Andreas Hämer: Gegenstimmen. Psalmen, befreiungstheologisch
Rezensiert von Arnold Schmieder, 28.06.2018
Andreas Hämer: Gegenstimmen. Psalmen, befreiungstheologisch. Paulo Freire Verlag (Oldenburg) 2018. 172 Seiten. ISBN 978-3-86585-052-2. D: 20,90 EUR, A: 21,50 EUR.
Thema
Das Thema des Buches ist im Untertitel angegeben; es geht um die Psalmen der Bibel, die der Autor insoweit befreiungstheologisch wendet, als er sie auf heutige Zeit und Umstände übersetzt, womit er sie plausibilisiert, ohne ihre jeweiligen Inhalte anzupassen. Insofern handelt es sich um eine Neuinterpretation aus befreiungstheologischer Sicht, die aber den alttestamentlichen nervus rerum unbeschadet lässt.
Im Sinne seiner theologischen Orientierung will Andreas Hämer auch den Titel „gegenstimmen“ verstanden wissen; er möchte „ein Doppeltes ausdrücken: Gegenstimmen sind die meisten Psalmen sozusagen von Haus aus, nämlich Stimmen einer Minderheit, die oft erst später oder gar nachträglich zu ihrem Recht kam – falls überhaupt.“ Er wendet sich gegen ein Verständnis der Psalmen als „unveränderliche, heilige Texte“, und er möchte letztlich „dazu beitragen, dass den Gegenstimmen von heute Gehör verschafft wird.“ (S. 167 f.) In Gottesdiensten gehe die „gärende Unruhe in den alten Texten“ zumeist unter und „von befreiungstheologischen Akzenten ist da nichts zu spüren“, schreibt der Autor und will die „Originaltexte aus ihrer Enge herausholen, in die sie durch eine lange Geschichte der Domestikation und der Dogmatisierung hineingeraten sind.“ (S. 166)
Hämer, testiert ihm Clemens Ronnefeldt in seinem Geleitwort, lädt seine LeserInnen ein, „den Blick von unten zu wagen – und sich solidarisch zu den Lieblingen Gottes, den unter den Brücken Schlafenden, den unschuldig in Gefängnissen Sitzenden, den um der Gerechtigkeit willen Verfolgten oder den Geflüchteten aus Kriegen und Not begibt, deren Leben teilt – und mit ihnen gemeinsam Schritte der Befreiung geht.“ (S. 7)
Aufbau und Inhalt
Bis auf wenige Seiten besteht das Buch aus Neuformulierung und Wiedergabe der hundertfünfzig Psalmen in jeweils zwei Spalten, wobei, wie aus dem „Inhalt“ (S. 169 ff.) ersichtlich, der Autor sie nach thematischen Schwerpunkten geordnet hat, und zwar mit jeweils lebensnahen, wenn man so will: weltlichen Titeln versehen.
So gibt Hämer in seinem Nachwort ein Beispiel, woher er die Impulse für seine befreiungstheologische Bearbeitung der Psalmen bezog: „Ich habe eine überschuldete junge Frau auf dem Weg zur ARGE begleitet – sie zitterte vor Angst, wenn sie an die zurückliegenden Erfahrungen mit den dortigen Sachbeabeiter*innen dachte. Ihr habe ich den Ps. 57 in den Mund gelegt…“. (S. 165) Dort heißt es nach der revidierten Luther-Bibel unter anderem: „Ich liege mitten unter Löwen; verzehrende Flammen sind die Menschen, ihre Zähne sind Spieße und Pfeile und ihre Zungen scharfe Schwerter.“ Hämer formuliert in den Erfahrungshorizont so vieler (wie auch immer) in materielle Not geratener Menschen um: „ihre ansprüche umgeben mich wie löwen. Sie haben gut bezahlte anwält*innen.“ (S. 65)
Solche sozialkritischen Töne kennzeichnen den Autor, der sich durchaus nicht scheut, auch politisch unbequem zu werden, was auch da sehr deutlich wird, wo er sich in seinem Nachwort über Israel und die Juden als auserwähltes Volk Gottes auslässt und „wie andere auch“ hinzufügt. Selbstredend seien wir aus historischen Gründen zu „einer Solidarität mit Israel verpflichtet – allerdings zu einer solchen, die andere niemals ausschließt. Sonst würde sich eine alte unselige Geschichte mit umgekehrtem Vorzeichen wiederholen.“ In Bezug auf die „originalen Texte“ beabsichtigt er nicht nur in dieser Hinsicht „keine Enteignung, wohl aber eine persönliche Aneignung.“ (S. 166)
Dem Hagel an alltäglichen bad news weicht Hämer nicht aus, er lässt sich davon treffen und ist betroffen, mit seinen Mitteln übt er Widerstand. Kapitalismuskritisches findet sich zuhauf, etwa: „wohl denen, die nicht mitplanen an der erhöhung der profite auf dem rücken der armen“. Oder aber, was von hoher Aktualität ist: „die macher*innen nehmen kredite auf – und lassen andere bezahlen“. (S. 45) Und mitten in die Diskussion um MigrantInnen tupft er das solange anhaltende Problem: „sie nennen uns zigeuner und stellen uns unter generalverdacht“. (S. 15)
