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Hamed Abdel-Samad: Integration Ein Protokoll des Scheiterns

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 26.07.2018

Cover Hamed Abdel-Samad: Integration Ein Protokoll des Scheiterns ISBN 978-3-426-27739-3

Hamed Abdel-Samad: Integration. Ein Protokoll des Scheiterns. Droemer Knaur (München) 2018. 271 Seiten. ISBN 978-3-426-27739-3. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR.

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Autor

Hamed Abdel-Samand wurde 1972 bei Kairo als drittes von fünf Kindern eines sunnitischen Imams geboren, 1995 kam er als Student nach Deutschland. Damals war er noch Mitglied der radikal-islamischen Muslimbruderschaft, doch er hatte seine „Damaskus-Erlebnisse“ und wurde vom Saulus zum Paulus. Hierzulande ist der deutsch-ägyptischer Politikwissenschaftler und Publizist vor allem als Autor islamkritischer Werke bekannt – und als solcher umstritten. Unstrittig ist, dass er wegen seiner Islam-Kritik seit 2013 aufgrund einer Fatwa mit dem Tode bedroht ist und deshalb unter deutschem Polizeischutz steht.

Das schätzt der Autor im vorliegenden Buch durchaus doppelwertig ein: „Ein Schriftsteller, der sich kritisch zum Islam äußert, braucht [in Deutschland!] rund um die Uhr Polizeischutz. Dass der Staat mir diesen Schutz uneingeschränkt zur Verfügung stellt, zeigt, dass die Meinungsfreiheit immer noch ein hohes Gut ist. Es zeigt aber auch, dass es Bedrohungen von innen und außen gibt, die danach trachten, das, was das Land ausmacht, zu zerstören.“ (S. 59)

Wer Weiteres zum Autor erfahren möchte: der Wikipedia-Eintrag zu ihm gibt einen sehr umfassenden Überblick über dessen Leben und Werk. Wer noch nichts von ihm gelesen hat und dem Lesen als Möglichkeit der Wissensaufnahme eher zurückhaltend gegenüber steht, sei verwiesen auf ein online in der 3satMediathek verfügbares Interview, das der kluge Peter Voß mit ihm über eine dreiviertel Stunde geführt hat (www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=58233).

Wogegen der Autor seit der Zeit, da er dauerhaft in Deutschland lebt, in all seinen öffentlichen Stellungnahmen ankämpft, ist der politische Islam und die aus dem Islam bzw. einem bestimmten Verständnis des Islam gespeiste Kultur des Patriarchats. Ferner weist er immer wieder darauf hin, dass die deutsche Politik den politischen Islam hofiere sowie Politik und Gesellschaft in Deutschland fortwährend hereinfiele auf eine von namhaften Migrant(inn)en – nicht nur den üblichen Erdoğan-Deputierten, sondern auch vielen Migrationsforscher(inne)n – vorgebrachte Behauptung, die deutsche Gesellschaft sei Migrant(inn)en gegenüber vor allem diskriminierend und die Migrant(inn)en daher vorwiegend Opfer.

Thema

Das Thema des Buches ist weitaus enger, als der – sicherlich verkaufsträchtige – Titel auf den ersten Blick nahelegt. Es geht nicht um Integration im Allgemeinen, irgendwo und alle Migrant(inn)engruppen in den Blick nehmend. Vielmehr ist das Buch die Entfaltung und Begründung einer Doppel-These:

  1. Die Integration eines bedeutsamen Anteils von Migrant(inn)en mit türkischen und arabischen Wurzeln, beide aus dem islamischen Kulturkreis, sei in Deutschland (und anderen west- und mitteleuropäischen Staaten) gescheitert.
  2. Dies sei vor allem auf Besonderheiten des Islam als Denk- und Handlungskonzeptes zurückzuführen.

Aufbau und Inhalt

Die Entfaltung und Begründung dieser Doppelthese vollführt der Autor in elf Kapiteln, denen er zwei nachfolgen lässt, in denen eine Alternative skizziert wird: Integration ist möglich. Ein neuer Marshallplan für Deutschland (12. Kap.) und Ein Blick in die Zukunft (13. Kap.). Im danach folgenden kurzen Anhang finden sich Dankesworte – auch und besonders für die zahlreichen Gesprächspartner(innen) – sowie ein Verzeichnis der Quellen, das hauptsächlich aus Internetlinks besteht.

Eröffnet wird das Buch mit der Einführung Das Märchen von der gelungenen Integration, wo der Autor, das Themenfeld einengend, seine Doppelthese präzisiert: „Die gut integrierten Muslime haben all das, was sie in dieser Gesellschaft erreicht haben, nicht geschafft wegen des Islam und auch nicht wegen der politischen Aufwertung der Islamverbände. Sondern weil sie auf verschiedenen Ebenen ganz individuelle Entscheidungen getroffen haben. Gescheitert ist aus meiner Sicht dagegen der Versuch, Muslime als Kollektiv zu integrieren, durch Institutionalisierung des Islam, durch Religionsunterricht oder durch Staatsverträge mit den konservativen Islamverbänden. Der Versuch, Muslime als Kollektiv zu integrieren, hat jedoch zwei Schönheitsfehler: Es gibt nicht die Muslime; leider fallen die konservativen stärker auf und sind lauter, deshalb bestimmen sie nicht nur den Diskurs, sondern auch das Bild, das weite Teile der Gesellschaft von Muslimen haben. Die Konzentration auf sie stärkt Integrationsverweigerer und wertet die Kultur des Patriarchats politisch auf. Gleichzeitig wird es für die hiesigen Gegner der Integration leichter, all jene zu ignorieren, die sich längst als Teil dieses Landes verstehen. Hinzu kommt, dass der Staat bei den oben genannten Maßnahmen den Fehler machte, die Integrationsbemühungen zu islamisieren und damit letztlich die Gegner der Integration auf muslimischer Seite zu Wächtern des Integrationsprozesses zu machen. Nicht das Individuum wurde in seinen Rechten und Kompetenzen bestärkt, sondern das religiöse und patriarchalische Kollektiv, das dem Individuum eigentlich im Wege steht.“ (S. 16-17)

