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Gudrun Dobslaw (Hrsg.): Partizipation - Teilhabe - Mitgestaltung

Rezensiert von Prof. Dr. Albrecht Rohrmann, 17.10.2018

Cover Gudrun Dobslaw (Hrsg.): Partizipation - Teilhabe - Mitgestaltung ISBN 978-3-86388-775-9

Gudrun Dobslaw (Hrsg.): Partizipation - Teilhabe - Mitgestaltung. Interdisziplinäre Zugänge. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. 182 Seiten. ISBN 978-3-86388-775-9. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.

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Thema

Partizipation, Teilhabe und Mitgestaltung sind in allen Feldern der Sozialen Arbeit ein wichtiges Anliegen. Das Themenfeld wird in diesem Sammelband mit einem Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Behinderungen bearbeitet, wobei der Umgang mit kognitiven Beeinträchtigungen und Mehrfachbehinderungen im Mittelpunkt steht. Es wird ein Bezug zu den Herausforderungen hergestellt, die mit der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen einhergeht. Hier wird zum einen gefordert, dass Menschen mit Behinderungen in allen sie betreffenden Angelegenheiten beteiligt werden, zum anderen soll ein Umfeld geschaffen werden, zum anderen soll ein Umfeld gefördert werden, „in dem Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten mitwirken können“ (Artikel 29).

Entstehungshintergrund

Der Sammelband geht zurück auf die Abschlusstagung des Projektes ‚Gut leben in NRW‘ im Januar 2017, einem Kooperationsprojekt des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen NRW e.V. und der Fachhochschule Bielefeld. In dem Projekt arbeiteten insgesamt zehn Teilhabegruppen über 2 ½ Jahre zusammen, um Gelingensfaktoren für ein ‚Gutes Leben‘ zu identifizieren. Die Gruppen setzten sich zu mindestens 2/3 aus Menschen mit Beeinträchtigungen zusammen und daneben aus Angehörigen, Fachkräften sowie anderen Interessierten. Den Schwerpunkt des Bandes bilden Auswertungen der im Projekt durchgeführten empirischen Erhebungen. Weitere Beiträge wurden für den Band auch über die Vortragenden im Kontext der Tagung hinaus ergänzt.

Aufbau

Nach einer Einführung lässt sich der Band einteilen in

  1. einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis von ‚Partizipation‘ und ‚Teilhabe‘,
  2. einen Teil mit Forschungsergebnissen und
  3. einen abschließenden Teil, in dem das Thema Partizipation in anderen Handlungskontexten und Projekten bearbeitet wird.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Zu 1

Teilhabe und Partizipation als gesellschaftlicher Auftrag und Herausforderung

Dieser Teil besteht aus einem Beitrag von Iris Beck, Meike Nieß und Katharina Siller mit dem Titel ‚Partizipation als Bedingung von Lebenschancen‘, der auf einer Zusammenschau von Ergebnissen aus Forschungsprojekten an der Uni Hamburg beruht. Der Artikel führt ein in die Entwicklung des Teilhabebegriffes im Feld der Behindertenpolitik (SGB IX und Teilhabeberichterstattung). Dabei wird zwischen Teilnahme und Teilhabe unterschieden, wobei sich mit letzteren das Moment der aktiven und subjektiven Ausgestaltung der Beteiligung, und damit das partizipative Moment verbindet. Ausgehend von dem durch Arthur Weisser geprägten Lebenslagenkonzept wird Partizipation als Bedingung von Lebenschancen verstanden, die es ermöglichen die eigenen Interessen zu artikulieren und zu vertreten. Dies wird verdeutlicht durch drei Studien. Die erste bezieht sich auf eine Befragung von Menschen mit Behinderungen zum Respekterleben. Das Erleben von Respekt – so die Argumentation – ist entscheidend für die Entstehung und Wahrnehmung von Partizipationsmöglichkeiten. Die zweite Untersuchung bezieht sich auf ein Hamburger Ambulantisierungsprogramm zum Abbau von 700 Plätzen in stationären Einrichtungen und zum Aufbau ambulanter Unterstützungsangebote für Menschen mit Behinderungen. Es wird gezeigt, dass ein ambulantes Unterstützungssetting eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für erweiterte Teilhabemöglichkeit bietet. Um Potenziale für die persönliche Entwicklung freizulegen „müssen sich auch Haltungen und Handlungsprozesse des Personals und zwar in Richtung Partizipationsförderung im umfassenden Sinne verändern“ (S. 35). Die letzte Studie bezieht sich auf die Beteiligung an Gremien der Interessenvertretung in Einrichtungen. Hier kann herausgearbeitet werden, dass das soziale Umfeld und die soziale Unterstützung äußerst bedeutsam für den Zugang zu einer Interessenvertretung sind.

