Graham Riches: Poverty, Corporate Charity and the Right to Food
Rezensiert von Dr. Stephan Lorenz, 24.10.2018
Graham Riches: Poverty, Corporate Charity and the Right to Food. Routledge (New York) 2018. 204 Seiten. ISBN 978-1-138-73975-8. 36,65 EUR.
Thema
„Food Bank“ ist die international gebräuchliche Bezeichnung für Initiativen des wohltätigen Sammelns und Verteilens von Lebensmittelüberschüssen, was in Deutschland vor allem unter dem Namen Lebensmittel-„Tafeln“ bekannt wurde. Entstanden ist dieses Wohltätigkeitskonzept als lokale Initiative Ende der 1960er Jahre in den USA. Hierzulande stellt man sich unter einer „Tafel“ oft auch heute noch einige lokal Engagierte vor, die eine Art Nachbarschaftshilfe leisten. Der Blick auf die transnationalen Entwicklungen zeichnet allerdings ein anderes Bild. Seit den 1980er Jahren verbreiteten sich Food Banks massiv in Nordamerika und in der Folge zusehends weltweit. Spätestens mit der Gründung des „Global FoodBanking Network“ GFN im Jahre 2006 haben sie die globale Bühne betreten. Das GFN kooperiert nicht zuletzt mit der bereits 1986 gegründeten „European Food Banks Federation“ FEBA. Food Banks expandieren weiter, auch wenn ihre Etablierung nicht gleichförmig verläuft. So gehörten zur Gründung des GFN 2006 bereits die mexikanische und die argentinische Food Bank-Organisation, in Deutschland fand der größte Boom der Tafeln bekanntlich zwischen 2004 und 2009 statt, während er in Großbritannien 2009 erst begann. Weitere Food Banks kommen weltweit hinzu und die transnationalen Organisationen entwickeln sich dynamisch.
Die Forschung läuft den transnationalen Entwicklungen hinterher, das heißt sie war lange Zeit auf lokale oder nationale Studien begrenzt. Darüber hinaus ist neben wenigen Themenschwerpunkten in Journalen vor allem der von Graham Riches und Tiina Silvasti herausgegebene Band „First world hunger revisited“ aus dem Jahr 2014 zu nennen, der eine Reihe von Länderstudien versammelt. Mit seinem neuen Buch geht Riches nun noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er eine erste Zusammenschau des Phänomens über die Ländergrenzen hinweg für die reichen OECD-Staaten bietet.
Autor und Entstehungshintergrund
Graham Riches ist emeritierter Professor der Sozialen Arbeit in Vancouver/ Kanada. Er gehört zu den Pionieren der Food Bank-Forschung und publiziert bereits seit den 1980er Jahren dazu in Kanada. Seit Jahren macht er sich auch um die internationale Forschung verdient und ist für die fundierte Auseinandersetzung mit der Thematik aufgrund seiner über die letzten Jahrzehnte erworbenen Kenntnisse zweifellos einer der ausgewiesensten Expert/innen. Dennoch hat er nicht nur ein Fachbuch auf hohem Niveau verfasst. Motiviert hat ihn dazu, wie er im Vorwort schreibt, die scheinbar unaufhaltsame Ausbreitung und Etablierung dieses Phänomens, die zu geringe öffentliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit dafür und die Rolle großer Unternehmen, im Buch als „Big Food“ geführt, darin. Anders formuliert bewegt ihn die Verschiebung sozialer Sicherungen weg von verbindlichen politischen bzw. staatlichen Sicherungen hin zu privater Wohltätigkeit. So versteht er seine Schrift auch als engagiertes Plädoyer für ein menschenrechtlich begründetes und politisch durchgesetztes Recht auf Nahrung/ Essen („right to food“).
Aufbau
Nach einer Einleitung umfasst das Buch vier Buchabschnitte, die insgesamt zehn weitere Kapitel umfassen. Ein Überblick über das Inhaltsverzeichnis findet sich unter www.socialnet.de/buchversand.
Zur Einleitung
Einleitend schlägt Riches den Bogen von elementaren Bedeutungen des Essens bis zum globalen Ernährungssystem. Essen macht nicht nur satt, sondern ist mit zahlreichen Alltagsbereichen verknüpft – vom Freunde einladen, über Gesunderhaltung bis zu religiöser Praxis. Es ist zugleich eingebunden in weltweite Versorgungsnetze, das heißt in weit verzweigte ökonomische, technische und politische Prozesse. Mangel an Essen ist deshalb nicht nur ein individuell physisches Problem, sondern bedeute gewissermaßen organisierte gesellschaftliche Ausgrenzung. Zudem biete es einen zentralen Indikator für eine ganze Reihe weiterer sozialer Probleme.