An späterer Stelle hat der Autor angesichts des auf dem hier betrachteten Felde zu konstatierenden Versagens üblicher Vorgehensweisen der empirischen Sozialforschung (dazu ausführlich unten) seine eigene Methode der Datengewinnung dargelegt: „Deshalb habe ich mich entschieden, mit Migranten aus unterschiedlichen Generationen zu reden und sie nach ihrer ganz persönlichen Integrationsgeschichte zu fragen. Ich habe mit Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation gesprochen, mit Flüchtlingen und Flüchtlingshelfern, mit Schülern und Lehrern, mit Psychologen, Soziologen, Polizisten und Migrationsforschern. Es ging mir dabei nicht um die Sammlung von Anekdoten und Argumenten, die wahlweise die These des Scheiterns oder des Erfolgs von Integration hätten bekräftigen können, sondern um die Suche nach strukturellen und ideologischen Fehlern aus der Vergangenheit, die bis heute nachwirken oder noch bestehen.“ (S. 65)

Das zentrale Ergebnis seiner Interviews und damit in Verbindung gebrachter Vorkenntnisse und Reflexionen ist dieses: „Die Integration scheitert in den Bereichen Bildung, Erziehung und Wertevermittlung. Sie scheitert an Identitätshygiene, an Ab- und Ausgrenzung. Die rückwärtsgewandten Utopien im Kopf vieler Migranten, aber auch die nationalistischen Vorstellungen des rechten Randes in Deutschland gefährden das Zusammenleben und die innere Sicherheit. Die Integration scheitert an der Politisierung und Institutionalisierung des Islam in Deutschland und an der Passivität der friedlichen Muslime. Sie scheitert an konkurrierenden Wertesystemen und Zukunftsvisionen, an Opferhaltung und Anspruchsmentalität. Sie scheitert an Radikalisierung und Gewalt, an gegenseitiger Angst und Misstrauen. Sie scheitert an der starken Emotionalisierung der Debatte um Islam und Migration und am Fehlen einer offenen Streitkultur. Sie scheitert am Begriff Integration selbst, der für die einen ein Reizwort ist und für die anderen ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.“ (S. 65-66)

Das Buch hat zumindest vier Sachaspekte, die, weil über den aktuellen Anlass hinaus von Bedeutung, eine gesonderte thematische Betrachtung rechtfertigen.

Vier Aspekte der Integration

Da ist zunächst die Frage, was man unter „Integration“ zu verstehen habe. Die Gesellschaftswissenschaften (Sozialwissenschaften) unterscheiden, und dieser Differenzierung folgt der Autor, bei Betrachtung von Integration zwischen:

  • strukturelle Integration (wo Bildungs- und Arbeitsmarktdaten und weitere strukturelle Daten wie etwa zur Gesundheit eine Rolle spielen),
  • kulturelle Integration (die hier betrachteten Signifikanten umfassen Dinge wie Kopftuch-Tragen, Teilnahme am schulischen Sport- und Schwimmunterricht oder zur Sprachkompetenz),
  • soziale Integration (hier werden soziale Außenkontakte betrachtet: Freundschaften, Vereinsmitgliedschaften, nachbarschaftliche Beziehungen u.a.m.) und
  • emotional-affektive bzw. identifikative Integration (Zugehörigkeitsgefühl zu den Werten des Immigrationsland)

Diese Unterscheidung ist keine empirisch gewonnene, sondern eine analytische, vorab durch mehr oder minder kluge Überlegungen gesetzte. Ob diese theoretische Unterscheidung empirisch haltbar ist, wurde bislang nicht erforscht. Empirische Untersuchungen zur Konvergenz- bzw. Diskriminanzvalidität, also zu Fragen, ob die genannten vier Aspekte Verschiedenes oder das Gleiche meinen bzw. wie groß die Überlappungsbereiche sind, fehlen. Ebenso gibt es keine empirische Studien, die anzeigen würden, dass die eine oder andere Form notwendige Voraussetzung oder Folge der andere(n) sei. Die Vorstellung etwa, aus gelungener strukturelle, kultureller und sozialer Integration folge mit Zwangsläufigkeit die identifikative ist durch Nichts gerechtfertigt – und empirisch schwerlich haltbar, wie gleich noch zu zeigen sein wird.

Identifikative Integration

Hamad Abdel-Samad weist – m.E. zu Recht – darauf hin, dass von den vier Integrationsaspekten der erste sowohl in der in der sozialwissenschaftlichen Forschung (auch wegen des leichteren Zugangs zu Daten) als auch in der politischen Diskussion (wo der „Arbeitskräfte“-Aspekt dominiert) überbetont ist, während der vierte meist gar nicht in den Blick gerät. Das hält der Autor – und ich stimme ihm darin zu – für einen Fehler. Weshalb? Weil wir sonst für bestimmte, integrationspolitische höchst bedeutsame Phänomene einfach kein Sensorium haben.