Zu 2

Die interaktive Seite der Partizipation

Der Abschnitt des Buches versammelt drei Auswertungen von Sequenzen, die in Teilhabegruppen im Projektkontext audiovisuell aufgezeichnet und anschließend verschriftlicht wurden.

Sarah Hitzler untersucht mit dem Ansatz der Konversationsanalyse die Herstellung von ‚Gewöhnlichkeit‘ in den untersuchten Teilhabegruppen. Sie geht davon aus, dass alle Menschen in den unterschiedlichsten Situationen damit beschäftigt sind, als gewöhnliche Personen zu wirken, wobei diese Gewöhnlichkeit eine Herstellungsleistung in sozialen Situationen ist. Sie zeigt an anekdotischen Beispielen, dass die Orientierung an Gewöhnlichkeit auch in Situationen gilt, in denen Verhalten zu beobachten ist, das ungewöhnlich wirkt. Erst die Reaktion des sozialen Umfeldes lässt das Verhalten zu einer folgenreichen Abweichung werden. Ihre These belegt sie durch die Auswertung von zwei Sequenzen aus der Interaktion in Teilhabegruppen. In der ersten wirkt Gewöhnlichkeit als Norm, in der zweiten als reflexiver Bezugspunkt. Eine gelingende Interaktion in Gruppen mit erschwerten Kommunikationsbedingungen wie die untersuchten Teilhabegruppen ist – so ihre Schlussfolgerung – auf der Basis flexibilisierter Gewöhnlichkeitsvorstellung möglich.

Die ethnomethodologische Konversationsanalyse in dem Beitrag von Gudrun Dobslaw und Heinz Messmer konzentriert sich auf Sequenzen aus Vorstellungsrunden in den Teilhabegruppen. Im Mittelpunkt stehen dabei kleine Einheiten, in denen sich zwei Interaktionsteilnehmer/innen aufeinander beziehen. Sie benötigen dafür in der Situation ein zumindest ähnliches Wirklichkeitsverständnis. Partizipation ist in einer solchen Interaktionssituation kein von den Beteiligten unabhängiger Sachverhalt, sondern das, was sie in der Situation daraus machen. Anhand von vier Sequenzen aus Vorstellungsrunden wird untersucht „wie Menschen mit Behinderungen auf herausfordernde Verhaltenszumutungen reagieren und Menschen ohne Behinderung die Schwierigkeiten im Umgang mit ‚Normalität‘ ihrerseits kompensieren“ (S. 72). Die Sequenzen werden interpretiert als Beteiligung durch ‚Lernsetting‘, durch ‚Reden über‘, unter ‚Bedingungen erwartungsstruktureller Abweichungen‘ und durch ‚Verweigerung‘. Der Argumentation zu folgen, dass die fast durchweg stellvertretende Vorstellung der Teilnehmer/innen als Kompensationsleistung, als Advocacy oder Assistenz zu deuten sei, fällt nicht ganz leicht. Bestätigt wird eher die These des vorherigen Beitrags, dass starre Normen nicht geeignet sind in der Interaktion derartig zusammengesetzter Gruppen, in denen zudem Abhängigkeitsverhältnisse bestehen, Gewöhnlichkeit herzustellen und Beteiligung zu ermöglichen. So fragen die Autorin und der Autor folgerichtig, ob das Gruppensetting geeignet ist und ob nicht grundlegend überlegt werden muss, wie „Kontexte zu modellieren sind, damit sich Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt und gleichermaßen einbringen bzw. an der Kontextgestaltung und der Aushandlung von Regeln mitwirken können“ (S. 85).