Ebenso deutlich ergreift er eben unter Bezug auf die Bibel Partei: „‚antisemitismus‘ – synonym der schande, jeder rassismus – scheintotes fossil.“ (S. 91) Doch er ruft auch zum Handeln auf und will ermutigen: „jede und jeder kennt erfahrungen der befreiung, wir teilen den auszug aus der sklaverei.“ Und gar an Kant und mehr noch Marx ist man erinnert, wo er im gleichen Psalm umformuliert: „niemand kann frei sein, solange ein mensch noch sklavin oder sklave ist.“ (S. 89)
Sehr deutlich hält er gegen populistisches Dräuen, von dem seine Einrede als blauäugiges Gutmenscheln belächelt werden dürfte: „unfassbar – da ist raum für alle völker, freundschaft himmelweit!“ (S. 121) Auch wenn er hart an der Realität siedelt und sagt: „ja, es wird gelogen, bis es zum himmel stinkt und die erde unbewohnbar wird“ (S. 124), soll das nicht mutlos machen; denn: „wenn liebe das haus baut, wird es ein zelt der vielfalt“ – und weiter: „die wächterin heißt solidarität. kein baustein heißt sorge oder angst.“ (S. 135)
Solche Auswahl aus Hämers Bearbeitung der Psalmen ist nicht mehr als ein Schlaglicht auf den Tenor, von dem das Buch getragen wird. Allerdings sind auch Naturbeobachtungen eingestreut, da guckt jemand mit den staunenden Augen eines Kindes, da gibt es neben nahezu verbitterten Äußerungen über die Zustände der Welt im Großen und Kleinen und galligen Seitenhieben auch viel Zartfühlendes und aufmunternde Einladungen zum Schulterschluss. Sarkasmen und Zynismen sind Sache des Autors nicht, dafür aber Empörung und Auflehnung, wie sie aus Betroffenheit, auch aus Trauer kommt.
Diskussion und Fazit
Arbeiterpriester, die direkt in das Leben von Werktätigen eintauchten und ursprünglich in Belgien und Frankreich aktiv waren, die es versprengt auch hierzulande noch gibt und die sich an den Rändern der Gesellschaft engagieren, davon mag man gehört haben wie ebenso von der hauptsächlich in Lateinamerika wirksamen Befreiungstheologie, die sich von Beginn an der Not der Armen und Hungernden, der Unterdrückten und Verfolgten zuwandte und das Heil nicht auf das Jenseits vertagt wissen wollte, sondern ihm bereits im Diesseits Raum zu verschaffen suchte und sucht. Es entstand auch eine Philosophie und eine Pädagogik der Befreiung, letztere mit Namen Paulo Freires verbunden, nach dem auch der Verlag benannt ist, in dem Hämers ‚Gegenstimme‘ erschienen ist. Es nimmt nicht wunder, dass die Befreiungstheologen in ihrem jeweiligen Heimatland auf massiven Widerstand auch seitens mächtiger, konservativer Kreise der katholischen Kirche stießen – eine Theologie der Armen durfte es nicht geben. Dass man vielen Befreiungstheologen das Priesterrecht entzog und sogar aus der Kirche ausschloss, fußte auf dem Vorwurf einer (unliebsamen) Politisierung der Kirche und zentral darauf, sie würden den Marxismus christlich tarnen und so dieses gefährliche weil aufrührerische Gedankengut verbreiten. Sicherlich wurden und werden, dann immer auf herrschende soziale Realität bezogen, Elemente der Marxschen Analyse herangezogen und seine daraus folgenden ‚politischen Folgerungen‘ assimiliert, was zur Kritik der Wirklichkeit führt, nicht aber zum Aufruf radikaler Umwälzung. Das kennzeichnet auch Hämers befreiungstheologische Aktualisierung der Psalmen.
Dass man den Blick von unten „wagen“ muss, wie Ronnefeldt im Geleitwort schreibt, zeigt eher, zu welcher Seite kirchliches (und instrumentalisiertes christliches) Selbstverständnis ausschlägt (s.u.). Was bleibt, so ebenfalls Ronnefeldt, ist eine sich der Not zuwendende „Botschaft vom ‚Reich Gottes‘“, „gerade heutzutage (…), wo der Mammon vielerorts als Götze verehrt wird.“ Ob Marx dies als „veralteten Phrasenkram“ abgetan hätte, sei dahingestellt; ob er in die scharfen Töne seiner Religionskritik angesichts einer Befreiungstheologie, die es zu seiner Zeit nicht gab, moderatere eingewoben hätte, kann man angesichts deren Ziel, das Heil ins Diesseits zu holen, nur mutmaßen.