Der Autor nennt (auf S. 19) als prominentes Beispiel für einen Menschen, der unter strukturellen, kulturellen und sozialen Gesichtspunkten als „gut integriert“ anzusehen ist, den an der Technischen Universität Hamburg-Harburg zum Ingenieur für Stadtplanung diplomierten Mohammed Atta. Der war bekanntlich einer der fünf Entführer – wahrscheinlich war er der Anführer – des ersten Flugzeugs, das bei den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den Nordturm des World Trade Center gesteuert wurde. Mohammed Atta war, wie wir heute mit aller Sicherheit wissen, Salafist; mit den Werten des „Westens“ (im Sinne von Winkler, 2016; vgl. Heekerens, 2016) konnte oder wollte er sich nicht identifizieren, er hielt sie für Teufelszeug. Keine(r), die der ihn lediglich „von außen“ kannte, hätte ihm den New Yorker Massenmord zugetraut. Am wenigsten sein Vater (vgl. Brinkbäumer, 2001), der noch im Nachhinein, als genügend Beweise auf dem Tisch lagen, seinen Sohn nicht als Täter sehen mochte sondern nur als Opfer – des israelischen Geheimdienstes Mossad, wessen denn sonst?

Sicherlich hätte der Autor, wäre das Buch nicht bereits veröffentlicht gewesen, in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass man nicht Salafist sein muss, um Zweifel daran zu erwecken, dass es einem bei / trotz aller Integration in struktureller, kultureller und sozialer Hinsicht an identifikativer Integration mangeln kann. Und als Beleg angeführt hätte er sicherlich das Verhalten der deutschen Nationalspieler Ilkay Gündogan und Mesut Özil. Die trafen sich kurz vor den türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018, also zu bester Wahlkampfzeit, in London (in Deutschland wäre das nicht möglich gewesen) mit Recep Tayyip Erdoğan, der nunmehr eine Machtbefugnis hat, die die Bezeichnung „der neue Sultan von Ankara“ rechtfertigt. Als hätte ein bloßer Fototermin nicht gereicht, überreicht Ilkay Gündogan Recep Tayyip Erdoğan vor den Kameras sein Trikot mit einem handgeschriebenen türkischen Satz, der sinngemäß übersetzt: „Für meinen Präsidenten“ bedeutet.

Es hieße, die Intelligenz der beiden Spieler und ihrer Berater von Family & Football beleidigen, wollte man das alles als Dumme-Jungen-Streich abtun. Der Ex-Nationalspieler Thomas Strunz kommentierte das Geschehen am 2.7.2018 in seiner Kolumne bei Sport1 mit den Worten „Man stelle sich mal vor, Thomas Müller oder Manuel Neuer hätten sich mit einem AfD-Politiker ablichten lassen.“ (www.sport1.de/fussball/fifa-wm-2018/2018/07/wm-2018-thomas-strunz-zu-toni-kroos-und-thomas-mueller-nach-dfb-blamage) Es gibt härtere Kommentare zu Ilkay Gündogans und Mesut Özils emotional-intellektuellen Kniefall.

Von den Grenzen der empirischen Sozialforschung

So etwas wie „Identifikative Integration“ mit Mitteln der empirischen Sozialforschung zu erfassen, ist in methodischer Hinsicht eine sehr große Herausforderung. Und keine der hierzu in oder für Deutschland gemachten Untersuchungen, darin stimme ich dem Autor aus methodenkritischer Sicht zu, hat diese wirklich erfasst. Ergebnisse, die dafür ausgegeben werden, sind widersprüchlich und die Methodik der jeweiligen Studien äußerst fragwürdig. Der Autor zieht aus alledem den Schluss, dass man in Sachen „Integration“ Wirkliches und Wahrhaftiges eher erfahre, wenn man statt auf die Resultate von „Umfrageergebnissen“ zu starren, man sich auf anderen Wege ein Bild mache (s.o. zu seiner Vorgehensweise).

Das führt zu Ergebnissen, die nicht weniger Zweifel an ihrer Objektivität, Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) wecken als Resultate von Forschungen, die von einschlägig erfahrenen Forschungsunternehmen im Auftrag von Institutionen mit gutem Leumund „fabriziert“ – „konstruiert“, wem der Begriff lieber ist – wurden. Betrachten wir exemplarisch nur ein einziges so verfertigtes Resultat. Aus dem „Religionsmonitor 2017“ der in Kreisen der Sozialen Kultur als „seriös“ gehandelten Bertelsmann-Stiftung mit seiner zentralen Botschaft: „Integration von Muslimen in Deutschland macht deutliche Fortschritte“ (www.bertelsmann-stiftung.de).

