Oliver Sechting, Karen-Susan Fessel: Der Zahlendieb
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Domes, 09.11.2018

Oliver Sechting, Karen-Susan Fessel: Der Zahlendieb. Mein Leben mit Zwangsstörungen.
Balance Buch + Medien Verlag
(Köln) 2017.
190 Seiten.
ISBN 978-3-86739-125-2.
D: 14,95 EUR,
A: 15,50 EUR.
Reihe: Balance Erfahrungen. .
Thema und Entstehungshintergrund
In seiner Autobiografie schildert Sechting, der Lebensgefährte von Rosa von Praunheim, die verschiedenen Stationen seines Lebens mit Ängsten und Zwängen. Dabei geht er auf die Entstehung und Entwicklung der Erkrankung wie auch auf seine Bewältigungsstrategien, um ein erfülltes Leben leben zu können, ein – auch, wenn die Zwänge nicht gänzlich verschwinden. „Seit er offensiv mit ihnen umgeht, haben die Zwänge ihre Macht verloren“ (Klappentext).
AutorInnen
Oliver Sechting, Jg. 1975, Diplom-Sozialpädagoge, ist Autor und Filmschaffender im Dokumentationsbereich. Seit 2016 ist er im Vorstand der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. aktiv.
Karen-Susan Fessel ist freie Journalistin und Schriftstellerin. Sie unterstützte den Autor bei seinem ersten Buch.
Aufbau
Das Buch ist als „autobiografischer Erfahrungsroman“ konzipiert.
Es ist in mehrere (nicht-nummerierte) Kapitel unterteilt, die nochmals durch zahlreiche Zwischenüberschriften gegliedert sind. Der Rezensent hat diese Zwischenüberschriften bewusst aufgeführt, um bereits an dieser Stelle einen „greifbareren“ Eindruck des Inhalts und der Tonalität, die die Leser*innen erwartet, zu vermitteln.
- Prolog
- Das Wunschkind: Idylle (Ein gutbürgerliches Zuhause in Grün und Beige, Chaos und Ordnung, Die Entdeckung, … und ihre Folgen, Ein belauschtes Gespräch, Kein Grund zur Sorge, Ein neues Wort, Dirty Dancing, Das Krebsei)
- Der Junge: Die Zahlenhölle (Wie ferngesteuert, Veränderungen, Verlangen, Die innere Ordnung, Schwofen und schwärmen, Rebell ohne Grund, Die süßen Französinnen, Reize)
- Der Jugendliche: Der Diamantenschlucker (Ein Elefant auf der Wiese, Knäuel im Kopf, Licht in der Finsternis, Allein unter vielen, Abitur mit Hindernissen)
- Der Heranwachsende: Durch die Tage (Ohne Plan, Mit Hemd und Krawatte, Das erste Mal, Und noch ein erstes Mal, Schritte in die Szene, Raus mit der Sprache)
- Der Student: Neustart (Neue Wege, Der Geheimdienst hört mit, Die erste Diagnose, Berlin im zweiten Anlauf, Der Partymacher, Eine richtig gute Sache: Der Verein, Auf gutem Wege)
- Der Erwachsene: Aufstehen und weitergehen (Stolpersteine, Donnersturz, Ein Ende und ein Anfang, Achterbahn, Die zweite Diagnose, Neues Setting, Der Zahn der Zeit, Manische Suche, Alltagsflucht, Der Film, Noch ein Coming-out)
- Epilog
- Oliver dankt
Inhalt
Der Rezensent versucht den Gang des Romans nachzuzeichnen, wohl wissend, dass dies nicht vollständig gelingen kann und auch das eigene Lesen nicht ersetzen kann oder soll: Insofern erfahren bestimmte Aspekte mehr Aufmerksamkeit, andere weniger, manches muss verkürzt bleiben.
Der Prolog beginnt direkt mit der Schilderung einer Szene, in der Sechting nicht auf die andere Straßenseite wechseln kann, wo Max auf ihn wartet, weil keine 7 kommt. Die Leser*in ist damit mittendrin in der (Lebens-)Geschichte.
Zu Anfang des Kapitels Das Wunschkind: Idylle schildert der Autor seine gutbürgerliche Kindheit, die ersten 10 Jahre seines Lebens, im Göttingen der 70er Jahre: „Im Grunde verlebte ich eine Bilderbuchkindheit, es fehlte mir an nichts“ (S. 12). Und weiter: Mein Leben verlief wie in einem Hanni-und-Nanni-Roman für Jungs“ (S. 13). Er gibt den Leser*innen einen Einblick in verschiedene Ordnungs- und Sammelvorlieben (Stifte, Fugentreten, Briefmarken). Diese „Ticks“ verschwanden aber wieder (fürs Erste).
