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Reinhard Winter: Praxisbuch Jungen in der Schule

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Tischner, 04.01.2019

Cover Reinhard Winter: Praxisbuch Jungen in der Schule ISBN 978-3-407-63077-3

Reinhard Winter: Praxisbuch Jungen in der Schule. Pädagogische Handlungsmöglichkeiten für Lehrerinnen und Lehrer. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2018. 166 Seiten. ISBN 978-3-407-63077-3. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,90 sFr.

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Thema

Verfolgt man die bildungssoziologischen Forschungsergebnisse der letzten etwa zwei Jahrzehnte, vor allem soweit es um den je unterschiedlichen statistisch erfassten Schulerfolg von Jungen und Mädchen geht, so drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Mädchen zu einem ausgedehnten Höhenflug aufgemacht haben, während die Jungen sich abgeschlagen inzwischen dauerhaft mit einem Platz auf dem Abstellgleis begnügen müssen. Dabei stehen die substantiellen Schulleistungen der Knaben, mit Ausnahme jener im Bereich Lesen, denen ihrer Mitschülerinnen in keiner Weise nach. Ganz im Gegenteil zeigen die Ergebnisse standardisierter Leistungstests in vielen Fächern einen signifikanten Vorsprung der Jungen, der sich, wie empirische Studien immer wieder belegen, weder in entsprechenden Fach- und Prüfungsnoten noch in adäquat anspruchsvollen Schulabschlüssen widerspiegeln. In ihrer im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland 2011 veröffentlichten Studie sprechen Maaz et al. aufgrund dieser ungewöhnlichen und nur schwer verständlichen Irregularität in der schulischen Leistungsbewertung nachgerade von einem „Umkehreffekt“.

Die notorisch inadäquate Leistungsbewertung ist keineswegs der einzige Grund dafür, dass es im Verhältnis zwischen Jungen und Schule gegenwärtig nicht stimmt, und vermutlich nicht einmal der Hauptgrund. Folgt man den Einschätzungen einer Reihe namhafter Schulkritiker, so hat sich die Schule in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zu einer Institution entwickelt, die den Interessen, Bedürfnissen und Eigenheiten des männlichen Teils der Schülerschaft nicht mehr gerecht wird. Von Schule als einem „weiblichen Biotop“ oder auch von deren „Feminisierung“ ist wegen des stetig schwindenden Anteils männlicher Lehrkräfte und des damit verbundenen Wandels der Schulkultur die Rede. Zudem potenziert die inzwischen nahezu flächendeckend eingeführte Koedukation die schulischen Nachteile, die Jungen gegenüber ihren Mitschülerinnen ohnehin bereits zu erleiden haben, indem sie einen direkten Vergleich zwischen ihnen ermöglicht und fördert. Dabei haben die Mädchen in allen Schule und Unterricht betreffenden Belangen die Nase klar vorn, was ein erhebliches Kränkungs- und Demotivierungspotenzial zur Folge hat.

Nicht nur weisen ihre Mitschülerinnen den Knaben gegenüber bis zur Pubertät einen Entwicklungsvorsprung von durchschnittlich etwa 1,5 Jahren auf. Mädchen sind ihnen mehrheitlich darüber hinaus auch hinsichtlich der sprachlich-kommunikativen, der fein- und graphomotorischen Fähigkeiten, der Fähigkeit zu Impulskontrolle und Selbststeuerung ihres Verhaltens sowie der Sozialkompetenz klar überlegen, während Jungen öfter als sie von Entwicklungs- und Teilleistungsstörungen, insbesondere in den Bereichen Sprache und Sprechen, Motorik sowie Wahrnehmung, zudem um ein Vielfaches häufiger von der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen sind.