Wenn man sich dieser Studie mit methodenkritisch geschärftem Blick nähert, wird einem je länger je mehr deren methodische Unzulänglichkeit deutlich. Da gibt es etwa die Frage zu den „interreligiösen Kontakten“ von Muslimas und Muslimen (S. 32 Abb. 5). Die entsprechende Frage lautet: „Und wenn Sie nun an Ihre regelmäßigen Freizeitkontakte insgesamt denken: Wie häufig haben Sie in Ihrer Freizeit Kontakt zu Menschen anderer Religionen?“ Die Antwortkategorien: 1 „sehr häufig“; 2 „eher häufig“; 3 „eher selten“; 4 „selten“; 5 „gar nicht“. Ja, Himmel hilf, sieht man denn den Menschen an, dass sie nicht muslimischen Glaubens sind? Es gibt in Deutschland „Biodeutsche“, die zu Allah beten, und noch mehr „türkisch“ oder „orientalisch“ aussehende Menschen, die keiner Religion (mehr) angehören oder aber einer nicht-muslimischen: Jesid(inn)en etwa oder Armenier(innen), Bahais und auch orientalische Christ(inn)en.

Fragt man denn die (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer Religion bei so etwas wie „regelmäßigen Freizeitkontakten“ mit Anderen systematisch ab? Und wie ist das eigentlich mit jenen Anderen, die gar keiner Religion angehören? Von denen soll es ja in Deutschland – vor allem unter solchen mit christlichen (Groß-)Eltern schon eine gehörige Menge geben. Ich habe meinen Sohn, Ende 20, in Neukölln lebend angefragt, ob er denn wisse, wer von seinen „regelmäßigen Freizeitkontakten“ überhaupt einer Religion angehöre und – falls ja, welcher. Er hat nur schallend gelacht, die Frage für blanken Unsinn erklärt und dann hinzugefügt, nur einem Oldie vom Dorf wie mir könne eine solche Frage in den Sinn kommen.

Kommen wir aber jetzt zu jener Frage (S. 33, Abb. 6) deren Beantwortung als Beleg dafür genommen werden könnte und dies auch faktisch wird, dass die in Deutschland lebenden Muslimas und Muslime eine extrem hohe Identifikation mit den Werten ihres Zuzugslandes aufweisen und sich damit in Sachen „Identifikative Integration“ alles bestens darstelle. Dieser Einschätzung zu Grunde liegen die Antworten auf die Frage: „Wie verbunden fühlen Sie sich mit Deutschland?“ Die Antwortkategorien heißen: „sehr verbunden“, „eher verbunden“, „eher nicht verbunden“ und „überhaupt nicht verbunden“. Die beiden ersten Kategorien zusammengefasst, findet sich für Deutschland – sowohl für die erste Immigrant(inn)engeneration als auch für die nachfolgende – der Wert von 96 Prozent! Und das ist in den anderen betrachteten Ländern (Frankreich, Großbritannien, Österreich und Schweiz) nicht wesentlich anders. So viel uniformes „Hurra“-Geschrei weckt bei empirisch verfahrenden Sozialwissenschaftler(inne)n allen Argwohn. Vor allem bei einer Befragung, deren Daten anhand eines Fragebogens mit vorgegebenen Antwortkategorien in Deutschland per Telefoninterview – Teilnahme freiwillig! – erhoben wurden.

Es gibt gleich drei Gründe, hier aus methodischen Gründen skeptisch zu sein: mangelnde Repräsentativität der Stichprobe, soziale Erwünschtheit als Verfälschungstendenz der Beantwortung und Inhaltsleere (mangelnde Validität) der Frage und somit auch der Antwort.

Zum ersten: Die betrachtete Stichprobe mag ja nach üblichen Maßstäben „repräsentativ“ sein (nachprüfen kann man das wegen fehlender Angaben im Bericht nicht!), aber eben nur repräsentativ hinsichtlich der üblichen Indikatoren wie Alter, Geschlecht, Bildungs- und Zivilstand, Herkunftsland, Religionszugehörigkeit und Indikator(en) des sozioökonomischen Status. Die Repräsentativität konnte hier aber nicht – und das gilt für alle vergleichbaren Untersuchungen – geklärt werden hinsichtlich bestimmter Personenmerkmale, die für die Frage der Beantwortung von Bedeutung sind.

Um es konkret zu machen: Wer als Immigrant(in) mit diesem Land und seinen Werten nichts am Hut hat, sondern sich aus ethnischen, religiösen oder anderen Gründen absondert, wird telefonische Interviewanfragen, die ja völlig zu Recht als „von denen da draußen“ wahrgenommen werden, nicht annehmen. Manche können noch nicht einmal ablehnen, weil sie – und das trifft eben nicht nur für viele hier lebenden verheirateten Muslimas zu – entweder kein Telefon haben, die Benutzung desselben vom Ehepatriarchen geregelt ist und/oder Fremdkontakte der Art wie sie besagtes Interview nun einmal darstellen, ohne vorherige Genehmigung von Vater, Ehemann oder (ältestem) Bruder für viele Muslimas auf der Verbotsliste stehen.

Aber nehmen wir nun einmal an, ein Gespräch käme überhaupt zustande – was in vielen Fällen voraussetzt, dass auf Interviewerseite das passende Geschlecht, eine kompatible Religionszugehörigkeit und ausreichende Sprachkenntnis gegeben sind –, dann ist es hoch wahrscheinlich, dass auf die o.g. Frage eine „Verzerrung“ nach oben erfolgt – wegen eines Faktors, der als „Soziale Erwünschtheit“ bekannt ist. Gemeint ist damit eine Antworttendenz bzw. -verzerrung bei Befragungen in Sozialwissenschaft und Marktforschung sowie psychologischen Testverfahren, wenn Befragte bevorzugt Antworten geben, von denen sie glauben, sie träfen eher auf soziale Zustimmung als die wahre Antwort, bei der sie soziale Ablehnung befürchten. Was Migrant(inn)en als Erstes und wichtigstes lernen, ist, dass es klug ist, der Mehrheitsgesellschaft – wenn es nichts kostet – nach dem Mund zu reden. Und die Interviewer(innen) von Umfrageinstitutionen sind nun mal, da haben die Migrant(inn)en doch völlig Recht, Repräsentant(inn)en der Mehrheitsgesellschaft.