Dass der Kapitalismus auch die Aura einer säkularisierten Form von Religiosität angenommen hat, dahin kann man Oevermanns Religionssoziologie mit einer der „Struktureigenschaften“ von Religiosität weiterdenken, nämlich der „Evidenz des Mythos aufgrund einer vergemeinschafteten Praxis“, was sich in der bestimmten Form auf die Inhalte und die kulturelle wie soziale Ausformung auswirke. Ähnlich sieht es Papst Franziskus. (s.u.)
Die Diskussion um Marxismus und christlichen Humanismus ist schon älteren Datums: Etwa haben für Garaudy Christen und Marxisten trotz unterschiedlicher Motivationen gemeinsame Ziele, die in dem münden, was „Christen Transzendenz“ und Marxisten „wahre Menschlichkeit“ nennen, was die Möglichkeit der „Erfahrung (…) schöpferischen Überschreitens“ meint. Es gäbe die Freiheit, und dies im Rahmen gesellschaftlicher Determiniertheit (so auch nach Adam Schaff), etwa in Fragen sittlicher Konflikte eine persönliche Verantwortung gegen ‚böses‘ Verhalten an den Tag zu legen, damit nötigenfalls gegen die eigene Gruppe zu handeln, also auszuscheren, auch aus einer Politik, die man als ‚falsch‘ erkennt. So brächte man sich in Einklang mit seinem Gewissen. Mag sein, dass auf diesem Wege Marxisten und Christen zusammenkommen, was in Lateinamerika und auch anderenorts oftmals ohne theoretische Not der Fall ist. Bezeichnend dafür die Bemerkung des Bischofs von Santo-Andre, Monsignore Jorge Marcos de Oliveira, die er vor laufenden Fernsehkameras gemacht haben soll: „Ich habe keineswegs die Absicht, irgendeinen Kommunisten zu bekehren, denn ich bin bei den verfolgten Kommunisten einer ausgeprägt christlichen Gesinnung wie auch einer großen Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit begegnet.“
Um christliche Gesinnung geht es auch Andreas Hämer, der Pfarrer im Ruhestand ist. Gerade heute ist wieder von christlicher Gesinnung die Rede und zumal eher konservative politische Kreise beschwören vollmundig unsere ‚christlichen Wurzeln‘; zwar ist davon im Gegensatz zu anderen, insbesondere osteuropäischen Verfassungen im deutschen Grundgesetz nicht die Rede, es verweist lediglich auf Gott, nicht auf eine bestimmte Religion oder gar auf eine religiöse Tradition. Das ist interessierter Politik keine Bemerkung wert. In seinem jüngst erschienenen Buch „Wurzeln“ schreibt Maurizio Bettini dazu: „Die christliche Wurzel kennt auch diese Deklination: dass die Sicherung der Grenzen gegen die Ungläubigen mit demselben Recht Teil der christlichen Tradition ist wie edlere und weniger kriegerische Werte wie Nächstenliebe und Unterstützung der Bedürftigen. Wie gesagt, nichts ist so präsent, ja so symptomatisch für die heutige Zeit wie die ‚kulturellen Wurzeln‘. Und sie werden je nach Bedarf und Opportunität ausgewählt und dekliniert.“ Und da fallen Nächstenliebe und Unterstützung der Bedürftigen und Verfolgten schon mal durch die Maschen – nicht bei Hämer, der allerdings, wenn auch anders, wie Marxisten in einer Minderheitenposition ist, was im historisch wertenden Rückblick oftmals der bessere Aufenthaltsort war.
Für die Gegenwart empfiehlt sich die zeitgemäße Umformulierung der Psalmen, wie sie Hämer vorlegt, nicht nur für die Christen jener sogenannten jungen Kirche, sondern für all jene, für die Humanismus keine Leerformel ist und gerade im Hinblick auf eine Zweck-Mittel-Relation in praktischen Bestrebungen der Überwindung einer Ökonomie, die derzeit mit immer größerer Rasanz immer weniger Menschen frommt, was der derzeitige Papst wie folgt formulierte: „Wenn die Politik wirklich den Menschen dienen soll, darf sie nicht Sklave der Wirtschaft und Finanzwelt sein.“ Und: „Das Wirtschaftssystem dieser Welt ist nicht gut. Der Mensch muss im Zentrum des wirtschaftlichen Systems stehen. (…) Wir haben das Geld, den Gott Geld, ins Zentrum gerückt. Wir sind der Sünde der Abgötterei verfallen.“
Die Rede ist vom Kapitalismus, was inzwischen den Charakter eines Reizwortes verliert. Marxisten dürften der päpstlichen Mahnung nicht unbedingt widersprechen, würden aber den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital ins Gespräch bringen und die Funktion des Staates – und sich weiter mit Fragen um die richtige politische Praxis, um emanzipatorisches Handeln bemühen, die ggf. durchaus anders orientierten Flankenschutz brauchen kann.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 28.06.2018 zu:
Andreas Hämer: Gegenstimmen. Psalmen, befreiungstheologisch. Paulo Freire Verlag
(Oldenburg) 2018.
ISBN 978-3-86585-052-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24525.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.
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