oder Makel darstellt, sondern sich daraus vielmehr der „Normalfall sozialwissenschaftlicher Theorieproduktion“ (S. 180) ergibt. Sie prüfen die unterschiedlichen Theorien, dieses Mal vergleichend und resümierend, wieder anhand der drei Leitfragen (Erkenntnisziel, Gegenstandsauffassungen, Praxisverständnisse).
Auch Kapitel 5 geht erneut resümierend dem Theorievergleich nach, wiederholt entlang der triadischen Leitfragenstruktur, dieses Mal werden aber Gemeinsamkeiten in den Fokus gerückt, die anhand der Kategorien „Mehrfachansprüche“, „Komplexe Axiome, Objektivismen und Ontologisierungen“ und „zwischen wahrer und wirklicher Praxis“ betitelt und damit geordnet werden.
In Kapitel 6 wird schließlich die These vom Ende der Großtheorien diskutiert und im Ergebnis festgehalten, dass „die Beschäftigung mit Theorie heute aber auch weit weniger einer bestimmten Form disziplinärer Selbstvergewisserung über Großtheorien vorbehalten (ist), weil sich im Kontext der empirischen Forschungspraxis zugleich ein instrumentelleres Verhältnis zur Theorie eingestellt hat.“ (S. 216)
Diskussion
Sandermann und Neumann fügen dem schon bestehenden Angebot an Theorieeinführungen, -systematisierungen und -kommentierungen (u.a. May 2010; Engelke/Borrmann/Spatscheck 2014; Erath/Balkow 2016; Lambers 2018) ein weiteres hinzu, das sich durch seine didaktisierte Form jedoch durchaus unterscheidet. Trotz der Offenlegung ihres methodischen Vorgehens und der eingestreuten Hinweise und Erklärungen mit zum Teil lexikalischem, teils zusammenfassendem Charakter und den Reflexions- und Verständnisfragen am Ende jedes Kapitels ist das Buch jedoch als erster Zugang zu Theorien Sozialer Arbeit letztlich anspruchsvoll und für Studierende von Bachelorstudiengängen, zu mindestens in den ersten Semestern, wohl schwer zugänglich.
Die strukturelle Anlage entlang der drei oben aufgeführten Prüffragen erleichtern den Lesenden zwar den Zugang, gleichzeitig wird doch einiges vorausgesetzt, da viele Hintergründe und Diskurse nur angerissen werden. Das ist in einem schmalen Bändchen natürlich auch nicht anders möglich und somit wird der „Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit“ diesem Anspruch wohl auch im Wesentlichen gerecht. Was jedoch vollständig irritiert und auch verärgern kann, ist die vollständige Ignoranz von Theorieangeboten aus der anscheinend immer noch geleugneten oder absichtlich missachteten „nicht-sozialpädagogische“ Diskurslandschaft. Man kann heutzutage, zumal unter dem Titel „Grundkurs Theorien Sozialer Arbeit“, nicht mehr so tun, also ob es nicht weitere (z.B. die durchaus differenten systemtheoretische Zugänge etwa von Staub-Bernasconi 2007/2018 oder von Kleve 2007), sozialökologische (Wendt 2010/2017) oder auch lebensführungstheoretische Angebote (Röh 2013) gäbe. Diese nicht aufzunehmen oder wenigstens aktiv und begründet auszuschließen, reproduziert das Schisma zwischen Sozialer Arbeit und Sozialpädagogik, das proklamatorisch immer wieder als überwunden markiert, gleichzeitig faktisch aber, u.a. durch diese Publikation, bestätigt wird. Das ist auch den Studierenden Sozialer Arbeit, die primär adressiert werden, gegenüber nicht fair und wird von ihnen wohl auch über kurz oder lang dechiffriert werden.
Fazit
Der „Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit“ ist für ein in der gesamten diesbezüglichen Literatur belesenen Mitglied der Wissenschaftsgemeinde Sozialer Arbeit interessant zu lesen und eröffnet die eine oder andere Erkenntnis. Sie ist aber für Studienanfängerinnen und Studienanfänger eine anspruchsvolle Kost, die jedoch nach intensiver Beschäftigung durchaus verdaubar und damit erkenntnisfördernd ist. Lediglich die theoretische Ignoranz der Gesamtheit theoretischer Diskurse stört den Erkenntnisgenuss und sollte in einer durchaus wünschenswerten Neuauflage überwunden werden.
Literatur
- Engelke, Ernst; Borrmann, Stefan; Spatscheck, Christian (2014): Theorien Sozialer Arbeit. Eine Einführung. 6. Auflage München: Lambertus.
- Erath, Peter; Balkow, Kerstin (2016): Einführung in die Soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.
- Kleve, Heiko (2007): Postmoderne Sozialarbeit: ein systemtheoretisch-konstruktiver Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
- Lambers, Helmut (2018): Theorie der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich. 4., überarbeitete Auflage. Opladen/Toronto: Barbara Budrich.
- May, Michael (2010): Aktuelle Theoriediskurse Sozialer Arbeit. Eine Einführung. 3. Auflage. Wiesbaden: VS-Verlag.
- Röh, Dieter (2013): Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben. Eine Handlungstheorie zur daseinsmächtigen Lebensführung. Wiesbaden: Springer VS.
- Staub-Bernasconi, Silvia (2007): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft: systemtheoretische Grundlagen und professionelle Praxis – ein Lehrbuch. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt
- Staub-Bernasconi, Silvia (2018): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Soziale Arbeit auf dem Weg zu kritischer Professionalität. 2. Auflage. Opladen/Toronto: Barbara Budrich.
- Wendt, Wolf Rainer (2010): Das ökosoziale Prinzip. Soziale Arbeit, ökologisch verstanden. Freiburg im Breisgau: Lambertus.
- Wendt, Wolf Rainer (2017): Ökonomie der Lebensführung: Wohlfahrtsbezogene Lebensführung im Kontext sozialen Wirtschaftens. Baden-Baden: Nomos.
Rezension von
Prof. Dr. Dieter Röh
Dipl.-Sozialarbeiter/Sozialpädagoge; MPH
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Fakultät Wirtschaft und Soziales - Department Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Dieter Röh. Rezension vom 05.06.2018 zu:
Philipp Sandermann, Sascha Neumann: Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit. UTB
(Stuttgart) 2018.
ISBN 978-3-8252-4948-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24391.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
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