Günther Thomé: Deutsche Orthographie
Rezensiert von Dr. Torsten Mergen, 10.07.2018
Günther Thomé: Deutsche Orthographie. Historisch - systematisch - didaktisch : Grundlagen der Wortschreibung. ISB-Fachverlag (Oldenburg) 2018. 148 Seiten. ISBN 978-3-942122-24-5. D: 16,80 EUR, A: 17,30 EUR.
Thema
Das Buch „Deutsche Orthographie – historisch, systematisch, didaktisch. Grundlagen der Wortschreibung“ thematisiert die Bedeutung von Schrift und Schriftsprache unter drei Aspekten in Form einer einführenden Zusammenschau: Zunächst beleuchtet es, wie sich Schrift und Orthographie historisch entwickelt haben, und legt dabei einen erkennbaren Fokus auf den Zusammenhang von Sprache und Schrift, auf die Alphabetschrift und aktuelle Rechtschreibnormierungen. Sodann betrachtet es deskriptiv die deutsche Schriftsprache und untersucht die Bedeutung und Häufigkeiten von Buchstaben und Graphemen. Schließlich reflektiert es verschiedene Konzepte und Problembereiche des Rechtschreibunterrichts und erläutert aktuelle Problemfelder wie Rechtschreibstörung, Rechtschreibschwäche und Rechtschreibschwierigkeiten.
Autor
Prof. Dr. Günther Thomé (Jg. 1952) forschte und lehrte bis zu seiner Pensionierung 2015 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main in den Bereichen Sprachwissenschaft des Neuhochdeutschen und Sprachdidaktik. Ein wichtiges Forschungsprojekt des Wissenschaftlers war die im Auftrag der Kultusministerkonferenz erfolgte Untersuchung der Rechtschreibleistung von mehr als 9.000 Schülerinnen und Schülern im Rahmen der „DESI-Studie“ (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen International). Ferner führte er von 2012 bis 2015 die klinische Studie „Zur Therapie der Rechtschreibschwäche auf der Grundlage qualitativer Fehleranalysen für Schüler der Klassenstufen 5-10“ durch.
Aufbau und Inhalt
Nach einer kurzen Danksagung und Einleitung beinhaltet das Buch drei Kapitel:
- Schrift und Orthographie unter historischer Perspektive
- Systematische Aspekte der deutschen Orthographie
- Didaktik der deutschen Orthographie
In einer knappen Danksagung benennt Günther Thomé die akademischen Lehrer und Diskussionspartner, die sein „wissenschaftliches Denken nachhaltig geprägt“ (S. 7) hätten: „Peter Eisenberg, Renate Valtin, Gerhard Augst und Wolfgang Eichler“ (S. 7).
In der folgenden Einleitung erläutert der Autor die Zielsetzung und die Konzeption des Buchs, das vorliegende, voluminöse Grammatiken ergänzen und durch die Zusammenschau von Sprachhistorie, Sprachsystematik und Sprachdidaktik bereichern soll.
Das erste Kapitel unter der Überschrift „Schrift und Orthographie unter historischer Perspektive“ spannt einen weiten Bogen von der Frühphase der Schrift, über die Entstehung der Keilschrift bei den Sumerern bis hin zu der Frage, in welchem Verhältnis Schrift und Laute gestanden haben: „Die meisten Schriftzeichen sind Symbole für sprachliche Einheiten auf der lautlichen Ebene.“ (S. 19) Darüber hinaus zeichnet Thomé die Entwicklung der Alphabetschrift kenntnis- und materialreich nach. Ferner beleuchtet er die Entwicklung der neuhochdeutschen Orthographie zwischen 1530 und 1850. In diesem Kontext untersucht er die Entstehung der Prinzipien der deutschen Orthographie, indem er exemplarisch wichtige Werke zur deutschen Grammatik und Orthographie (publiziert zwischen 1525 und 1891) mustert. Dazu werden Aussagen zu Regeln der Rechtschreibung von wichtigen Grammatikern wie Fabian Frangk, Christoff Walther, Christian Gueintz, Hieronymus Freyer oder Johann Christoph Adelung herangezogen. Differenziert wird dies durch die Erläuterung der Veränderungen einiger Schriftzeichen und ihrer jeweiligen Funktionen für „i“, „ie“, „j“ und „ü“ sowie „u“, „v“, „w“ und „y“. Abgerundet wird das Kapitel durch einen knappen Blick auf neuere Entwicklungen im Bereich der deutschen Orthographie, worunter Günter Thomé neben der Rechtschreibreform von 1995 auch das 19. Jahrhundert rechnet, indem er neben Konrad Duden auch Rudolf von Raumer und die 1. Orthographische Konferenz berücksichtigt.
Daran schließt sich das zweite Kapitel des Buches an. Dieser Teil fokussiert systematische Aspekte der deutschen Orthographie. Ausgangspunkt ist hierbei die Frage, was überhaupt eine Schriftsprache ausmacht. Unter Bezug auf Nikolaj Trubetzkoy hält der Autor für das Verhältnis von Sprechlauten und Phonemebene fest, „dass ausgehend von der Phonemfolge einer universalen Normebene die Laute der zu sprechenden Wortform und die Grapheme der zu schreibenden Wortform jeweils die mündlichen und schriftlichen Realisationen einer gemeinsamen phonematischen Wortform darstellen“ (S. 48). In diesem Kapitel skizziert der Sprachwissenschaftler differenziert und sprachgeschichtlich begründet seine Kernthese, indem er auf das Verhältnis von Standardlautung zu Standardschreibung sowie auf die Beziehung von Lauten und damit verbundenen Schreibweisen eingeht. Dazu stellt er eine empirische Untersuchung vor, die auf einer Häufigkeitsauszählung von Phonemen in deutschsprachigen Texten basiert. Die Untersuchung liefert das Ergebnis, „dass sich 100.000 Phonemen (…) genau 100.000 Grapheme zuordnen ließen.“ (S. 60) Ferner lässt die Studie eine Unterscheidung in Basisgrapheme und Orthographeme hinsichtlich der Frequenz deutlich werden, was Auswirkungen auf den Sprachunterricht hat.
