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Rita Hansjürgens: In Kontakt kommen

Rezensiert von Prof. Dr. Peter Sommerfeld, 16.10.2018

Cover Rita Hansjürgens: In Kontakt kommen ISBN 978-3-8288-4152-9

Rita Hansjürgens: In Kontakt kommen. Analyse der Entstehung einer Arbeitsbeziehung in Suchtberatungsstellen. Tectum (Baden-Baden) 2018. 332 Seiten. ISBN 978-3-8288-4152-9. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.

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Thema

Der Titel des Buches, insbesondere der Untertitel fasst das Thema gut zusammen. Es handelt sich um eine empirische Arbeit über das Zustandekommen einer (produktiven) „vertrauensvollen Arbeitsbeziehung“ zwischen einer Fachkraft der Sozialen Arbeit und einer KlientIn. Die Arbeit zielt damit einerseits auf diese allgemeine Frage der dyadischen Beziehungsgestaltung. Eine erfahrungsgesättigte wichtige Prämisse der Autorin ist, dass der Kontext dabei von großer Bedeutung ist. Der Kontext im vorliegenden Fall ist die Suchtberatungsstelle in Deutschland.

Es ist unbestritten, dass die Beziehung zwischen Fachkraft und KlientIn ein entscheidender Faktor für die Leistungserbringung und deren Qualität in der Sozialen Arbeit ist. Insbesondere im Kontext der Suchtberatung wird dem Erstgespräch eine hohe Bedeutung zugemessen, in dem mutmaßlich wichtige Weichen gestellt werden. Mutmaßlich deshalb, weil bislang empirische Arbeiten dazu fehlten. Rita Hansjürgens ist mit ihrer Dissertation angetreten, diese Forschungslücke zu füllen. Weil der Kontext von Anfang an mitkonzeptualisiert wird, ist das Thema des Buches zwar unmittelbar die Entstehung der Arbeitsbeziehung, zugleich ist das Thema aber auch die Suchthilfe und die Strukturierung dieses Feldes. Aufgrund der außerordentlichen Feldkenntnis der Autorin wird dadurch quasi nebenbei ein tiefer Einblick in die Suchthilfe vermittelt.

Autorin

Rita Hansjürgens studierte Sozialarbeit an der Katholischen Fachhochschule NRW in Paderborn sowie Professional Studies mit Schwerpunkt klinische Soziale Arbeit an der Hochschule Koblenz. Sie arbeitete u.a. zehn Jahre in der ambulanten Suchthilfe. Sie lehrte von 2010 bis 2018 an derselben Hochschule in Paderborn, an der sie Sozialarbeit studierte und wurde mit der hier besprochenen Arbeit an der Goethe Universität zu Frankfurt im Fachbereich Erziehungswissenschaften promoviert. Seit 2018 ist sie Professorin für Handlungstheorien und Methoden der Sozialen Arbeit und Allgemeinen Pädagogik an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS).

Aufbau und Inhalt

Die Einleitung vermittelt einen sehr präzisen Überblick über die Arbeit. Sie ist dabei so geschrieben, dass das Interesse geweckt wird. Insgesamt ist an dieser Stelle bereits die sprachliche Qualität hervorzuheben, die sehr zur Nachvollziehbarkeit der qualitativen Passagen und insgesamt dem Verständnis dient. Es folgt die Aufarbeitung und Charakterisierung des (spärlichen) Forschungsstandes und damit verbunden der Nachweis einer Forschungslücke, zur deren Schließung ein Beitrag geleistet werden soll.

Das dritte Kapitel „Kontextualisierungen des Forschungsfeldes“ ist eine konzise, leicht zu lesende, von extremer Fach- und Feldkenntnis zeugende Beschreibung des Feldes der Suchthilfe, insbesondere auch der rechtlichen und strukturellen Rahmungen. Dieses Kapitel könnte im Studium für sich genommen als hervorragender Einführungstext in die Rahmung der Suchthilfe verwendet werden, der zur Beschreibung der Rahmenbedingungen gleich noch eine präzise Analyse der Strukturierung des Feldes und einiger Problematiken darin (z.B. Sucht als Krankheit) aus Sicht der Sozialen Arbeit leistet. Die Autorin arbeitet diverse Hinweise auf in das Feld eingelagerte Konfliktlinien heraus, insbesondere auch auf widersprüchliche Rationalitäten, die dieses Feld kennzeichnen (Verwaltung/ Versicherung und Rationalität des professionellen Handelns). Schliesslich wird die ambulante Suchtberatungsstelle an der Schnittstelle zwischen diesen Rationalitäten beschrieben. Diese kurze Reflexion auf die Soziale Arbeit im Feld der Suchthilfe ist aufschlussreich, könnte aber durchaus ausführlicher ausgefallen sein bzw. es würde sich lohnen dieses Thema zu einem anderen Zeitpunkt auszubauen.