Aber selbst, wenn wir annähmen, die Repräsentativität im erweitern Sinne, wie oben beschrieben, sei gewährleistet und Verzerrung wegen Sozialer Erwünschtheit sei bewiesenermaßen ausgeschlossen, was wüssten wir dann, erführen wir, dass 96 Prozent der in Deutschland lebenden Muslimas und Mulime die Frage „Wie verbunden fühlen Sie sich mit Deutschland?“ mit „sehr verbunden“ oder „eher verbunden“ beantwortet haben? Nichts. Zumindest aber: nichts Genaues bzw. nichts Sinnhaftes. Nehmen wir etwa jenen Berliner Clan mit libanesisch-türkischem Migrationshintergrund, der mit aller Sicherheit, die solidem Journalismus hierzulande abverlangt wird, für den Diebstahl einer 3,75 Millionen teuren Goldmünze (das ist der reine Materialwert) verantwortlich ist (Hollenstein, Musharbash, Stark, Timm & Zimmermann, 2018).

Die auskunftsberechtigten und mitteilungswilligen Mitglieder dieses Clans würden die Frage „Wie verbunden fühlen Sie sich mit Deutschland?“ ohne Zögern und Skrupel mit „sehr verbunden“ beantworten können. Kein schöner Land in dieser Zeit – für Gangsterclans mit Spezialgebiet Einbruch und Diebstahl. Besagte Goldmünze konnte geklaut werden, weil ein bestimmtes Fenster des Berliner Bode-Museums nicht elektronisch gesichert – da sind selbst kleinbürgerliche Hausbesitzer(innen) besser drauf – und der Einbruchsdiebstahl somit ein Kinderspiel war. „Kinderspiel“ heißt Zweierlei. Zum einen liegt die Aufklärungsquote von Einbruchsdiebstählen liegt in Deutschland seit Jahren konstant unter 20 Prozent (willkommen im deutschen „Rechtsstaat“). Zum anderen beauftragte der Clan damit seine Kids, die, falls es denn überhaupt zu Aufklärung und Anklage käme, nach dem großzügigen Jugendstrafrecht Deutschlands mit mildesten Strafen rechnen dürfen – wohlwollende Richter(innen), engagierte Anwältinnen und Anwälte werden mit Unterstützung des verständnisvollen Jugendamtes und anderswo her) dafür sorgen. Also nichts mit Handabhacken, und der Clan muss sich auch nicht sorgen, dass – anders als im Herkunftsland Libanon – hier pistolenbestückte Fahnder der Bestohlenenseite auftauchen.

Die „Verbundenheit der Muslime mit Deutschland“ und die Liebe zu Erdoğan

Nun kann man jenen Berliner Clan ebenso unter „Einzelfälle“ abtun wie Mohammed Atta, Ilkay Gündogan und Mesut Özil. Bleiben wir hier bei den harten Kriterien der empirischen Sozialforschung, die die bislang im Falle der Identifikativen Integration vorgebrachten Beispiele zu Recht als Einzelfälle behandeln muss. Gehen wir also zu den von der empirischen Sozialforschung akzeptierten „harten Fakten“. Um das zu tun, müssen wir, weil die verfügbaren Daten das erzwingen, die Beobachtungskategorien wechseln: von „muslimisch“ zu „mit türkischem Migrationshintergrund“. Damit geht nach allen von mir durchgeführten Recherchen und Berechnungen ein kleiner und für die zentralen Aussagen unbedeutender Fehler einher, weil mindestens 95 Prozent der nachfolgend betrachteten Erdogan-begeisterten Türk(inn)en muslimischen Glaubens sind.

Die mögen ja ganz überwiegend, wenn nicht ausschließlich die Bertelsmann-Frage „Wie verbunden fühlen Sie sich mit Deutschland?“ mit „sehr verbunden“ oder „eher verbunden“ beantwortet haben. Da sagt aber nichts darüber aus, ob die Werte dieses Landes, wie sie sich aus dessen Grundgesetz ergeben, Leitschnur ihres Denkens und Handelns sind. Wären sie das, sie hätten dem „Sultan von Ankara“, der viele und bedeutsame Artikel des deutschen Grundgesetzes mit Füßen tritt, nicht in den Sattel geholfen und die Knie vor ihm gebeugt. Hat aber eine stattliche Anzahl von ihnen. Bei der Präsidentenwahl im Juni 2018 hat von den in Deutschland lebenden Wahlberechtigten mit türkischem Pass rund die Hälfte gewählt. 64 Prozent von ihnen stimmten für Recep Tayyip Erdoğan - 12 Prozent mehr als im Mittel der Türkei.

