Thomas Viola Rieske, Elli Scambor et al. (Hrsg.): Aufdeckungsprozesse männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt (...)
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 27.05.2019

Thomas Viola Rieske, Elli Scambor, Ulla Wittenzellner, Bernhard Könnecke, Ralf Puchert (Hrsg.): Aufdeckungsprozesse männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend. Verlaufsmuster und hilfreiche Bedingungen.
Springer VS
(Wiesbaden) 2018.
318 Seiten.
ISBN 978-3-658-15802-6.
39,99 EUR.
Sexuelle Gewalt und Pädagogik, Band 4.
Thema
Was hilft männlichen Kindern und Jugendlichen dabei, sexualisierte Gewalterfahrungen zu benennen und aufzudecken? Der vorliegende Band geht dieser Fragestellung unter dem Blickwinkel sozialer Rollenanforderungen an Männern auf Basis von Interviews mit Betroffenen und an Aufdeckungsprozessen Beteiligten nach.
Herausgeberin und AutorInnen
Dr. Thomas Viola Rieske, Ulla Wittenzellner, Bernhard Könnecke und Dr. Ralf Puchert sind MitarbeiterInnen bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. in Berlin. Elli Scambor leitet das Institut für Männer- und Geschlechterforschung in Graz. Daneben waren weitere Fachkräfte aus den Bereichen Männer- und Gewaltberatung beteiligt.
Aufbau und Inhalt
Der Forschungsband geht in fünf Kapiteln auf die
- Situation männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt und das dem Projekt zu Grunde liegende Studiendesign,
- Verläufe von Aufdeckungsprozessen, auf
- hilfreiche Bedingungen für solche Prozesse, den
- Theorie-Praxistransfer ein und gibt abschließend
- Empfehlungen für Politik und Praxis.
Einführung in das Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt. Im einleitenden Kapitel gehen die HerausgeberInnen dem Phänomen sexualisierter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche nach, wie sie z.B. im Rahmen des Aufdeckungsprozesses rund um das Berliner Casinius-Kolleg bekannt geworden sind. Das hier publizierte Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekt beschäftigt sich mit der Frage, was Betroffenen von sexualisierter Gewalt hilft, um erlebte sexualisierte Gewalt offen machen zu können. Dazu werden zunächst der Begriff der sexualisierten Gewalterfahrung definiert und der aktuelle Wissensstand, vor allem die Prävalenzzahlen, die Merkmale sexualisierter Gewalt gegen Jungen und die Auswirkungen sexueller Gewalterfahrungen bei betroffenen männlichen Kindern und Jugendlichen beschrieben. Die HerausgeberInnen gehen von besonderen sozialen Bedingungen aus, die im Zusammenhang mit Aufdeckungsprozessen eine Rolle spielen, den gegenwärtigen Konstruktionen von Männlichkeit in der Kultur, welche z.B. den Opferstatus bei Männern eher ausschließt (da mit Schwäche verbunden), was zum Verschweigen eigener Missbrauchserfahrungen führen kann. „Vor diesem Hintergrund haben betroffene Jungen gute Gründe, negative Reaktionen auf ein Bekanntwerden ihrer Betroffenheit zu befürchten und einer Aufdeckung ambivalent gegenüber zu stehen“ (19).
Forschungsdesign. Das Projekt besteht aus der Analyse von Forschungsliteratur, der Durchführung von Interviews mit professionell an Aufdeckungsprozessen beteiligten Personen, Betroffenen von sexualisierter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche und Personen, die von den Betroffenen als in ihren Aufdeckungsprozessen als hilfreich genannt wurden. Gewählt wurde ein qualitativer Forschungszugang, um die konkreten Erfahrungen der Interviewpartner erheben zu können. Die Auswertung des Interviewmaterials erfolgte in Anlehnung an den Grounded-Theory-Ansatz.
Verläufe von Aufdeckungsprozessen. Im zweiten Beitrag wird dargestellt, welche Prozesse bei der Aufdeckung von Fällen sexualisierter Gewalt wirken und welche Dimensionen diese Aufdeckung hat, u.a. Phasen der Erinnerung, der Einordnung und der Offenlegung. Grundlage dieser Ausführungen sind die Ergebnisse der ausführlichen Literaturrecherche und die Auswertung der durchgeführten Interviews. Die Autoren arbeiten schließlich drei Verlaufsmuster (1. Nicht zugänglicher Typus der die erlebte sexuelle Gewalt spät erinnert und spät einordnet, 2. Zugänglicher Typus der immer erinnert und immer einordnet und 3. Teilweise zugänglicher Typus, der immer erinnert aber später einordnet) von Aufdeckungsprozessen heraus, deren spezifische Merkmale dargestellt werden.