In dem abschließenden Beitrag zu diesem Teil des Buches untersuchen Nadejda Burow und Gudrun Dobslaw die interaktive Herstellung der Partizipation als Herausforderung für die Moderation. Den Moderator/innen kommt in den Gruppen die Aufgabe zu, die Beteiligung der Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen und zu unterstützen. Anhand ausgewählter Sequenzen werden in dem Beitrag die Herstellung einer gemeinsamen Verständigungsbasis und der Umgang mit Störungen genauer untersucht. Die wieder sehr genauen und erhellenden Analysen legen sehr viele unterschiedliche und situativ geprägte Strategien offen. Die Autorinnen empfehlen, solche Sequenzen auch für gesprächsanalysefundierte Trainings in der Gesprächsführung und Moderation zu nutzen.

Zu 3

Partizipation in anderen Handlungsfeldern und Projekten

Am Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe erörtert Heinz Messmer den Beitrag empirischer Forschung für ein realistisches Partizipationsverständnis in der Sozialen Arbeit. Er wählt dafür das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe. Die demokratische Norm der Beteiligung gewinnt in diesem und anderer Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit Bedeutung, auch um individuelle Entwicklungsprozesse zu ermöglichen. Partizipation wird dabei verstanden als ein bilateraler Prozess, bei dem sich Abstufungen von Informationen bis zur Entscheidungsmacht vornehmen lassen. Barrieren der Partizipation ergeben sich durch Inkompetenzunterstellungen gegenüber den Kindern und Jugendlichen, durch Vorgaben für Abläufe beispielsweise im Hilfeplanverfahren, durch Verunsicherungen und durch die Gestaltung der Interaktion und Kommunikation. Der zuletzt genannte Faktor kann durch empirische Konversationsanalysen offen gelegt werden, wobei fünf Stufen bzw. Dimensionen unterschieden werden (Anwesenheit vs. Abwesenheit; Reden mit vs Reden über; eigeninitiierte vs. fremdinitiierte Redebeiträge; relevant vs. nicht relevant gesetzte Beiträge; maßgebliche vs. nicht maßgebliche Beiträge). „Die Teilhabe an Entscheidungen ist gemäß dieser Analysen das Resultat von binär codierten d.h. zweiwertig strukturierten Entscheidungen über die Einflussmöglichkeiten der Anwesenden“ (S. 119). Das Gelingen von partizipativen Prozessen kann nach Ansicht des Autors durch Kompetenzen der Fachkräfte, durch Vorbereitung der Prozesse und Ressourcen gesteigert werden. Es ist dem einführenden Beitrag zuzustimmen, dass sich diese Befunde auf die Behindertenhilfe und auch andere Felder der Sozialen Arbeit mühelos übertragen lassen.

Imke Niediek stellt Überlegungen zu Arbeitsprozessen in inklusiven Gruppen vor. Dabei hat sie Gruppen im Blick, in denen Freiwillige und Professionelle mit und Behinderungserfahrungen zusammenarbeiten, woraus sich Differenzlinien ergeben. Zur Analyse greift sie auf das Konzept der Gelegenheitsbarrieren zurück, womit u.a. eingefahrene Praktiken, Einstellungen, unterschiedliche Wissensbestände und Fähigkeiten und Politiken zum Umgang mit diesen Unterschieden gemeint sein können. Als praktische Maßnahmen zur Vermeidung der Barrieren schlägt sie beispielsweise eine vereinbarte Aufgabenteilung, die Nutzung digitaler Zusammenarbeit, die gute Vorbereitung von Treffen oder die Fortbildung vor. Der Erfolg einer inklusiven Gruppe – so das Fazit – hängt davon ab, „inwiefern sie es schafft, Strukturen zu implementieren, die dabei helfen, der Verschiedenheit der Gruppenteilnehmer/innen gerecht zu werden und sie zu einer Ressource für den Arbeitsprozess zu machen“ (S. 140).

