Helmut Kreidenweis (Hrsg.): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 17.04.2019

Helmut Kreidenweis (Hrsg.): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft. Grundlagen - Strategien - Praxis. edition sigma im Nomos-Verlag (Baden-Baden) 2018. 276 Seiten. ISBN 978-3-8487-4252-3. 49,00 EUR.
Hintergrund
„Der digitale Wandel lässt sich nicht weghoffen“, heißt es im „Klappentext“ des vorliegenden Bandes. „Als gesellschaftspolitischer Begriff bezeichnet Digitalisierung einen umfassenden Wandel, der durch digitale Technologien (Computer, Internet, Robotik, Künstliche Intelligenz) vorangetrieben wird und alle Lebensbereiche umfasst: Arbeit, Freizeit, soziale Beziehungen, Konsum, Mobilität und vieles mehr“ (Kreidenweis 2018). Auch die Soziale Arbeit ist unmittelbar betroffen (vgl. Wendt 2017, 2019). Mit der fortschreitenden Automatisierung von Produktions- und Dienstleistungsprozessen ein grundlegender Wandel wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse vollzieht (vgl. dazu auch die Agenda des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend und das Positionspapier der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege).
Und weiter heißt es in der Selbstbeschreibung des Sammelbandes: Der digitale Wandel „verändert die Welt der sozialen Dienstleistungen erheblich: Bislang unbekannte Wettbewerber tauchen auf, Klienten und Mitarbeiter stellen veränderte Anforderungen oder neue Geschäftsmodelle werden möglich.“ Vor diesem Hintergrund informiert der vorliegende Sammelband über Grundlagen und Herausforderungen des digitalen Wandels und über strategische Ansätze. Zu diesem Band liegt auch die Rezension von Hendrik Epe (https://www.socialnet.de/rezensionen/23698.php) vor.
Herausgeber und Autor*innen
Helmut Kreidenweis ist seit 2006 Professor für Sozialinformatik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und seit 2010 Vorstand im Fachverband Informationstechnologie und Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung/FINSOZ e.V.
Im Band kommen zu diesem Zweck relevante Autor*innen aus der Sozialwirtschaft zu Wort, z.B. Joachim Rock (PARITÄTISCHER Gesamtverband), Thomas Eisenreich (Geschäftsbereichsleiter Ökonomie und Stellvertretender Geschäftsführer beim Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland), Brigitte Reiser (vom Blog Nonprofits-vernetzt.de), Uwe Ufer (kaufmännischer Vorstand der Diakonie Michaelshoven in Köln), Daniel Wagner (Referenz für Presse- und Medienarbeit im Diakonischen Werk Bayern) oder Thomas Althammer (der als externer Datenschutzbeauftragter und Berater im Themengeld Informationssicherheit und IT-Compliance tätig ist).
Inhalt
Kreidenweis argumentiert:
- Neben „der“ Wirtschaft betreffen die Auswirkungen der Digitalisierung nahezu alles Bereich des Privatlebens: Die Art, zu kommunizieren und Sozialkontakte zu pflegen, hat sich insbesondere bei jüngeren Menschen radikal gewandelt (vgl. Wendt 2017). Medial-vernetzte Kommunikation, vor allem über Soziale Medien, ergänzt oder ersetzt vielfach die analoge Kommunikation, und mündliche werden durch schriftliche Formen oder zeitversetzte Audiobotschaften ersetzt.
- Soziale Medien sind heute für viele Menschen bedeutsamere Informationsquellen als die klassischen Massenmedien. Ihre Algorithmen erzeugen dabei einerseits Filterblasen, die den Menschen nur noch die Informationen zur Verfügung stellen, die in das Analyse ihrer Kommunikationsprofile (Daten) identifizierbar gewordenes Weltbild passen und verfestigen es. Andererseits können sich Menschen über Nachbarschafts- und Ehrenamts-Apps ohne institutionellen Hintergrund gegenseitige Unterstützung geben oder bürgerschaftlich engagieren.