Das vierte Kapitel präsentiert sogenannte „sensibilisierende Konzepte“, ein Begriff, der im Zusammenhang mit der Forschungsmethode bedeutsam ist. Im Grunde werden hier Bezüge zu Theorien gemacht, die für die spätere Bearbeitung der empirischen Daten und deren Verarbeitung zu einer „Grounded Theory“ Verwendung finden. Auch hier werden wieder sehr kurz äußerst interessante Konzepte vorgestellt und vermittelt. Natürlich darf bei dem Thema Arbeitsbeziehung das Arbeitsbündnis nach Oevermann nicht fehlen. Weiterführend, auch für die Zwecke der Forschung sind kommunikationstheoretische Ansätze im Hinblick auf die Beziehungsgestaltung. U.a. werden hier die Kategorien Vertrauen und Misstrauen eingeführt. Die wahrscheinlich wichtigsten Bezüge werden aber aus dem psychodynamischen und neurowissenschaftlichen Fundus geschöpft. In Bezug auf die Forschung zu psychodynamischen Therapien wird insbesondere die Erkenntnis nutzbar gemacht, dass sich Beziehungen nicht linear, sondern in Sprüngen oder eben in „Momenten“ (kurzen Zeiteinheiten, in denen sich ein Veränderungspotenzial realisiert) entwickeln (Stern). Die neurowissenschaftliche Literatur wird vor allem hinzugezogen, um sich der Entstehung und dem Wesen des „impliziten Wissens“ (S. 67) zu nähern und ein begriffliches Instrumentarium dafür zu bekommen (Fuchs). Der Begriff des „Vermögens“ als inkorporierte und habitualisierte Wahrnehmungs- und Verhaltensbereitschaften ist dabei von besonderer Bedeutung, weil Hansjürgens unterstellt, dass es ein „implizites Beziehungswissen“ gibt, das die Form des Vermögens hat und sich über Erfahrung bildet und weiterentwickelt. Damit wird die alte Frage zwischen Wissen und Können bzw. explizitem und implizitem Wissen elegant im Hinblick auf die Forschungsarbeit gefasst. Der Bezug zur Literatur der Sozialen Arbeit wird über das Konzept der „lebendigen Arbeit“ von May hergestellt, das gut zu den anderen Bezügen passt. Trotz der Kürze wird mit diesem Kapitel eine tragfähige theoretische Basis gelegt. Und darüber hinaus ist dieses Kapitel für alle interessant, die sich mit der Frage nach dem „impliziten Wissen“ bzw. der Steuerung professionellen Handelns beschäftigen.

Im fünften Kapitel „Zwischenfazit“ wird alles bis dahin Erarbeitete auf neun Seiten hervorragend zusammengefasst, sodass daraus die Forschungsfragen begründet hergeleitet werden können. Für eilige LeserInnen kann die Lektüre hier beginnen. Die Forschungsfragen lauten:

  1. „Wie gestaltet und entwickelt sich das Erstgespräch in Bezug (…) auf eine Arbeitsbeziehung zwischen Klient_in und Fachkraft der Sozialen Arbeit konkret und wie kann dies begrifflich gefasst werden?
  2. Kann das interaktionelle Geschehen an bereits theoretisch beschriebene Konzepte rückgekoppelt werden und wenn ja an welche?
  3. Können Elemente identifiziert werden, die die Interaktion beeinflussen und wenn ja, welche? Wie beeinflussen sie das Gespräch?
  4. Welche Aussagen können darüber getroffen werden, wie sich die Konstituierung einer möglicherweise entstehenden sog. ‚Arbeitsbeziehung‘ zu einem weiteren Verlauf der Hilfe verhält?“ (S. 83)

Es folgt ein „Kapitel zur Methodologie“ der Untersuchung. Wie bereits kurz erwähnt orientiert sich die Autorin an der Methodologie der „Grounded Theory“. Die Datenerhebung erfolgte über die Aufzeichnung von Erstgesprächen (natürliche Situation) sowie Nachinterviews mit den Fachkräften und den KlientInnen. Hinzu kamen Interviews mit der Leitung zu aktuellen und antizipierten Herausforderungen der Suchtberatungsstellen, in Form eines problemzentrierten Interviews, „um die Erkenntnisse aus den Interaktionsprotokollen noch besser und aktueller kontextualisieren zu können.“ (S. 86) Insgesamt wurden „13 Erstgespräche und 28 begleitende Interviews in vier über Deutschland verteilte Beratungsstellen unterschiedlichen Zuschnitts“ geführt. (S. 96)

Der Hauptteil des Buches besteht aus der „Darstellung der Fälle“. Insgesamt werden 5 Fälle ausführlich beschrieben und analysiert. Ausführlich meint hier, dass der Leser, die Leserin in die Details der qualitativen Analyse mitgenommen wird. Dies ist für die Nachvollziehbarkeit der Resultate notwendig und hervorragend gelungen. Die Fallanalysen geben zugleich auch einen sehr vertieften Einblick in die Prozesse, die im Beratungsgespräch in wenigen Minuten ablaufen. Insofern sind diese Falldarstellungen sowohl für Forschende und Studierende interessant, als auch für PraktikerInnen als Reflexionsfolie geeignet, sofern man den Aufwand nicht scheut, auf rund 170 Seiten durch die Entwicklung der verschiedenen Aspekte und deren Lesarten durchgeführt zu werden, die nicht immer in einem abschliessenden Sinne aufgelöst werden. Es gelingt jedenfalls mit diesen Falldarstellungen eine dichte Beschreibung der Prozesse des Entstehens einer Arbeitsbeziehung zu liefern und das Material im Sinne der Fragestellungen produktiv aufzubereiten.