Im Vergleich mit dem anderen Geschlecht, dessen vergleichsweise angepasstes und „pflegeleichtes“ Verhalten an den Schulen zur Norm gemacht wurde, stoßen Jungen mit solchen geschlechtstypischen Vorlieben und Wesensmerkmalen wie Rangordnung und Dominanz, Prahlen und Imponiergehabe, Experimentier-, Explorations- und Risikoverhalten, Überschreiten von Grenzen und eine gesteigerte körperliche Dynamik bei den Lehrkräften häufig auf Unverständnis und Ablehnung. Aufgrund ihrer Neigung, die von Lehrern beanspruchte Autorität nicht sofort und ohne weiteres anzuerkennen, sowie von Verhaltensweisen wie spielerisches Raufen, Rempeleien, Zwischenrufe im Unterricht, Kontaktaufnahme über Provokationen oder Rebellion gegen ein oftmals als „Harmonieterror“ empfundenes Friedensideal erfahren sie darüber hinaus oftmals Missbilligung, Disziplinierung und nicht selten empfindliche Sanktionen. Als junge Menschen, die in unserer Gesellschaft ihren Platz als Männer finden wollen, fühlen sich viele Knaben in der Schule oft unverstanden und nicht akzeptiert. Die Rektorin und Grundschullehrerin Birgit Gegier Steiner fordert deshalb für die Knaben eine „artgerechte Haltung“, eine Erziehung und Unterrichtung somit, die der Geschlechtstypik von Jungen gerecht wird.

In dieser Jungen wenig Trost bietenden schulischen Situation erscheint ein Buch auf dem Markt, in welchem der Autor erklärtermaßen das Ziel verfolgt, „die Bandbreite der Jungenproblematik in der Schule“ aufzuzeigen und „daraufhin Veränderungsvorschläge“ zu entwickeln. Dazu erscheint es ihm „notwendig, Verhaltensweisen von Jungen aus dem Männlichen heraus zu erklären, das Männliche von Jungen zu verstehen, um daraus Ideen und Vorschläge für Schulen bzw. für Lehrkräfte abzuleiten.“ (S. 11) Diese Absichtserklärung verspricht, das Jungenhafte von Knaben anzuerkennen, es jedenfalls nicht zu ignorieren oder abzuwerten und damit nicht, was in unseren Schulen heutzutage leider gängige Praxis ist, einer geschlechterpädagogischen Gleichmacherei zu verfallen, die alles Geschlechtstypische junger Menschen zu nivellieren trachtet.

Autor

Laut verkaufsfördernden Angaben des Beltz-Verlages ist Reinhard Winter „der profilierteste Jungenexperte im deutschsprachigen Raum“. Selbst wenn man sich diesem Superlativ nicht unbedingt anschließen mag, so kann man ihm doch die bei Amazon zu findende Zuschreibung, wonach er zumindest als „einer der bekanntesten Autoren zu Jungen- und Männerthemen im deutschsprachigen Raum“ gelte, keinesfalls absprechen.

Das ergibt sich zum einen daraus, dass der diplomierte und promovierte Erziehungswissenschaftler seit vielen Jahren in der Jungenarbeit sowie beraterisch tätig ist und eine Reihe von Büchern zur Jungenthematik verfasst hat. Zum anderen leitet er, gemeinsam mit einem Kollegen, seit 15 Jahren das „Sozialwissenschaftliche Institut Tübingen“ (SOWIT) mit den Schwerpunkten Sozialforschung, Organisationsberatung, Konzeptentwicklung und Qualifizierung.

Winter ist somit gleichermaßen in der jungenpädagogischen Praxis wie auch in der Theorie der Jungenerziehung und -bildung zuhause – ein Umstand, der anerkennend Erwähnung verdient, weil für die literarische Behandlung pädagogischer Fragestellungen leider keineswegs selbstverständlich.

Aufbau

Nach der Einleitung finden sich folgende Kapitelüberschriften:

  1. Bedenkliche Symptome
  2. Jungen männlich bilden
  3. Beziehung zwischen Junge und Lehrkraft
  4. Jungenbildung: Ansätze und Bezugspunkte
  5. Jungenpädagogische Übungen und Spiele

Eine ausführliche Gliederung des Buches findet sich bei der Deutschen Nationalbibliothek.