Darüber hinaus könne aber auch die Effektivität einer Politik in Frage gestellt werden, die einerseits Sozialkosten kürzt, damit andererseits viel höhere gesellschaftliche Folgekosten verursache, durch gesundheitliche und soziale Folgeprobleme oder auch resultierende geringere gesellschaftliche Produktivität. Riches will Essen und Ernährung deshalb auch als öffentliches Gut verstehen, als etwas, zu dem alle Zugang haben müssen. Dies begründet seine „right to food“-Perspektive.
Die Problemstellung des Buches ist entsprechend klar formuliert. Es sollen die effektive Wirksamkeit und die moralische Rechtfertigung der letztlich globalen Food Bank-Ausbreitung und ihres Hilfekonzepts widerlegt werden. Zudem soll dargelegt werden, dass die Hauptprofiteure Regierungen und Unternehmen sind – eine Politik, die zugunsten der Reichen statt der Armen agiere, und Unternehmen, die Kosten und Steuern sparen und dafür sogar als besonders wohltätig auftreten können.
Zu Teil I
Hier wird zunächst der Verbreitung von Ernährungsarmut nachgegangen und der Aufstieg des wohltätigen Food Banking aufgezeigt. Dazu werden sowohl einschlägige Definitionen von Ernährungsarmut bis Hunger („food poverty“, „food insecurity“, „hunger“) sowie deren Messung vorgestellt. Wobei öffentliche Erhebungen auf nationalstaatlicher oder internationaler (OECD, EU, FAO) Ebene quantitativ (sofern überhaupt) wie qualitativ sehr unterschiedlich praktiziert werden. Riches plädiert hier für bessere Erhebungen, gerade in reichen Ländern, in denen man dies bislang kaum berücksichtigt, weil man Ernährungsarmut hier oft nicht für ein relevantes Problem halte. Trotz der Defizite in der Erfassung zeigen die verfügbaren Zahlen aber, dass es in den reichen Ländern Ernährungsarmut in beträchtlichem Umfang gebe. Die Nutzungszahlen von Food Banks machen dies zusätzlich sichtbar, obwohl sie nur die Spitze des Eisberges anzeigten.
Riches beschreibt die Ursprünge der Food Banks in den USA, wo Lebensmittelhilfen immer in höherem Maße zur sozialen Sicherung gehörten als in anderen Wohlfahrtsstaaten (auch als Teil der Agrarpolitik, die so Überschüsse verteilte). Entstanden aus einer lokalen Initiative in einer katholischen Kirchgemeinde, breitete sich das Food Bank-Modell, auch mit staatlicher Unterstützung (Bereitstellung von Agrarüberschüssen, Steuererleichterung für Sponsoren und direkte Förderungen) sowie getragen von großem Freiwilligen-Engagement immer weiter aus. Tatsächlich kamen die Food Banks 1984 über einen katholischen Orden nach Frankreich. Riches beschreibt die weitere Ausbreitung in Europa, einschließlich der nordischen Wohlfahrtsstaaten, in Neuseeland und Australien sowie schließlich in Ostasien. Zusammenfassend sieht er eine Ausbreitung und Etablierung des amerikanischen Modells der Lebensmittelhilfe-Netze in den OECD-Ländern zulasten einkommensbasierter und sozialstaatlicher Sicherungen. Realisiert werde dies durch viel Freiwilligen-Engagement, private Sponsoren, katholische – und andere religiös motivierte – Initiativen und gewähren lassende bis aktiv unterstützende Regierungen.