- Die Sozialwirtschaft, die Hilfen für viele Lebenslagen bereithält, ist grundsätzlich immer mit gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert, die ihre Arbeitsbedingungen betreffen. Auch der digitale Wandel wirkt sich auf die Arbeit der Verbände und Einrichtungen aus, wobei die Dynamik dieser Entwicklung von den Verantwortlichen in den Verbänden oft noch unterschätzt wird. Ändern sich die Verhaltensweisen von Menschen, ermöglichen neue Technologien Menschen mit Unterstützungsbedarf mehr Autonomie, entstehend dadurch neue Geschäftsmodelle und treten neue/andere Marktteilnehmer auf, dann können die über viele Jahrzehnte gewachsenen Grundfesten der Sozialwirtschaft durch ins Wanken geraten (vgl. Kreidenweis 2018).
Der vorliegende Band gliedert sich dazu in vier Teile:
- Grundlagen
- Strategien
- Technologien
- Rahmenbedingungen
Die Sammlung liefert methodisches Knowhow, um die eigene sozialwirtschaftliche Unternehmensstrategie neu zu bestimmen und auszurichten, digitale Dienstleistungen zu entwickeln oder Geschäftsmodelle zu gestalten. Christian Hartmann reflektiert, wie digitale Dienstleistungen zu entwickeln und eine Innovationskultur mit neuen Methoden zu fördern sind, nachdem Helmut Kreidenweis grundsätzlich über die „Sozialwirtschaft im digitalen Wandel“ eingeführt hat. Weitere grundlegende Beiträge sind:
- „Was kann die Sozialbranche aus der Wirtschaft lernen – was besser nicht?“ (Dietmar Wolff),
- „Zwischen Tradition und Digitalisierung – Unternehmenskulturen sozialer Organisationen im Wandel“ (Hartmut Kopf und Raimund Schmolze-Krahn),
- „Digitalisierungsstrategien für Verbände und Komplexträger entwickeln“ (Peter Faiß),
- „Digitale Geschäftsmodelle gestalten“ (Thomas Eisenreich und Uwe Ufer),
- „Zwischen Euphorie und Widerstand: Digitale Innovationen erfolgreich realisieren“ (Roland Schöttler) und
- „Big Data: Chancen für die Sozialwirtschaft“ (Thomas Mack).
Die Veröffentlichung stellt die Potenziale von Branchensoftware über socialmedia bis hin zu big data dar, vor allem in Form der Beiträge von
- Christophe Kunze: „Technische Assistenzsysteme in der Sozialwirtschaft – aus der Forschung in die digitale Praxis?“,
- Bernd Halfar: „Internet der Dinge: Sendung ohne Mouse“,
- Daniel Wagner: „Soziale Medien: Brücke in die digitale Welt von Stakeholdern und Klienten?“ und.
- Helmut Kreidenweis: „Offen für alles? – Neue Anforderungen an Branchensoftware für die Sozialwirtschaft“.
Schließlich werden Aspekte digitaler Teilhabe, der Arbeitsgestaltung, Datensicherheit und Kompetenzentwicklung in einer digitalisierten Sozialwirtschaft diskutiert, z.B. durch Silke Degenhardt, die nach den Kompetenzen in einer digitalisierten Arbeitswelt fragt und Anforderungen an Aus- und Weiterbildung reflektiert, der „Datenschutz und IT-Sicherheit in Zeiten der Digitalisierung“ (Thomas Althammer) und die „Flexibilisierung und Veränderung von Tätigkeiten. Folgen der Digitalisierung für die Arbeit in der Sozial Wirtschaft“ (Brigitte Reiser).