Da platzte selbst der geduldigen ZEIT-Redaktion der Kragen und Michael Thumann, deren außenpolitischer Korrespondent und bis 2013 Nahost-Korrespondent in Istanbul, erklärte „Interessenverbände haben zur Erklärung mal wieder die mangelnden Integrationsbemühungen deutscher Behörden angeprangert. Irrtum! Viele dieser Erdoğan-Fans leben vielleicht noch in Deutschland, aber ihr Kopf steckt ganz in der medial-digitalen Blase der Türkei. Erdoğans Sieg gibt ihnen Statusbewusstsein und Selbstgefühl. Wenn er stark ist und allen die Faust zeigt, dann können sie das auch.

Dabei leben sie übrigens in der besten aller Welten. Sie genießen die Freiheit hier und wählen den Autokraten dort, bekommen allerdings die Folgen ihres Wahlverhaltens nicht zu spüren.“ (Thumann, 2018, S. 1)

Das Wahlverhalten der in Deutschland lebenden Wahlberechtigten mit türkischem Pass bei der Präsidentenwahl 2018 ist ja kein Einzelfall, ein übereinstimmendes Ergebnis fand sich ja schon beim Verfassungsreferendum vom April 2017. Canan Topçu hatte nach dem Verfassungsreferendum in der ZEIT erklärt: „Dieses Votum sagt nicht, was alle Deutschtürken denken“ (Topçu, 2017) Das ist richtig. Es gibt freilich gleich zwei „Aber“. Zum einen sind die in Deutschland lebenden Erdoğan-Verehrer(innen) keine „kleine, radikale Minderheit“. Und zum anderen: Viele hierzulande, der Autor und ich eingeschlossen, vermissen bis heute eine klare politische Stellungnahme der „Deutschtürken“ gegen die Erdoğan-Fans.

Der algerische Freund und der türkische Barbier

Im zweiten Buchkapitel erzählt der Autor von Begegnungen und Gesprächen mit zwei Deutschland-Immigranten muslimischen Bekenntnisses, die ihm prototypisch scheinen für zwei unterschiedliche Modelle von „Integration“, die bei aller Verschiedenheit doch auf das Gleiche hinaus liefen: „Die Deutschen“ kriegen die miesen Rollen: die der Bösen oder jene der Blöden:

„Der algerische Freund steht stellvertretend für die apologetischen Islamvertreter, die sich ständig über Rassismus und die Diskriminierung von Muslimen beschweren, sich aber nie selbstkritisch zu den Missständen innerhalb der muslimischen Communitys, Moscheen und Bildungseinrichtungen äußern. Die Haltung des [türkischstämmigen] Barbiers mündet in das lukrative Integrationsgeschäft: Der deutsche Kunde will gerne Integration, also verkaufe ihm die Integration so teuer, wie Du nur kannst. Er steht für die unzähligen Vereine, Integrationslotsen und Kiezmanager, die ihre Existenz gerade einer nicht gelungenen Integration verdanken: Je gescheiterter die Integration, desto mehr Fördergelder fließen in solche Projekte.“ (S. 48)

Diskussion

Ich habe mich während meines Studiums der Evangelischen Theologie (1967-1984) neben dem Christentum in seiner konfessionellen Breite auch mit anderen Religionen befasst, davon mit dem Judentum und dem Islam näher. Ich habe in jenen Jahren fortgeführt, was ich 1965 mit einem Aufenthalt in Mostar und Sarajewo begonnen hatte: Längere Reisen in Länder rund ums Mittelmeer, in denen Muslime die Mehrheit stellen: von der Türkei bis nach Marokko und auch 1968 in die von Israel nach dem Sechstagekrieg besetzten Palästinensergebiete. Ich hatte nicht viel Geld, was zwangsläufig dazu führte, dass ich mit der einheimischen Bevölkerung in recht engen Kontakt kam. Am häufigsten war ich in der Türkei, und dort vor allem in Ost-, Südost- und Zentralanatolien, von wo die meisten türkischen „Gastarbeiter(innen)“ Deutschlands stammen und heute die Erdoğan-Befürworter(innen) die Mehrheit haben.

Als Reiselektüre mit dabei war von 1981 an Bassam Tibis „Die Krise des modernen Islam“ (München: Beck, 1981) und ab 1983 Werner Schiffauers „Die Gewalt der Ehre“ (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983). Die Lektüre dieser Bücher in Verbindung mit vielfältigen Reiseerfahrungen machten mir früh klar: Das ist und wird eine Immigration, auf die Deutschland schlecht vorbereitet ist. Die Erfahrungen mit den Flüchtlingen der Nachkriegszeit helfen hier ebenso wenig wie die mit „Gastarbeiter(innen)“ aus Süd- und Südosteuropa. Insofern hatte das, wovon der Autor im vorliegenden Buch berichtet, wenig Überraschendes.

Apropos Basam Tibi: An ihn als Vor-Denker erinnert das hier betrachtete Buch am meisten. Er war jener Intellektuelle, der interessierte 68er mit der arabischen Welt und dem politischen Islam vertraut machte. Dazu war der 1944 in Damaskus geborene sunnitische Muslim, aus einer traditionsreichen Damaszener Gelehrten-Familie stammend gleichsam prädestiniert. Er hat, was viele nicht (mehr) wissen, 1991 den Begriff des „Euro-Islams“ und 1998 den der „Leitkultur“ geprägt und eingeführt. Seit 2015 kritisiert er die deutsche Flüchtlingspolitik als konzeptlos. Er plädierte dafür, dass Deutschland sich von einem Zuwanderungsland zu einem Einwanderungsland entwickelt.