Zu Teil II
Der nächste und umfangreichste Teil (vier Kapitel) thematisiert die Rolle der großen Unternehmen („Big Food“), die Bedeutung von Lebensmittelabfällen sowie die Effektivität und Legitimität des Food Banking als Unterstützungsform. Zunächst werden die wohltätigen Lebensmittelhilfen durch Food Banks als im doppelten Sinne ökonomisierte – und dadurch die Probleme entpolitisierende – beschrieben. Zum einen sind Food Banks abhängig von den Lebensmittelüberschüssen und dem Sponsoring großer Food-Unternehmen aus Industrie und Handel. Zum anderen werden Food Banks selbst als „business“, also (quasi-) unternehmerisch aufgebaut und geleitet. Dies lag durchaus in der Intention des Gründers der ersten Food Bank, eines Unternehmers, der in den folgenden Jahrzehnten international als Berater für weitere Food Bank-Gründungen unterwegs war. So stieg „Feeding America“, die größte Food Bank-Organisation der USA, zur drittgrößten Charity-Organisation der USA auf, deren CEOs stattliche Managergehälter von mehreren hunderttausend US-Dollar im Jahr erzielen. Neben „Feeding America“ werden das „Global FoodBanking Network“ GFN und die „European Food Banks Federation“ FEBA vorgestellt sowie die Aufmerksamkeit steigernde Rolle unterstützender Stars und Prominenter aus Unterhaltung und Sport beleuchtet. Mit der Ausbreitung des Food Banking verbindet sich, so Riches, die Botschaft: Unternehmen können Armutsbekämpfung besser als staatliche Verwaltungen. Dabei werde freilich die Lebensmittelhilfe zum bloßen Managementproblem, während Fragen nach Armutsursachen oder gerechter Teilhabe überhaupt keine Rolle mehr spielen.
Dass Food Banks keineswegs als geeignete Option effektiver Armutsbekämpfung gelten können, dafür trägt Riches die Gründe zusammen: Da in weiten Teilen auf Freiwilligen-Basis arbeitend, können sie keine verlässlichen Strukturen anbieten und nur dann und dort helfen, wo sich Freiwillige finden. Diese können auch nur verteilen, was sie gerade sammeln können, das heißt die Hilfen richten sich in der Menge wie Qualität (z.B. im Hinblick auf gesunde Ernährung) nach dem zufällig verfügbaren Angebot, nicht nach dem Bedarf der Unterstützungsuchenden.
Bemerkenswert ist, dass Riches Lebensmittelabfällen ein ganzes Kapitel widmet, was sonst in der Food Bank-Literatur selten geschieht. Dabei ist es ein oft reklamiertes Ziel der Food Banks bzw. wird sogar als deren originelle Idee präsentiert, mit dem Sammeln von Lebensmittelüberschüssen und deren wohltätiger Verteilung gleich zwei drängende Probleme unserer Tage anzugehen. Riches zeigt dagegen, dass damit bestenfalls die Symptome zweier verschiedener Problemfelder verknüpft, die Ursachen aber weder für Armut noch für Lebensmittelüberschüsse bearbeitet werden. Bereits in diesem Zusammenhang wäre es sicher möglich gewesen, auch die Legitimitätsfrage, die Riches ja explizit interessiert, aufzuwerfen. Schließlich ist es unter Ungleichheits- und Gerechtigkeitsperspektiven keineswegs selbstverständlich, es für eine gute Idee zu halten, dass in einer Gesellschaft die einen mit den Resten dessen versorgt werden, was die anderen exzessiv an Abfällen und Überschüssen erzeugen.
Im übernächsten Kapitel werden Fragen dieser Art adressiert, wenn Riches fragt, ob es tatsächlich die Win-win-Konstellation – zugleich weniger Abfälle und weniger Armut – gibt, die sich die Food Bank-Aktiven erhoffen. Oder anders formuliert: Wer profitiert am meisten von dieser Unterstützung? Ganz offensichtlich ist, dass gerade die als Hauptförderer auftretenden weltgrößten Food Companies Vorteile aus ihrem Sponsoring ziehen können, indem sie ihr Image aufbessern, ihre Marken bekannt machen, für neue Kundschaft attraktiv werden, unverkäufliche Lebensmittel nicht entsorgen müssen und dafür häufig steuerlich begünstigt werden. Gerade die Steuervergünstigungen subventionieren ein ineffektives (siehe oben) Unterstützungskonzept und verringern zugleich die staatliche Finanzbasis für inklusivere Programme, wie es Riches auf den Punkt bringt. Im Gegenteil erlaubt das Vorhandensein des Wohltätigkeitsnetzes den Regierungen sogar geradezu, sozialpolitisch noch restriktiver zu agieren, d.h. Unterstützungen an zusätzliche Auflagen zu knüpfen und mit der Drohung von Leistungskürzungen zu verbinden – man kann ja dann immer noch zur Tafel/ Food Bank gehen. Dass das alles letztlich zum Vorteil für Menschen in armen und ausgegrenzten Lebenssituationen sein soll, liegt dagegen viel weniger auf der Hand. Die Food Bank-Nutzenden können dadurch zwar unmittelbar einige Erleichterungen im Alltag erlangen (jedenfalls in dem o.g. eingeschränkten und ineffizienten Sinne und Rahmen), deshalb gehen sie ja hin. Daraus resultieren für sie allerdings keine verbesserten sozialen Rechte oder gerechtere Verhältnisse. Vielmehr erleben sie in hohem Maße Stigmatisierungen und Scham, die mit der Nutzung von Food Banks regelmäßig verbunden sind.