Mit 11 Jahren hat Sechting seine erste sexuelle Erfahrung (gemeinsames Onanieren) mit seinem besten Freund Tobi, zu der später noch weitere Komponenten hinzukamen. Für ihn ist klar: „Ich mochte Jungs“ (S. 21). Diese Erfahrung ist für ihn aufregend und schön, zugleich aber auch beängstigend, gerade angesichts vorherrschender gesellschaftlicher-moralischer Vorstellungen in den 80ern.
Ein Wendepunkt stellt für Sechting die Krebserkrankung des Vaters dar, die ihm zu Beginn nicht offen kommuniziert wurde. Mit dem Zweifel daran, dass sein Vater wieder gesundwerden würde, kehrte das Fugentreten zurück; diesmal aber mit einem strikteren Regelwerk und verbunden mit Angst. Der Tod des Vaters bedeutet für ihn das Ende der glücklichen Kindheit: „2 der wunderbarsten Gefühle, die ich kannte, waren in mir erloschen: Unbeschwertheit und Urvertrauen“ (S. 36).
Die Entwicklung schreitet in Der Junge: Die Zahlenhölle voran. Die Schulleistungen des Autors verschlechtern sich. Die Ängste nehmen zu. Der Zwang konzentriert sich nach dem Tod des Vaters auf seine Mutter. Weitere Zwänge, wie Klinkendrücken, kommen hinzu.
Sechting schafft trotzdem mit seinen Freunden den Wechsel ins Gymnasium. Das Interesse an Mädchen nimmt bei den anderen, auch bei Tobi, zu. Deshalb muss sich Sechting einen neuen besten Freund suchen, auf den er seine Sehnsüchte projizieren kann: „Vertrautheit, Verbundenheit, Beständigkeit, Sicherheit, Intimität“ (S. 44). Alle Freundschaften bekamen für ihn letztlich eine sexuelle Komponente. Nach einem erneuten sexuellen Kontakt mit Tobi nimmt seine Angst vor Aids weiter zu.
Neue Zwänge (Zahlen, zunehmende Bedeutung von Farben) kommen hinzu, die ein komplexeres System bilden. „Mein Zwangssystem gab mir Orientierung und war eine Art Ersatzordnung für das Gefühlschaos und die Unsicherheit (…)“ (S. 49). Mit Zunahme der Probleme gewinnt auch das Zwangssystem von Sechting an Größe und Macht. Zahlen (und Farben) bekommen eine immer wichtigere Bedeutung, ohne dass er dem etwas entgegensetzen kann. „Die einzige Regel, die immer galt, war, dass die 58, der ich den Namen »Todeskombination« gab, mit einer 7 neutralisiert werden musste“ (S. 61).
Im Kapitel Der Jugendliche: Der Diamantschlucker, das das Ende der Gymnasialzeit beschreibt, spitzt sich die Situation Sechtings weiter zu. Seine Mutter bekommt ebenfalls Krebs (der zwar im Gegensatz zur Erkrankung des Vaters erfolgreich behandelt werden kann). Die Freundschaft mit Ben beginnt, allerdings auch unter dem Zeichen nicht-erfüllbarer Wünsche. Sechting ist das erste Mal verliebt. Seine Schulnoten verschlechtern sich weiter. Außerhalb der Schule hat er kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Die Mutter muss das Juweliergeschäft aufgeben – ein hoher Schuldenberg bleibt.
Das Zwangssystem differenziert und weitet sich aus. Er entdeckt das Schlucken von kleinen Diamanten, die er im Nachttisch der Mutter findet, als intensivstes und wirksamstes Zwangsritual. Die Abiturphase verstärkt den Druck. Die aufregendste Veränderung brachte für ihn sein 18. Geburtstag, da er sich nun Pornos ausleihen konnte (als offizielles Druckventil).
Sechting besteht (mit Hilfe der letzten 7 Diamanten) sein Abitur, „das erste Mal seit langer Zeit ein Glücksgefühl, das nicht aus einem Orgasmus entstanden war“ (S. 89).
Das Kapitel Der Heranwachsende: Durch die Tage beginnt mit der Schilderung des Schwedenurlaubs der Clique nach bestandenem Abitur. Dieser markiert zugleich den Umbruch in eine neue Lebensphase. Sechting beginnt mit 20 seinen Zivildienst als Pflegekraft in einer Privatklinik. Auch wenn die Tätigkeit eine große Herausforderung für sein Zwangssystem darstellt, stellt es sich auf die neuen Reize ein. Zugleich hat er keine Zukunftspläne. Die Schulzeit hatte viel Kraft gekostet und so rutscht er immer tiefer in eine Depression: „Ich wollte niemanden hören oder sehen. Von mir aus hätte sich der Boden öffnen und mich verschlucken können“ (S. 97).