Das vorliegende Buch durchzieht als roter Faden, der manchmal mehr, manchmal weniger sichtbar ist, die These, die deutsche Politik hofiere den politischen Islam und Deutschlands Politik wie Gesellschaft falle fortwährend herein auf eine von vielen und namhaften Migrant(inn)en vorgebrachte Behauptung, die deutsche Gesellschaft sei Migrant(inn)en gegenüber vor allem diskriminierend und die Migrant(inn)en daher vorwiegend Opfer.

Mitte Juni 2018 lud die Bundeskanzlerin zum zehnten Mal zum Integrationsgipfel. Mit dabei war wie in der Zeit seit 2006 Ali Ertan Toprak, Alevit, Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde und Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände (BAGIV), des ältesten und größten Spitzenverbandes der Migrant(inn)endachorganisationen, Sprachrohr von rund drei Millionen Migrant(inn)en unterschiedlicher Nationalität – nur nicht der (nicht-kurdischen) Türken. Deren Vertreter(innen) aber kamen auf besagtem Gipfel hauptsächlich zu Wort. Ali Ertan Toprak wurde gleichsam auf „stumm“ geschaltet. DIE ZEIT gab ihm Anfang Juli 2018 Raum zur Darstellung (Toprak, 2018).

Hier die zentrale Passage: „Die Bundesregierung hat leider auch diejenigen gestärkt, die sich einer Wertedebatte verweigern oder unser Wertesystem in Deutschland sogar ablehnen. Brisantes Beispiel ist die Deutsche Islamkonferenz, in der ein aus der Türkei gesteuerter politischer Islam dominierte. So richtig es war, sich bundespolitisch gegen Islamfeindlichkeit zu positionieren, so unverständlich ist, dass die Bundesregierung mit Islamvertretern kooperiert, die eine antiwestliche Tradition propagieren und liberale Muslime ausgrenzen.

Doch zurück zum Gipfel. Was dort fehlte, war vor allem Selbstkritik, etwa eine kritische Stellungnahme zu antisemitischen Tendenzen innerhalb der Migrantengruppen. Stattdessen wurde Antisemitismus einseitig der deutschen Mehrheitsbevölkerung zugeschrieben.

Warum stört mich das? Ausgerechnet jene Migranten, die in Deutschland heute wichtige Positionen einnehmen, ob in Staat, Gesellschaft oder Medien, erheben permanent Rassismusvorwürfe gegen die Deutschen. Obwohl sie selbst positive Beispiele für Migration sind, suggerieren sie, Deutschland sei vor allem ein diskriminierendes Land. Statt junge Zuwanderer aufzufordern, sich als Bürger mit diesem freiheitlichen Staat zu identifizieren, drängt man sie in die bequeme Opferrolle.“ (Toprak, 2018, S. 54)

Auf S. 84 lässt der Autor des vorliegenden Buches Cem Gülay, einen prominenten türkischstämmigen Ex-Kriminellen fragen: „’Wie kann es sich eine Hauptsstadt wie Berlin leisten, dass ganze Stadtviertel fest in den Händen von Kriminellen sind?’ fragt er. Der frühere Bürgermeister von New York, Rudolph Giulani, habe mithilfe des FBI fünf mächtige Mafiafamilien in New York zerschlagen, warum könne Berlin das nicht? Giuliani habe den Central Park von Drogendealern gesäubert, warum könne Berlin nicht das Gleiche mit dem Görlitzer Park schaffen?“

Gute Fragen – auf die der Autor keine Antworten gibt. Auch der Rezensent hat keine alles-erklärenden, aber er möchte ein paar Hinweise geben, die einer Erklärung dienlich sein könnten.

  • Zunächst einmal: In wenigen anderen Städten sind die kommunalen Behörden bekanntermaßen (nach wie vor) so ineffizient wie in Berlin.
  • Zum zweiten lässt sich immer weniger leugnen, dass kriminelle Clans mit arabischen respektive türkischen Wurzeln die Berliner Polizei schon längst erfolgreich unterwandert haben.
  • Drittens: Maßnahmen wie sie Rudolph Giulani ergriffen hat, würden von einflussreichen Migrant(inn)en, deren politisch mächtigen Verbänden und stets an das Gute glaubenden Deutschen mit gehörigem Einfluss auf die (rechtlich-)öffentliche Meinung mit Verweis auf Aktionen der Einsatzgruppen und der SS als „nazistisch“, zumindest aber „fremdenfeindlich“ bezeichnen.
  • Und schließlich: Das politische Berlin kann es sich mit der Türkei, auch nicht jenem unter dem Sultan Recep Tayyip Erdoğan, wirklich grundlegend verscherzen. Die Türkei soll – gegen entsprechenden Bakschisch versteht sich – Migrant(inn)en aus deren „Hinterland“ an der Weiterreise, die in Deutschland enden könnte, hindern. Deutschland hat sich mit entsprechenden Vereinbarungen in die Hände der Türkei begeben und ist von ihr und durch sie erpressbar. Das ist Folge davon, dass Deutschland bis heute Zuwanderungsregelungen hat, für das klassische Einwanderungsstaaten wie Kanada und Australien nur Hohn und Spott übrig haben. Und es ist Folge einer deutschen Flüchtlingspolitik, in der die deutsche Bundeskanzlerin unter dem mehr oder minder laut geäußerten Protest aller EU-Partner, aber lautestem Beifall aller Gutgläubigen dieses Landes 2015 die Grenzen für unkontrollierten Zustrom von außen öffnete.