Zu Teil III
Hier wird die Entwicklung, Verbreitung und – bis dato unzureichende – Umsetzung des Rechts auf Nahrung/ Essen („right to food“) dargestellt. Der grundlegende Vorzug einer rechtebasierten sozialen Unterstützung ist, dass Hilfen nicht wie bei Food Banks vom Wohlmeinen anderer abhängen beziehungsweise schon davon, dass sich überhaupt Freiwillige finden, die sich engagieren, und überschüssige Lebensmittel, die sich verteilen lassen. Rechte zu haben bedeutet dagegen, dass staatliche Institutionen diese Rechte garantieren müssen, dass sie von allen gleichermaßen eingeklagt werden können, dass vor dem Gesetz alle gleich sind.
Historisch ist die Formulierung eines „right to food“ offensichtlich zuerst im England des Jahres 1216 zu finden. Für heutige Entwicklungen verbindet es sich insbesondere mit der Verbreitung der Menschenrechtsideen, so bereits mit deren Allgemeiner Erklärung im Jahre 1948 und dann vor allem mit dem 1976 in Kraft getretenen „Internationalen Pakt über ökonomische, soziale und kulturelle Rechte“ (UN-Sozialpakt), der auch das „right to food“ umfasst und dem die meisten UN-Länder zustimmten. Eine rechtliche Verankerung auf nationalstaatlicher Ebene erfolgte allerdings selten. Davon hängt jedoch weitgehend ab, ob das „right to food“ auch tatsächlich auf einem Rechtsweg eingeklagt werden kann. Nicht einmal die vorgesehene Berichterstattung gegenüber der UN wird von den Staaten sonderlich ernst genommen, wie Riches ausführt. Sie erfolgt nur unvollständig und oft mit jahrelanger Verzögerung.
Riches vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass sich zum Teil bei lokalen Food Bank-Initiativen selbst die Überzeugung findet, dass die Lebensmittelverteilung nach ihrem Konzept überwunden werden müsste, da sie keine verlässlichen Hilfen darstellen und Hilfesuchende in eine bittstellende Position bringen, im Gegensatz zu einer Position gleicher Rechte und Berechtigung. Zudem führt er verschiedene Referenzen an, die für eine Rechtebasis sozialer Hilfen eintreten. Da Food Banks aus einer katholischen Gemeinde heraus entstanden und sich oft über katholische Organisationen und Initiativen verbreiteten, ist sicher der Verweis auf Papst Franziskus als Fürsprecher sozialer Rechte besonders bedeutsam.
Die Hauptaufgabe zivilgesellschaftlicher Initiativen, von denen Riches einige vorstellt, besteht unter der Perspektive eines „right to food“ darin, entsprechende Rechte auf der politischen Agenda zu halten. Dabei kommt ihnen entgegen, dass es diese internationalen Rechte und Abkommen gibt, auf die sich die allermeisten OECD-Länder (im Grunde außer den USA) verpflichtet haben. Denn das eröffnet den zivilgesellschaftlichen Organisationen die Möglichkeit, sich advokatorisch für die tatsächliche Umsetzung dieser Rechte, einschließlich verlässlicher Berichterstattung über erreichte Fortschritte und bestehende Defizite, einzusetzen. Sie können gegenüber den jeweiligen nationalstaatlichen Regierungen mit öffentlichem Druck die Einhaltung selbst eingegangener Verpflichtungen einfordern. Das ist die zivilgesellschaftliche Alternative zum Food Bank-Engagement, die Riches aufzeigt.