Zielgruppen
Helmut Kreidenweis versucht mit dem Sammelband, wie er es nennt, „ermutigende Orientierungsschneisen in den Dschungel der Begriffe, Konzepte und Technologie zu schlagen“ (S. 5). Das gelingt, auch wenn „Brüche, Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten … dabei unvermeidlich (sind). Doch genau darin liegt der Wesenskern des digitalen Wandels: er vollzieht sich nicht linear, logisch nachvollziehbar und widerspruchsfrei“. Stattdessen folge er „eigenen Gesetzen von Versuch und Irrtum, vom Tempo vor Perfektion, von Kreativität vor Sicherheit“. Diesen Anspruch, das Offene, sich Entwickelnde und ein Stück auf Ungewisse zu präsentieren, löst der Band ein. Er ist für Verantwortliche der Sozialwirtschaft konzipiert, unausgesprochen vielleicht für solche, die sich noch im Suchprozess befinden: die wissen, dass das was kommt, aber noch nicht sicher einschätzen können, was.
Diskussion
Der Prozess des digitalen Wandels, der Digitalisierung ist mit Chancen wie Risiken verbunden. er führt zu tiefgreifenden Veränderungen in allen Lebensbereichen: Großen (aber ungleich verteilten) Chancen der Digitalisierung stehen Risiken sozialer Spaltung gegenüber, die frühzeitig erkannt und begrenzt werden müssen. Digitale Teilhabe wird so zur elementaren Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe.
Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Die Nutzung neuer digitaler Technologien muss stets dem Ziel dienen, gleichermaßen individuellen und gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu schaffen. Ungleiche Zugangsmöglichkeiten zu neuen Technologien können dazu führen, dass die Digitalisierung zu einem Treiber gesellschaftlicher Ungleichheit wird. Die Freie Wohlfahrtspflege hat sich als das gemeinwohlorientierte „Gerüst der sozialen Infrastruktur“ in Deutschland bewährt und stellt ihre Leistungsfähigkeit und Bedeutung gerade auch dann unter Beweis, wenn Regeln und Gewichtungen des gesellschaftlichen Miteinanders neu ausgehandelt werden müssen.
Es gilt zu prüfen, inwieweit die Potenziale neuer Technologien nutzbar zu machen sind, um eingeschränkte Teilhabemöglichkeiten zu überwinden und Parität in einem umfassenden Sinne zu fördern, was z.B. Joachim Rock (Herausforderungen der Digitalisierung für Wohlfahrtsverbände und Aufgaben der Politik) andeutet oder Bastian Pelka (Digitale Teilhabe: Aufgaben der Verbände und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege) ausdrücklich diskutiert.
Mit der Digitalisierung verbinden sich zahlreiche, manchmal gegenläufige Versprechen. Nicht alle werden eingelöst werden können, aber es gilt, die Möglichkeiten neuer Technologien in sozial verantwortlicher Art und Weise zu nutzen, um die Lebenssituation von Menschen verbessern zu helfen. Menschen mit Handicaps können von den Möglichkeiten der Sensorik und Robotik profitieren. Ich zitiere an dieser Stelle eine Positionsbestimmung des PARITÄTISCHEN Gesamtverband: „Technik kann helfen, die Teilhabemöglichkeiten von Menschen verbessern zu helfen und Unterstützung zu bieten, wo bislang keine Hilfe möglich war. Mit neuen Technologien und der Erschließung von bislang unzugänglichen Informationen werden die Möglichkeiten zur Prävention ebenso verbessert wie die Möglichkeiten, individuelle Bedarfe zu erkennen und passgenaue Unterstützung zu bieten. Die wissenschaftliche Forschung gewinnt zusätzliche Entwicklungsmöglichkeiten. Schon heute ist es möglich, auch komplexe Hilfeformen individuell zu gestalten und deren Erfolgsaussichten zu verbessern. Sicherzustellen ist, dass auch aufwändige neue Unterstützungsformen für alle Menschen zugänglich sind, unabhängig von ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit oder Herkunft. Selbstbestimmte Teilhabe ist ein grundlegendes menschliches Recht, dass auch und gerade im Digitalisierungszeitalter von grundlegender Bedeutung ist. Die Digitalisierung kann dazu beitragen, soziale Inklusion in einem umfassenden Sinn zu fördern und Inklusion und Teilhabe fördern und entwickeln zu helfen.“
Die Verbreitung digitaler Technologien muss also hohen sozialen und ethischen Standards genügen. Technik darf dabei immer nur Mittel sein, nie Zweck. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten der Digitalisierung zu stärken, sind die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege vielfältig gefordert.