Günstige Einflussfaktoren. Auf Grundlage der im vorigen Kapitel dargestellten Verlaufstypen werden im Folgenden die Bedingungen herausgearbeitet, die eine günstige Wirkung auf Aufdeckungsprozesse haben, vor allem was männlichen Betroffenen sexualisierter Gewalt hilft, diese offen zu legen. Die hier gebildeten Kategorien werden wiederum mit dem Forschungsmaterial (Literaturanalyse, Interviewmaterial) verknüpft. Als helfende Faktoren werden u.a. Wissen (Ereignis- und Diskurswissen), Anerkennung (der Betroffenen von sexualisierter Gewalt durch das Umfeld, Sanktionierung der Täter, gesellschaftliche Faktoren (Versorgungsstruktur, Kultur des Redens und Zuhörens) benannt. Abschließend diskutieren die AutorInnen diese Kategorien unter männlichkeitstheoretischer Perspektive.
Theorie-Praxistransfer. Mit dem folgenden Kapitel verlässt die vorgelegte Arbeit die Ebene einer reinen wissenschaftlichen Studie, indem Hinweise zur Umsetzung der erhobenen Aspekte und Strukturen gegeben werden. Diese beziehen sich direkt auf die Situation der Betroffenen (Betroffene sexualisierter Gewalt) deren direktes Umfeld, die Ebene der Institutionen (Schulen, Krankenhäuser, Behörden) und der Gesellschaft (Politik, Gremien). Es werden dazu Handlungsempfehlungen zu den (zuvor dargestellten relevanten Aufdeckungsmerkmalen) Ebenen Wissen, Anerkennung, Diskursqualität und Handlungsfähigkeit gegeben.
Die gesamte Studie, deren Aufbau und zentrale Ergebnisse sowie die erarbeiteten Handlungsempfehlungen werden in einem abschließenden Kapitel der HerausgeberInnen und weiterer AutorInnen nochmals zusammengefasst dargestellt.
Zielgruppe
Studierende, Lehrende und PraktikerInnen in den Bereichen Pädagogik, Bildung und Beratung, sowie Betroffene, Beteiligte und am Thema interessierte.
Diskussion
Die hier vorgelegte Studie greift ein wichtiges Thema auf, die Umstände, Merkmale und Strukturen von Aufdeckungsprozessen der Offenlegung sexualisierter Gewalterfahrungen männlicher Betroffener in Kindheit und Jugend. Lange schon ist bekannt, bzw. wird vermutet, dass männliche Betroffene besondere Umgehens- und Bewältigungsformen, bzw. Verdrängungs- und Verschweigungsphänomene aufweisen und besondere Faktoren bestehen, die solche Aufdeckungsprozesse entweder begünstigen oder erschweren. Die sehr gründlich und umfangreich, vom Forschungsdesign sehr angemessen durchgeführte Studie nähert sich dieser Fragestellung durch eine mehrdimensionale Perspektive, indem direkt Betroffene, Professionelle BeraterInnen und weitere positiv wirkende Personen direkt befragt wurden. Dabei zeigt sich, dass den AutorInnen der Zugang zum beforschten Feld und zu der sensiblen Fragestellung gelungen ist. Die erarbeiteten Kategorien von Aufdeckungsprozessen und die Definition sich günstig auswirkender Faktoren auf solche Prozesse sind gut nachvollziehbar mit dem Datenmaterial verknüpft, was auch durch Aufgreifen von Zitatpassagen aus den durchgeführten Interviews illustriert wird.
Damit erfüllt der Studienbericht zu Aufdeckungsprozessen männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend nicht nur die Aufgabe das erforschte Feld zu thematisieren und hier empirisch begründete Erkenntnisse zu generieren. Diese ist für die Arbeit mit betroffenen Männern von hoher Bedeutung und großem Wert und erweist sich auch als exemplarisches Beispiel dafür, wie sozialwissenschaftliche Forschung im Verbund von Forschung und Praxis gelingen kann.
„Praxisprojekte, die außerhalb eines wissenschaftlichen Zirkels Bedeutung erlangen wollen, müssen so konzipiert sein, dass sie nicht mit der Publizierung ihrer Forschungsergebnisse enden. Vielmehr muss eine weitere Verbreitung, die Übersetzung für die und Auseinandersetzung mit den Praktiker-innen aktiv betrieben bzw. gesucht werden“ (299). Dieser von den AutorInnen der Studie selbst erhobene Anspruch wird – und das ist ein seltener Glücksfall sozialwissenschaftlicher Forschung – konkret aufgegriffen. Die Studienergebnisse werden durch Handlungsempfehlungen ergänzt, die zentralen Aspekte der Studie können in Form einer Broschüre beim am Projekt beteiligten Institut für Bildung und Forschung „DISSENS“ angefordert werden.
Fazit
Eine wissenschaftlich sehr gründlich durchgeführte Studie zu einer in der Praxis der Männerberatung drängenden Fragestellung, der mehrdimensionale Forschungszugang ermöglicht einen differenzierten Zugang zum Forschungsfeld. Die Umsetzung der erhobenen Befunde und Strukturen in Form von Handlungsempfehlungen für die Praxis ist ein Glücksfall für die Institutionen und Fachkräfte, die mit betroffenen Männern mit sexualisierter Gewalterfahrung arbeiten.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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