Zu Teil IV
Das Schlusskapitel fasst den Gang der Darstellung und Argumentation noch einmal zusammen – beginnend mit der Kritik an der unzuverlässigen und stigmatisierenden Versorgung von Menschen in Armut durch wohltätige Lebensmittelhilfen, die seitens der Freiwilligen in der Regel gut gemeint sind und mitunter selbst nicht für eine gute Lösung gehalten werden; die sich aber in großem Stil und keineswegs uneigennützig unterstützt von den größten (nicht nur Food-) Unternehmen transnational ausbreiteten, unter indifferenter wie auch fördernder Beteiligung von Regierungen; wobei die Probleme mit Lebensmittelabfällen einerseits und Armut andererseits, obwohl sie ganz unterschiedliche Ursachen haben, unzulässig in einer vermeintlichen Lösung verquickt werden.
Riches plädiert dagegen für eine Neuausrichtung der öffentlichen Debatten über Armut, die sich auf einer verbesserten Datenbasis an einklagbaren Rechten orientieren müssen, welche sich ihrerseits auf international längst anerkannte menschenrechtliche Vereinbarungen stützen können. Dabei müsse Armut umfassender und mit Blick auf ihre Ursachen verstanden werden, die in unzureichenden Einkommensmöglichkeiten und mangelnden sozialen Sicherungen und Rechten zu finden sind sowie letztlich in einer zunehmenden sozialen Ungleichheit, die sich in der Ära des neoliberalen Marktes und der Austeritäts-Politik immer mehr zuspitzten. Dem müssen, so Riches, zivilgesellschaftliche Initiativen eine am „right to food“ bzw. den Menschenrechten ausgerichtete Gegenerzählung entgegenstellen, gestützt auf ein eigenes Monitoring, advokatorisches Engagement, Kampagnen, öffentliche Aufmerksamkeit und Bildung sowie durch das Schmieden entsprechender gesellschaftlicher Bündnisse.
Diskussion
Mit „Food Bank Nations“ hat der Autor ein wichtiges und aktuelles – man möchte fast sagen: längst überfälliges – Buch geschrieben. Es ist ein Glücksfall, dass sich gerade Riches mit seiner über Jahrzehnte erworbenen Expertise dieser Aufgabe angenommen hat. Das Buch setzt neue Maßstäbe in der internationalen Food Bank-Forschung, weil es über bisherige Zusammenstellungen von Länderstudien hinausgeht und die transnationalen Entwicklungen der sich ausbreitenden Food Banks selbst in den Blick nimmt.
Wer noch immer der Vorstellung anhing, Tafeln und ähnliche Initiativen seien einfach eine Form lokalen Engagements, muss spätestens nach Lektüre des Buches diese Illusion aufgeben. Auch viele der freiwillig Engagierten selbst halten die Food Banks oder Tafeln nicht für eine tatsächliche Lösung von Armutsproblemen und glauben gerade zu Beginn ihres Engagements eher daran, eine vorübergehende Nothilfe zu leisten, bis verlässlichere soziale Sicherungen greifen. Nach der nunmehr jahrzehntelangen und andauernden Verbreitungsgeschichte des Food Banking sollte sich dies eigentlich längst als große Illusion erwiesen haben. Lebensmittelhilfen nach dem Food Bank-Modell verschwinden nicht und werden schon gar nicht durch verbesserte soziale Rechte abgelöst. Die Entwicklung zeigt vielmehr, dass die einschneidenden sozialpolitischen Reformen (in Deutschland etwa die sog. Hartz-Reformen) stattfanden, als es die Food Banks/Tafeln längst gab. Die Reformen bescherten ihnen vor allem einen großen Zulauf und damit einen weiteren Schub in der Verbreitung des Modells. Auch wenn sie offiziell nie zu solchen erklärt wurden: Diese Lebensmittelhilfen sind längst zum mehr oder weniger stillschweigend akzeptierten Bestandteil sozialer Sicherungssysteme geworden.
Welche Konsequenzen ziehen die Aktiven und die Verbände daraus? In Deutschland lässt sich beobachten, dass die Tafeln (etwas) politischer geworden sind, dass der Bundesverband sich jedenfalls auch an sozialpolitischen Erklärungen und Forderungen seitens der Sozialverbände beteiligt. Eine Kenntnisnahme des Buches bei den Tafeln, aber auch in den Sozialverbänden ist jedenfalls zu wünschen und würde viel Stoff für Diskussionen über die weitere Arbeit bieten.