Sie müssen mit ihrer seismographischen Kompetenz gesellschaftliche Wirkungen der digitalen Transformation früh erkennen. Dazu müssen sie in ihrer Arbeitsweise, ihren Angeboten und in ihren Strukturen die digitalen Möglichkeiten kompetent, dienstleistungsorientiert und sicher nutzen. Sie sind daher in den kommenden Jahren gefordert, einen dynamischen Organisationsentwicklungsprozess zu gestalten, der angesichts der großen Veränderungsdynamiken schnell angestoßen und geformt werden muss.
Fazit
Damit sind die Maßstäbe hinreichend beschrieben, die nur verwirklicht werden können, wenn die Sozialwirtschaft in der Lage sein wird, Schritt mit den technologischen Entwicklungen zu halten und diese zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zielgruppen Sozialer Arbeit und der hier tätigenen Fachkräfte einzusetzen.
Dies auszuloten leistet der Band Hilfestellung. Aber: „Die positiven Potenziale der Digitalisierung werden nur dann erschlossen werden können, wenn alle Menschen die Digitalisierung als einen gestaltbaren Prozess erleben. Der Mensch darf nicht zum bloßen Objekt technologischer Entwicklungen gemacht werden, vielmehr muss sich die technische Entwicklung an den individuellen Interessen und Bedürfnissen ausrichten und auf Befähigung und die Stärkung des sozialen Zusammenhaltes gerichtet sein.“ Hier muss im weiteren Diskurs die eine oder andere Blindstelle noch geschlossen werden.
Auch dazu kann der Band ein Beitrag sein. Die fachliche Breite und die institutionelle Verortung der Autor*innen trägt sehr deutlich dazu bei, einführend in die komplexe Materie einzuführen. Die Beiträge sind zum Teil zwar abstrakt, aber doch auch anschaulich formuliert; sie werden in der Praxis der Freien Wohlfahrtspflege hilfreich „ankommen“ und Prozesse unterstützen, den digitalen Wandel zu bewältigen. Damit kann dem Sammelband uneingeschränkt bestätigt werden, „praxistauglich“ zu sein.
Allein der Preis schreckt auf den ersten Blick: 54,00 Euro für den Band sind nicht eben wenig, doch auch darin zeigt sich, dass in der Sozialwirtschaft, bei den solventen Trägern und sozialpolitischen Akteuren, den Spitzen- und Dachverbänden ganz offensichtlich seit geraumer Zeit nicht mehr gekleckert, sondern eher geklotzt wird und für ein gutes Produkt eben auch ein guter Preis erzielt werden kann. Und um ein wirklich gutes Produkt handelt es sich bei den von Helmut Kreidenweis editierten Band ganz sicher.
Literatur
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: Digitale Transformation und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Berlin 2017
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Digitale Agenda für eine Lebendswerte Gesellschaft, Berlin 2017
Kreidenweis, H: Digitalisierung; in: socialnet Lexikon, Bonn 2018; ULR: https://www.socialnet.de/lexikon/Digitalisierung (16.08.2018)
PARITÄTISCHER Gesamtverband: Potenziale technischer Innovationen nutzen – Wohlfahrtspflege fördern, Berlin 2018
Wendt, P.-U.: „… da sein, wo Jugendliche und Eltern sind“. Virtuelle Kommunikation in der Kinder- und Jugendhilfe; in: Jugendhilfe 6/2017: 560–566
Wendt, P.-U.: Beziehungsarbeit 2.0 (nur) auf dem Land? Digitalisierung, Kinder- und Jugendhilfe und ländlicher Raum; in: Jugendhilfe 5/2019 (i.E.)
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
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