Der Autor macht seinen Führerschein und beginnt eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Das Zwangssystem pendelt sich auf ein erträgliches Niveau ein. Sein erstes Mal hat er (betrunken und bekifft) mit einer Frau. Bei einer Fortbildung in Hamburg hat er dann auch sein erstes Mal mit einem Mann. Dieses an sich positive (befreiende) Ereignis lässt zugleich seine Panik vor Aids wieder hochkommen. Trotzdem hält Sechting mit Tim weiter Kontakt.
Er schließt seine Ausbildung erfolgreich ab, ist zugleich aber sehr erschöpft und demotiviert. Nachdem Tim den Kontakt abgebrochen hat, rutscht er erneut in eine Depression.
Dennoch besucht er einen Schwulenclub in Hannover. Er merkt: „Ich war in einer Welt gelandet, die meine war“ (S. 113). Dies stellt den Beginn einer neuen Erfahrung dar und gab seinem schlechten Selbstbewusstsein Auftrieb. Der Wunsch, einen festen Freund zu haben, wurde stärker.
Schließlich outet er sich gegenüber Ben und danach weiteren Freunden. Die Reaktionen sind offen und aufgeschlossen. Davon ermutigt, outet sich Sechting auch gegenüber seiner Mutter. Nach anfänglicher Distanz arrangierte sie sich und ermutigt ihn sogar.
Er gestand nun Ben seine Liebe, wohl wissend, dass eine Beziehung unmöglich war. „Liebeskummer und Depression bildeten eine unheilvolle Allianz“ (S. 121).
Schließlich fängt Sechting ein BWL-Studium in Berlin an, auch um der Situation in Göttingen zu entfliehen.
Das nächste Kapitel Der Student: Neustart erzählt von der Zeit in Berlin. Die ersten Monate verlaufen für Sechting ernüchternd. Er findet keinen wirklichen Anschluss und bricht schließlich das Studium ab. Er zieht sich immer mehr in seine Wohnung zurück. Die Zwänge und Ängste wurden stärker, wahnhafte Züge treten nun ebenfalls auf. Nachdem sich Sechtig nahezu völlig isoliert hat, taucht sein Freund Moritz bei ihm auf und bringt ihn nach Göttingen zurück.
Dort kommt er in eine psychiatrische Klinik und erhält die Diagnose paranoide Schizophrenie. Sechting spricht seine Ängste und Zwänge an; die Behandlung erfolgt aber weiterhin nur mit Neuroleptika. „Ich fühlte mich ohnmächtig gegenüber dem Diktat der Experten und zweifelte an meiner Einschätzung“ (S. 134). Er lässt sich gegen ärztlichen Rat entlassen, kehrt nach Berlin zurück und beginnt ein Sozialpädagogikstudium.
Die erste Zeit in Berlin beginnt mit einem Aufschwung. Sechting meistert das Studium, geht neue Beziehungen ein. Dann stellen sich allerdings erneut Tiefpunkte und Enttäuschungen ein, die er mit Koks bekämpft. Schließlich beginnt er ein soziales Praktikum im Bereich Stricher-Hilfe, das für ihn sinnstiftend wird. Trotz weiterhin bestehender Ängste und Zwänge (manchmal 10000 Gedanken pro Tag) geht es für Sechting bergauf.
Im Kapitel Der Erwachsene: Aufstehen und weitergehen beschreibt Sechting sein weiteres Leben quasi wie auf einer Achterbahn. Teamkonflikte nahmen zu, die Freundin von Ben erkrankt an einem Hirntumor, Jason stirbt.
In dieser Atmosphäre meldet sich Rosa von Praunheim bei dem Verein, um einen Dokumentarfilm zu drehen. Aus dieser Begegnung entwickelt sich eine Beziehung, die ebenfalls von Höhen und Tiefen geprägt ist. Aber Sechting kann sich seinem Partner öffnen und steigt auch ins Filmgeschäft ein. „Es war sehr wohltuend und heilsam, einen Partner zu haben, von dem ich mich akzeptiert fühlte, vor dem ich meine Ängste und Zwänge nicht verbergen musste (…)“ (S. 164). Trotzdem gab es auch immer wieder Tiefphasen, die schließlich zu einem zweiten Klinikaufenthalt führten; dieses Mal mit der Diagnose Zwangsstörung. Die Therapie zeigte Wirkung. Sechting geht in seinen Beruf als Sozialpädagoge zurück. Er lernt Max kennen, mit dem er einen Film dreht, der anders als geplant verläuft: „Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“. Sechting erhält von der Deutschen Gesellschaft für Zwangsstörungen den Medienpreis.