Dass die dynamische Entwicklung der Food Banks, die Riches nachzeichnet, anhält, wird auch daran deutlich, dass sie selbst in dem so umfassend angelegten Buch keineswegs in Gänze erfasst werden kann. Damit ist nicht nur gemeint, dass die ein oder andere Entwicklung bei Erscheinen des Buches schon überholt ist. Ich denke hier v.a. daran, dass Riches die europäische Food Bank-Organisation FEBA als im Unterschied zu „Feeding America“ und dem GFN noch als durch Freiwillige getragen vorstellt, während sie aber seit dem Frühjahr dieses Jahres auf feste Mitarbeiter/innen umgestellt wurde. Das liegt freilich durchaus in der Logik der Entwicklung, wie sie Riches darstellt.
Viel wichtiger erscheint mir aber ein anderer Punkt, dass sich nämlich die verdienstvollen Analysen von Riches auf die (reichen) OECD-Staaten richten. Schon im oben erwähnten, von Riches mit herausgegebenen Buch „First world hunger revisited“ ist sein langjähriger Problemfokus klar erkennbar, nämlich die Armutsprobleme der reichen Länder. Dies gilt freilich, das sei hier eingefügt, nicht nur für den Autor, sondern im Grunde für die gesamte (internationale) Food Bank-Forschung. Man wird nur feststellen müssen –
Damit ist v.a. gesagt, dass das Buch von Riches zwar einen bedeutenden Schritt für die Forschung markiert, aber dennoch viele Fragen zum Phänomen der massiven und andauernden Verbreitung des Food Bank-Konzepts für weitere Forschungen offen bleiben. Zum Beispiel eben die Frage, wie sich ein Konzept der Überflussgesellschaften, das sich auf massiv anfallende Lebensmittelüberschüsse stützen kann, auch in Ländern greift, die weit entfernt sind von solchen Überschüssen. Und selbst für die reichen Länder bleiben Erklärungslücken. Der Verweis auf neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitiken ist nicht falsch, weil diese die Ausbreitung massiv beförderten. Gerade für den Beginn, also für die Zeit Anfang der 1980er Jahre, wird dies von Riches ausgeführt mit Verweisen auf die Auswirkungen von Reaganismus und Thatcherismus in den USA und Kanada. Warum starten aber die Food Banks ausgerechnet im Lande Thatchers selbst erst fast 30 Jahre später? An anderer Stelle zeigt sich Riches verwundert, dass in Neuseeland gerade eine linke Regierung die frühe Food Bank-Entwicklung im Lande beförderte, aber es bleibt eben auch bei dieser Verwunderung. Gerade die Ausbreitung über die Grenzen verschiedenster Sozialsysteme, politischer Orientierungen oder auch religiöser Überzeugungen hinweg bietet jedenfalls Anlass zur weiteren Erforschung.
Nachdem die Arbeit nun mehrfach in ihrer Bedeutung und Analyse gewürdigt wurde, muss auch ein Einwand formuliert werden, nämlich gegenüber dem engen Problemfokus auf Ernährungsarmut oder sogar Hunger („food insecurity“, „food poverty“, „hunger“). Auch hier sei vorab darauf hingewiesen, dass Riches dabei eine in der Food Bank-Forschung weitgehend geteilte Perspektive einnimmt, die ich dennoch für problematisch halte. Vielleicht wird der Einwand gerade deshalb am Buch von Riches deutlicher, weil er in widersprüchlicher und insofern interessanter Weise im Grunde selbst darüber hinaus weist.
Wie oben dargestellt, sind Ernährungsarmut und Hunger für Riches das zentrale Ausgangsproblem. Deshalb macht er auf die soziale und politische Bedeutung des Essens aufmerksam, diskutiert in Forschung und Institutionen verwendete Begriffsdefinitionen und beschäftigt sich mit der amtlichen – unzureichenden – Messung und Berichterstattung bis er schließlich auch die menschenrechtlichen Überlegungen um das im engeren Sinne „right to food“ gruppiert. Andererseits fordert gerade Riches aber ein, sich den Ursachen dieser Armutsphänomene in den reichen Ländern zuzuwenden. Mangelnder Zugang zu Essen, so Riches an mehreren Stellen im Buch, ist ein Symptom und Indikator für eine ganze Reihe sozialer Probleme, deren Ursachen letztlich in sozialer Ungleichheit, zu geringen Einkommen („working poor“) und unzureichender sozialstaatlicher Sicherung zu suchen sind. Nur, diese Frage drängt sich doch auf: Warum bleibt er selbst dann in weiten Teilen dem Fokus auf den Indikator, auf das Symptom ‚Ernährungsarmut‘ verhaftet?