Das umfangreiche dritte Kapitel untersucht, wie auf der Basis der ersten beiden Kapitel Rechtschreibunterricht gestalten werden soll und welche Herausforderungen dabei bestehen. Auch in diesem Kapitel greift Thomé zeitlich weit zurück, indem er Konzepte aus 500 Jahren berücksichtigt. Im Kontext der Darstellung buchstabenorientierter Ansätze kritisiert er einen verkürzt-fehlerhaften Umgang mit ABC-Listen und mit der Präsentation von Buchstaben, ferner betrachtet er die Konzeption von Anlauttabellen. Auch die Sichtung der gängigen Silbenkonzepte, der Wortbilddidaktik und der sog. Ganzheitsmethode führt wegen der Methodik der jeweiligen Konzepte zu einer kritischen Distanzierung. Stattdessen verweist er konzeptionell auf die Methodik, Schülerinnen und Schülern die Basisgrapheme in einer verbundenen Schreibschrift zu vermitteln, d.h. eine Abkehr von einer Buchstabenorientierung beim Rechtschreiblernprozess. Insofern verändert sich auch der Blick auf orthographische Fehler, welcher stärker als Lernerfahrung bzw. Lernstufe der Schüler und mit dem Ziel einer individuellen Förderung durch die Lehrkraft wahrgenommen werden sollte. Im letzten Teil dieses Kapitels wendet sich der Autor der LRS- bzw. Legasthenie-Problematik zu. Hierfür wählt er einen historischen Zugang und zeigt, dass das Thema theoretisch mit Diskrepanz und der Annahme einer Korrelation von Lese- und Rechtschreibleistungen zusammenhängt, was seiner Meinung nach jedoch empirisch nicht haltbar ist. Mit anderen Worten: „Sehr schwache Leseleistungen können bei einer unauffälligen Rechtschreibleistung auftreten und umgekehrt“ (S. 105). Zielgruppenspezifisch und adressatengerecht sind daher die abschließenden Praxistipps, die sich sowohl auf geeignete Maßnahmen für die Sprachförderung (wie zum Beispiel Fördersitzungen) als auch auf die Bedeutsamkeit von fachlich qualifiziertem Förderpersonal beziehen.
Abgerundet wird das Buch durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein hilfreiches Sachregister zur schnellen Leseorientierung.
Diskussion
Seit der Rechtschreibreform am Ende des vergangenen Jahrtausends ist in einer breiteren Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Schwierigkeiten des Rechtschreibens gewachsen. Die Erkenntnis, dass ohne eine solide Rechtschreibung kommunikative Prozesse erschwert sind, hat seit der Reform zu einigen Irritationen und Verunsicherungen beim Sprachgebrauch geführt. Die Frage nach Strategien im Umgang mit Rechtschreibschwächen und wachsenden Rechtschreibproblemen ist virulent, Arbeitgeber und Ausbildungsbereiche klagen vehement über schlechte Leistungen der nachwachsenden Generation. Daher verdient Thomés Buch grundsätzlich Aufmerksamkeit, da es kompakt relevante Aspekte für die historische Genese der deutschen Sprache liefert und mit hohem Problembewusstsein auf Ursachen von Vermittlungsfehlern hinweist.
Man wird nicht jeder Einzelaussage des Buches zur Graphem-Orientierung bedingungslos folgen müssen, jedoch zeigt Günther Thomé, warum eine Buchstaben- oder Silbenorientierung bei kommenden didaktisch-pädagogischen Bemühungen mit großer Skepsis zu betrachten ist.
Fazit
Insgesamt ist das Buch „Deutsche Orthographie“ von Günther Thomé für all jene zu empfehlen, die eine solide und grundlegende Einführung in das vielfältige Thema von Orthographie suchen. Dabei werden die Aspekte Rechtschreibung und Rechtschreibvermittlung im Kontext von Unterrichtsprozessen miteinander verknüpft. Auf der Höhe der aktuellen Forschung stehend, zeigt es einen Zusammenhang zwischen Sprachgeschichte und Rechtschreibdidaktik auf, der in einer solch konzisen Form bislang kaum herausgestellt wurde. Insofern liegt ein fachlich fundiertes, durch zahlreiche farbige Abbildungen und Tabellen abwechslungsreich und lesemotivierend gestaltetes und insgesamt anregendes Buch für einen breiten Leserkreis vor, das als ein erster Einstieg in die Thematik für Studierende wie praktizierende Lehrkräfte zu empfehlen ist.
Rezension von
Dr. Torsten Mergen
Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.1
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Es gibt 41 Rezensionen von Torsten Mergen.
Zitiervorschlag
Torsten Mergen. Rezension vom 10.07.2018 zu:
Günther Thomé: Deutsche Orthographie. Historisch - systematisch - didaktisch : Grundlagen der Wortschreibung. ISB-Fachverlag
(Oldenburg) 2018.
ISBN 978-3-942122-24-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24500.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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