Den internationalen Finanzmärkte ist in Sachen Recep Tayyip Erdoğan jegliche Deutschtümelei fremd. In der ihnen eigenen Nüchternheit verkünden sie, dass Sultan Recep Tayyip Erdoğan doch nicht der Richtige ist: In der Nacht auf den 12.7.2018, dem abschließenden Tag vorliegender Rezension, sank die türkische Lira gegenüber dem US-Dollar auf sein historisches Tiefst! Und da hatte ich doch Ende der 1970er / Anfang der 1980er die Vorstellung, so günstig könnte ich Türkische Lira nie mehr einkaufen. Werch ein Illtum!

In manchem weiche ich, ohne dass ich ihm damit direkt widerspräche, von der Analyse des Autors ab. So etwa bei Klärung der Frage, weshalb der vierte Aspekt von Integration, jener der Identifikation mit den Werten des Immigrationslandes, im öffentlichen Diskurs Deutschlands so wenig zur Geltung gebracht wird. Ich suche den Grund für diese Geringschätzung anders als der Autor vor allem bei uns („Bio“-)Deutschen. Gerade die im öffentlichen Integrations-Diskurs wortmächtig auftretenden „Alt-Deutschen“ gehören (immer noch) mehrheitlich dem links-liberalen Lager an. Und die tun sich, was eingedenk der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht verwunderlich ist, schwer damit, „deutsche Werte“ zu bestimmen und dafür einzutreten.

Ich habe dem jüngsten Versuch, so etwas wie „Nation“ und damit zusammenhängend „Nationalbewusstsein“ für Deutsche links der politischen Mitte salonfähig zu machen, eine klare Absage erteilt (Heekerens, 2018). Dem zunehmenden türkischen Nationalismus mit einem deutschen Nationalismus halte ich weder innen- noch außenpolitisch für sinnvoll; das spielt nur der Rechten in beiden Ländern in die Hände. Aber deshalb bin ich weder ein „heimatloser Geselle“ noch mangelt es mir an einem klaren Bewusstsein der Werte des Staates, dessen selbstbewusster Bürger ich bin. Zur Benennung dieser Werte rufe ich als gleichsam „unverdächtigen Zeugen“ den jüdischstämmigen Nazi-Verfolger Fritz Bauer (1903-1968) auf, der sich nicht scheute, von dem Land, das ihn zu Nazi-Zeiten mit dem Tod bedrohte, als „Vaterland“ zu sprechen: „Vaterland meint heute die Grundwerte unseres Grundgesetzes. Das ist die Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen ist, das sind die Grundrechte, die Freiheit und die Gleichheit, die Menschen- und Nächstenliebe, wie sie in den Gedanken des sozialen Rechtsstaates zum Ausdruck kommen.“ (zitiert nach Renz, 2018)

Wer zu diesen Werten nicht steht, ist in diesem Lande fehl am Platz. Und gilt für „Bio-Deutsche“ und „Immigrant(inn)en“ gleichermaßen.

Fazit

Das vorliegende Buch ist völlig ungeeignet für Menschen, die in Sachen (Im-)Migration mit Scheuklappen – und trügen sie noch so edel klingende Aufschriften – herumlaufen. Wer in (Im-)Migrant(inn)en ausschließlich oder zumindest vorwiegend „Opfer“ sehen will, möge das weiterhin zur Wahrung des eigenen Seelenheils tun. Für alle anderen dürfte das Buch ein intellektueller Genuss sein, der sich auf die Emotionalität – konkret: Reduktion von selbst- und fremdinduziertem schlechten Gewissen – auswirken könnte.

Literatur

  • Brinkbäumer, K. (2001). „Das kann nur der Mossad“. Der Spiegel vom 1.10.2001 (online verfügbar unter www.spiegel.de/spiegel/print/d-20240184.html; letzter Aufruf am 4.7.2018).
  • Heekerens, H.-P. (2016). Rezension vom 23.05.2016 zu Winkler, H.A. (2016). Die Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart (3., durchgesehene Auflage). München: Beck. socialnet Rezension (www.socialnet.de/rezensionen/20628.php).
  • Heekerens, H.-P. (2018). Rezension vom 15.06.2018 zu Bröning, M. (2018). Lob der Nation. Weshalb wir den Nationalstaat nicht den Rechten überlassen dürfen. Bonn: Dietz. socialnet Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/24220.php).
  • Hollenstein, O., Musharbash, Y., Stark, H., Timm, T. & Zimmermann, F. (2018). Familienbande. DIE ZEIT vom 5.7.2018, S. 15–17.
  • Renz, W. (2018). Staatsanwalt wider Willen. DIE ZEIT vom 28.6.2018, S. 12.
  • Schröder, C. (2018).Im Auftrag des Rechtsstaats. DIE ZEIT vom 28.6.2018, S. 32.
  • Thumann, M. (2018). Türkisches Paradox. DIE ZEIT vom 28.6.2017, S. 1.
  • Toprak, A.E. (2018). Was wir nicht sagen durften. DIE ZEIT vom 5.7.2018, S. 54.
  • Winkler, H.A. (2016). Die Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart (3. Auflage). München: Beck (socialnet Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/20628.php).

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 182 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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ISSN 2190-9245