Ganz zu Beginn des zweiten Kapitels führt er ein, dass schon in den 1980er Jahren seitens der kanadischen Politik die Vorstellung zurückgewiesen wurde, es gäbe überhaupt so etwas wie Hungerphänomene im reichen Kanada. Als Kronzeuge dagegen wird von Riches ein Food Bank-Aktivist angeführt, der fragte, warum sich wohl sonst Menschen bei minus 30 Grad bei der lokalen Food Bank-Ausgabe anstellen würden – was also offensichtlich bestätigen soll, dass doch Hunger und Ernährungsarmut das Problem seien. Hier gerät die Argumentation in Widersprüche: Entweder die Menschen haben Hunger, dann ist es völlig richtig, ihnen zu essen zu geben. Oder die zweifellos vorhandenen Phänomene von Ernährungsarmut sind ein Symptom, dessen Ursachen bekämpft werden müssen, wozu es dann offensichtlich nicht reicht, einfach Essen zu verteilen. Der Autor bleibt in diesem Widerspruch stecken (was er, wie gesagt, mit weiten Teilen der Food Bank-Forschung teilt), weil er beides bedient. Einerseits ist er völlig klar darin, betont mehrfach und mit Verweis auf verschiedene Referenzen, dass es ausreichender Einkommen und verlässlicher sozialstaatlicher Sicherungssysteme bedarf, um die Armuts- und Ausgrenzungsprobleme zu überwinden. Andererseits arbeitet er sich durch seinen Food-Fokus eben in weiten Teilen selbst an der Symptomatik ‚Ernährungsarmut‘ ab, statt umfassendere Fragen gerechter sozialer Teilhabe in das Zentrum der Argumentation zu stellen.
Man muss hier sehr klar zwischen Phänomen und Ursache bzw. Problem unterscheiden. Tatsächlich gibt es Phänomene der Ernährungsarmut, etwa wenn am Ende des Monats das Geld für Essen knapp wird. Aber warum wird es knapp? Offensichtlich weil andere dringliche Ausgaben das Haushaltsbudget vorher zur Neige gehen ließen. Ein auch von Riches genutztes Argument dafür, Essen als geeigneten Indikator für weiterreichende soziale Probleme aufzufassen, lautet, dass die Ausgaben für Essen besonders elastisch sind – während z.B. die Miete ein fester Posten ist, sodass man eher am Essen sparen kann. Trotzdem, und das macht ja auch Riches immer wieder deutlich, bleibt es eben ein Symptom, während das Problem ist, dass einfach nicht genügend Geld für Wohnung und Essen bzw. für alle grundlegenden Lebensbereiche vorhanden ist. Im Übrigen besteht die Flexibilität auch nicht nur beim Essen: Man kann auch an Kleidung sparen, an Strom, an Heizkosten, an Kommunikationskosten (Telefon), an Fahrtkosten etc. Es wäre offensichtlich unsinnig, deswegen von Kleidungs-, Strom-, Wärme-, Kommunikations-, Mobilitätsarmut etc. zu sprechen – und deshalb ist es auch nicht sinnvoller, von Ernährungsarmut zu sprechen. Sind diejenigen ärmer, die am Essen sparen, oder diejenigen, die zwar genügend essen, aber in einer kalten Wohnung leben – oder ist das nicht viel eher eine absurde Gegenüberstellung? Aus einer anderen Perspektive: Angenommen, man würde den Hartz IV- oder Sozialhilfesatz für die Essenskosten erhöhen, z.B. bemessen an Empfehlungen der Ernährungswissenschaft für gesunde Ernährung. Dann würde der ausgezahlte Gesamtbetrag natürlich etwas steigen. Aber würde deshalb niemand mehr zu den Tafeln gehen? Selbstverständlich würden viele Menschen weiter zur Tafel gehen, weil sie durch die dort erhaltenen Lebensmittel Kosten sparen und andere Lücken im Haushaltsbudget etwas kompensieren können. Kurz: Der leider immer wieder vollzogene Trugschluss erfolgt vom Lebensmittelangebot der Tafeln auf die vermeintlichen Probleme der Tafelnutzenden als vor allem Hungerleidende. Die Tafeln/ Food Banks bieten aber Lebensmittel an, weil es Lebensmittelüberschüsse gibt, die sie einsammeln können (so wie sie z.T. auch anderes verteilen, was sie sammeln können). Und die Tafelnutzenden nehmen diese Hilfen (wie andere Hilfen) an, weil sie ihnen erlauben, ihr Haushaltsbudget zu entlasten und in insgesamt armen und ausgegrenzten Lebenssituationen besser über die Runden zu kommen.