Der Autor schließt das Kapitel mit verschiedenen „Rettungsringen“: „Offen mit meiner Homosexualität und meinen psychischen Handicaps umzugehen, hat bislang keine spürbaren Nachteile mit sich gebracht, sondern meine Selbstakzeptanz gestärkt, mir Identität und Identifikationsoptionen vermittelt (…)“ (S. 187). Ein weiterer Rettungsring ist sein Partner Rosa von Praunheim, die gemeinsame Beziehung.
Und der Glaube an sich selbst: „Irgendwo findet sich immer wieder ein Halt, ein Punkt, auf den ich mich beziehen kann und der mich rettet – im Zweifelsfall vor mir selbst“ (ebd.).
Der Epilog schließt den Kreis und kehrt zur Ausgansszene zurück. Sechting wartet vergeblich auf eine 7 (Nummernschild; Autos, die vorüberfahren). Schließlich sieht er, wie Max etwas auf einen Zettel schreibt: Eine große 7 „(…) und ich setze einen Fuß auf die Fahrbahn“ (S. 190).
Diskussion
Diesen Roman angemessen zu rezensieren ist aufgrund der Fülle und Dichte der geschilderten Erlebnisse durchaus eine Herausforderung. Deshalb zu Beginn verschiedene Assoziationen im Stile des Free-Writing, die der Rezensent beim Lesen und danach hatte: berührt und hineingezogen, Achterbahn, Tour de Force, leicht, hart, unglaublich, mit-leidend, schonungslos, poetisch, humorvoll, sich überschlagende Ereignisse, Grenzgänger, was für ein Leben!
„Der Zahlendieb“ nimmt die Leser*in auf eine Reise durch den Wahn-Sinn und zurück (in sich wiederholenden Schleifen). Immer, wenn man denkt: Jetzt hat der Autor es geschafft, kommt wieder ein erneuter Absturz. Sechting beschreibt dabei sein Leben mit Zwangsstörungen schonungslos offen. Zugleich sind viele Passagen auch leicht und mit subtilem Humor verfasst. Durch die Komposition wird die Leser*in quasi Begleiter*in von Sechting. Man kommt ihm einerseits sehr nahe, andererseits ermöglicht die kommentierende, reflektierende Einordnung der Ereignisse auch immer wieder die (nötige) Distanz.
Dabei ist der Roman keine bloße Ansammlung biografischer Ereignisse, sondern enthält das Fachwissen auf einer anderen Ebene.
Fazit
Das Buch ist auf vielfältige Weise eine Fundgrube (oder Schatztruhe):
Es ermöglicht Studierenden oder Fachkräften, theoretisches Wissen über Zwangsstörungen mit einem konkreten Leben und dessen Entwicklungslinien zu verknüpfen. Dadurch wird das Wissen quasi lebendig und greifbar.
Es wird deutlich, wie wichtig die biografische Perspektive auf das Individuum ist, um Anhaltspunkte zu bekommen, zu verstehen, warum eine Person, die geworden ist, die sie ist – immer in dem Wissen, dass es auch ganz anders hätte kommen können.
Menschen mit eigenen Zwangsstörungen kann das Buch Mut machen, dass (Hoffnung auf) Gesundung möglich ist. Nicht im Sinne eines naiven Optimismus (Alles wird gut) und auch nicht, dass Gesundung nur Symptomfreiheit bedeutet. Aber in dem Sinne, wie es die Psychologin von Sechting formuliert: „Räume zurückzuerobern“ (S. 170), d.h. auch, den Spagat, „anzunehmen, was nicht zu ändern war, und anzugehen, was sich positiv verändern ließ“ (S. 179) zu meistern. Damit ist es auch eine persönliche Recovery-Geschichte, die selbst Hoffnung macht.
Somit können Psychiatrieerfahrene, Studierende, Fachkräfte, aber auch Lehrende vom „Zahlendieb“ ganz unterschiedlich profitieren und lernen. Die Lektion, die Sechting gelernt hat, ist folgende: „Eingeschnürt und gefesselt von meinen Zwängen komme ich trotzdem immer weiter und vorwärts im Leben“ (S. 188). Deshalb: Eine klare Leseempfehlung!
Rezension von
Prof. Dr. Michael Domes
Diplom-Sozialpädagoge, Professor für Theorien und Handlungslehre in der Sozialen Arbeit, TH Nürnberg Georg Simon Ohm
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