Der Ansatz des Peer Counseling ist Gegenstand eines Beitrages von Gudrun Wansing. Mit dem Konzept beraten Menschen in einer ähnlichen Lage bzw. mit ähnlichen Erfahrungen die Ratsuchenden. Das Konzept stößt im Feld der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen auf großes Interesse. Der Beitrag stellt Ergebnisse der kürzlich abgeschlossenen Begleitforschung eines Modellprojekts von 2014 bis 2017 im Rheinland vor. Im Ergebnis wird bestätigt, dass die Beratung und insbesondere die Beratung durch Peers eine unverzichtbare Ressource zur Verwirklichung der Teilhaberechte von Menschen mit Behinderungen ist. In dem Beitrag werden aus den empirischen Ergebnissen der Begleitforschung insgesamt 14 Empfehlungen abgeleitet, die sich als Qualitätsstandards hinsichtlich der Strukturen und der Qualifikation des Peer Counseling verstehen lassen.

Der Sammelband wird abgeschlossen durch einen Beitrag von Michael Stricker, Christian Huppert und Jens Ortmann zur Partizipation in der Gestaltung von Dienstleistungsunternehmen. Der Beitrag geht aus von der Kritik von Menschen mit Behinderungen an einer bevormundenden professionellen Behindertenhilfe und den Reaktionen durch Unterstützungsangebote neuen Typs, den sog. ‚Offenen Hilfen‘. Es wird gezeigt, dass die Entwicklung des Feldes durch erweiterte Beteiligungsmöglichkeiten auf der individuellen und der strukturellen Ebene geprägt ist. Hervorgehoben wird das sog. Arbeitgebermodell, womit Leistungsberechtigte die von ihnen benötige Unterstützung selbst organisieren. Eine entscheidende Veränderung wird in der Erweiterung der Netzwerke von Menschen mit Behinderungen gesehen die nicht mehr durch eine starke Einbindung in das Hilfesystem, sondern durch schwache Beziehungen zur Erweiterung von Möglichkeiten der Teilhabe führt. Die weiterführende These ist, dass Dienste die Unterstützung von tragfähigen Netzwerkbeziehungen durch partizipationsorientierte Arbeitsprozesse leisten müssen um dauerhaft effizient zu arbeiten und von Menschen mit Behinderungen nachgefragt zu werden.

Diskussion und Fazit

Den Kern des Sammelbandes bilden die drei konversationsanalytischen Auswertungen der audiovisuellen Aufzeichnung von Interaktionen in Teilhabegruppen. Alle drei Studien belegen das große Potenzial dieses Ansatzes, zum Verständnis der Herstellung von sozialer Wirklichkeit in Interaktionen beizutragen, welches bereits beispielsweise aus den Studien zur Hilfeplanung in der Jugendhilfe bekannt ist. Man merkt, dass die Forscher/innen sich mit den Beiträgen in ein noch neues und unbekanntes Feld vortasten und für die hier anzutreffenden Phänomene zunächst vorläufige Begriffe finden und erproben. Es ist schade, dass der Aufwand dieser Auswertung dazu führt, dass immer nur kleine Teilaspekte untersucht werden können. Es macht den Eindruck, dass ein großer Fundus an Erkenntnissen noch zu heben ist. Der hier aufgegriffene Forschungsansatz wird auch in anderen Studien ganz sicher zu erweiterten Erkenntnissen zur Interaktion in Gruppen von Menschen mit und ohne Behinderungserfahrungen führen.

Die dem Kern der Publikation hinzugefügten Beiträge lassen den Sammelband zu einer wichtigen Veröffentlichung zum Thema Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigungen oder allgemeiner von Adressat/inn/en sozialer Unterstützung werden.

Rezension von
Prof. Dr. Albrecht Rohrmann
Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt soziale Rehabilitation und Inklusion an der Uni Siegen, Zentrum für Planung und Entwicklung Sozialer Dienste (ZPE)
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Es gibt 25 Rezensionen von Albrecht Rohrmann.

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Zitiervorschlag
Albrecht Rohrmann. Rezension vom 17.10.2018 zu: Gudrun Dobslaw (Hrsg.): Partizipation - Teilhabe - Mitgestaltung. Interdisziplinäre Zugänge. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. ISBN 978-3-86388-775-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24557.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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