Es gibt verschiedene Gründe, warum die Food Bank-Forschung überwiegend den Fokus auf Ernährungsprobleme mit vielen Aktivist/innen der Tafeln/ Food Banks und ihren Sponsor/innen teilt. Zum großen Teil wird diese Forschung von Forschenden und Institutionen geleistet, die selbst auf Ernährungsfragen spezialisiert sind, was eine gewisse Verengung des professionellen Blicks beinhaltet. Manchmal findet sich auch die Überzeugung, dass man über Ernährungsarmut Armutsprobleme politisch in besonders zugespitzter Weise skandalisieren könne. Aber auch damit begibt man sich in Widersprüche. Denn indem man das Sattwerden zum Kriterium für soziale Teilhabe macht, unterbietet man die Standards wohlfahrtsstaatlicher Teilhabe bei weitem. Mit der Ausbreitung von Tafeln/ Food Banks wurde wieder möglich, was Anfang der 1990er Jahre in Deutschland noch undenkbar erschien, dass Lebensmittelhilfen als soziale Unterstützung akzeptabel erscheinen und damit auch der Maßstab, dass Menschen genug zu essen haben sollten. Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet aber viel mehr als physisches Überleben und die Entwicklung der Wohlfahrtssysteme hat dies im Laufe der Jahrzehnte auch in vielerlei Hinsicht berücksichtigt. Es ist deshalb durchaus bedenklich, dass auch die Forschung mitunter den Sinn dafür verloren zu haben scheint, dass „genügend Essen zu haben“ keinen adäquaten Maßstab abgibt, dass aber der Fokus auf Ernährungsarmut genau diesen Maßstab bedient. Statt also hinter historisch erreichte soziale Sicherungen zurückzufallen, müsste über umfassende Kriterien sozialer Teilhabe diskutiert werden. Wie gesagt, bei Riches findet sich auch das, aber es bleibt widersprüchlich, weil er seine Argumentation doch zugleich selbst in weiten Teilen um das Symptom und nicht die Ursachen strickt.
Fazit
„Food Bank Nations“ ist ein aktuelles und wichtiges Buch für alle, die sich mit Fragen von Armut, sozialer Ausgrenzung und dem Wandel der Wohlfahrtssysteme in den reichen Industriegesellschaften beschäftigen. Eine besondere Stärke des Buches liegt darin, anhand der Food Banks die transnationalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nachzuzeichnen. Es zeigt, wie sich durch Freiwillige, Sponsoren und Regierungsunterstützung wohltätige Lebensmittelhilfen, die sich vor allem mit dem Namen „Food Banks“ bzw. in Deutschland „Tafeln“ verbinden, anhaltend verbreiten. Während sich damit ineffektive und stigmatisierende Mittel der Armutsbekämpfung in den sozialen Sicherungssystemen einnisteten, wurden sozialstaatliche Sicherungen reduziert und zusehends restriktiver gestaltet, so Riches. Er stellt dem eine menschenrechtlich fundierte, auf die Stärkung sozialer Rechte zielende Perspektive entgegen, die eine würdige und angemessene Alternative biete. In einer engagierten Vertretung und Einforderung dieser Alternative sieht er auch die entscheidende Rolle zivilgesellschaftlicher Initiativen und Organisationen.
Das Buch markiert den neuen Stand der Forschung zu Food Banks und damit zugleich, welcher weiterer Forschungen es dringlich bedarf: solcher zum Zusammenspiel der transnationalen Netzwerke mit ihren äußerst heterogenen Mitgliedern in den diversen Ländern; zur Verbreitung der Food Banks in ärmeren Ländern jenseits der ‚first world‘ Staaten; zu einem umfassenderen Verständnis grundlegender sozialer Teilhabe, bemessen an den Problemen von Menschen in armen und ausgegrenzten Lebenssituationen, sowie zu den Ursachen der Gefährdung solcher Teilhabe.
Rezension von
Dr. Stephan Lorenz
apl. Prof. am Jenaer Institut für Soziologie
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Zitiervorschlag
Stephan Lorenz. Rezension vom 24.10.2018 zu:
Graham Riches: Poverty, Corporate Charity and the Right to Food. Routledge
(New York) 2018.
ISBN 978-1-138-73975-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24484.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.
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