Die Ergebnisse werden in den Kapiteln „kontrastiver Fallvergleich“ sowie „Konkretisierung und Diskussion“ in unterschiedlicher Dichte präsentiert. Ohne diese hier im Detail wiedergeben zu können, kann folgendes in charakterisierender Absicht festgehalten werden: Zum einen zeigt Rita Hansjürgens wie in schneller Folge „Momente“ in der Interaktion entstehen und vorübergehen, die sich schließlich im Laufe eines Erstgesprächs in einer vertrauensvollen oder misstrauischen Arbeitsbeziehung konsolidieren. Es wird evident, dass dies nur auf der Basis des „Vermögens“ impliziten Beziehungswissens geschehen kann, wobei darin durchaus auch Strategien fachlicher und organisationaler Art aufscheinen. Der massive und tendenziell die sozialpädagogische Fachlichkeit unterlaufende Einfluss der Strukturierung des Feldes wird ebenfalls herausgearbeitet. Eine der wichtigsten Kompetenzen der Fachkräfte der Sozialen Arbeit besteht daher darin, diese Einflüsse im Erstgespräch zu neutralisieren, dadurch in die Lage zu kommen, erst einmal eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung aufzubauen, bevor dann die „Brückenfunktion“ (als Zulieferer und Gatekeeper) im Hinblick auf insbesondere die medizinische Rehabilitation produktiv wahrgenommen werden kann. Auch diese Abschnitte sind so aufbereitet, dass die wichtigsten Aussagen hervorgehoben sind und daher auch in einem schnellen Durchgang erfasst werden können. Die abschließenden Modellierungen fassen die Ergebnisse noch einmal auch grafisch zusammen. Damit sind die Fragen eins bis drei vollumfänglich beantwortet und der anvisierte Beitrag zur Verbesserung des Forschungstandes geleistet. Lediglich die Aussagen zur vierten Forschungsfrage, nämlich zum weiteren Verlauf der Hilfe stehen auf empirisch wackeligen Beinen, so nachvollziehbar sie auch im Text sind.

Die Arbeit zeigt die große, nicht ohne Weiteres substituierbare Relevanz der Sozialen Arbeit bzw. der Suchtberatungsstellen im Feld der Suchthilfe, die auf der Kompetenz der Fachkräfte und deren Haltungen aufbaut, eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung mit den KlientInnen herzustellen, bei gleichzeitiger prekärer Finanzierung und funktionaler Einschränkung. Sie plädiert daher für sozialpolitische Neujustierungen, u.a. auch für die Möglichkeit eines zusätzlichen (also neben den medizinisch-versicherungsrechtlich strukturierten Hilfen), zeitlich nicht limitierten Beratungsangebots, mit dem vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen weitergeführt und genutzt werden könnten.

Fazit

Das Buch von Rita Hansjürgens ist ein anschauliches Beispiel qualitativer Sozialforschung in der Sozialen Arbeit, das sich in Bezug auf eine Forschungslücke zur Entwicklung einer „vertrauensvollen Arbeitsbeziehung“ im Erstgespräch in Suchtberatungsstellen in Deutschland positioniert. Sie nimmt den Leser/ die Leserin mit auf eine Reise in die Praxis der Suchthilfeberatungsstellen in Deutschland und sie vermittelt sowohl ein vertieftes Verständnis des Geschehens in den Interaktionen zwischen Fachkraft und KlientIn beim Erstgespräch, als auch der Strukturierung des Feldes und dessen Einfluss auf die konkreten Aushandlungsprozesse. Es ist ein wichtiger Beitrag für das bessere Verständnis des Beziehungsgeschehens im professionellen Handeln spezifisch in der Suchtberatung aber auch darüber hinaus, ebenso wie für die gleichfalls allgemein bedeutsame Frage, wie die Organisation und das weitere Umfeld der Organisation das individuelle Handeln beeinflusst. Es ist zugleich, zumindest in Teilen, als Lehrtext für Studierende und als Reflexionsfolie für Praktikerinnen im Hinblick auf ihr eigenes Handeln geeignet, nicht zuletzt auch wegen der guten Lesbarkeit.

Rezension von
Prof. Dr. Peter Sommerfeld
Professor für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Institut Soziale Arbeit und Gesundheit
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Es gibt 3 Rezensionen von Peter Sommerfeld.

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Zitiervorschlag
Peter Sommerfeld. Rezension vom 16.10.2018 zu: Rita Hansjürgens: In Kontakt kommen. Analyse der Entstehung einer Arbeitsbeziehung in Suchtberatungsstellen. Tectum (Baden-Baden) 2018. ISBN 978-3-8288-4152-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24409.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.


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