Zur Einleitung

In der Einleitung wendet sich der Autor vehement gegen „das ständige Betonen der Jungenmisere“ und damit gegen ein in den Medien kolportiertes „verzerrtes Bild“ von Jungen als „Bildungsverlierer[n]“ (9). Dennoch räumt er ein, dass es zwischen Jungen und Schule ein Passungsproblem gebe, das unter anderem aus einer zunehmenden Akademisierung und Dominanz verbalen und kognitiven Lernens resultiere, während das den Jungen stärker entgegenkommende „Handlungslernen mit allen Sinnen“ immer mehr zurücktrete. Auch habe sich der schulische Verhaltenscode in einer Weise gewandelt, der vielen Jungen „langweilig, unmännlich und leblos“ anmute. Winter betont eindringlich, dass „Probleme von und mit Jungen […] vom Männlichen her entschlüsselt und angegangen werden“ müssten. Dagegen werde das Männlichsein „in der Pädagogik wie eine unheilbare Krankheit behandelt“, die man hilflos erdulden müsse in der Hoffnung, dass sie sich nicht weiter ausbreite.

Zu 1. Bedenkliche Symptome

Im ersten Kapitel „Bedenkliche Symptome“ wartet Winter zum Thema „Jungen und Schule“ mit Daten und Fakten auf, die belegen, dass die Jungen von ihren Mitschülerinnen in puncto Schulerfolg statistisch massiv abgehängt wurden (14-16). Dennoch lehnt er es ab, die Jungen als „benachteiligt“ oder als „Bildungsverlierer“ zu bezeichnen, da derartige Zuschreibungen im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung dazu beitragen könnten, „dass Jungen sich noch mehr von der Schule distanzieren.“ (17) Auch spricht sich der Autor, um keine Feindbilder zu produzieren, dagegen aus, die schulische Situation von Jungen als „Verbot von Männlichsein“ zu deuten; stattdessen spricht er sich, in deutlicher Abkehr von „traditionelle[n] und beschränkte[n] Bilder[n] von Männlichkeit“, für „die Vielfalt des Männlichen“ aus. (18)

Zu 2. Jungen männlich bilden

Mit „Jungen männlich bilden“ ist das zweite Kapitel des Buches überschrieben, wobei der Verfasser in Abgrenzung zu „neuere[n] Gendertheorien“ besonders hervorhebt, dass es darin „um das eindeutig männliche Geschlecht von Kindern und Jugendlichen“ gehe. Geschlecht bilde dabei „ein komplexes bio-psycho-soziales Geschehen“, bei welchem „Wechselwirkungen zwischen Körper, Psyche und Gesellschaft“ von Bedeutung seien. (21) „Das Geschlechtliche von Jungen“ sieht Winter als „zuerst im Körper entstanden und dort verankert“. Die ausgeprägte Körperlichkeit von Jungen zeige sich in ihrer verstärkten Tendenz zu motorischer Unruhe und Dynamik, zu großräumigen Bewegungen sowie einer signifikanten Handlungsorientierung. Toben, Raufen und Mannschaftssportarten kennzeichneten das Spielverhalten der Knaben in besonderer Weise. Auch die männliche Lust am Kräftemessen, an Wettkämpfen und Wettbewerben jeglicher Art und den entschiedenen Willen, seinen Status in der Rangordnung der Gleichaltrigen zu behaupten und auszubauen, führt der Verfasser auf die Körperlichkeit der Knaben zurück. (22)

Da, wo es um Entwicklungen des „Psychisch-Männlichen im Jungen“ geht, sieht Winter primär das Thema Geschlechtsidentität angesprochen, bei welchem „zwei gegenläufige Erfahrungen und Beziehungsformen“ von Bedeutung seien: Zugehörigkeit und Abgrenzung. Um die daraus resultierende Beziehungsambivalenz bewältigen zu können, praktizierten Jungen einen Beziehungsmodus, der sowohl Nähe als auch Distanz erlaube: die „Aufgabenbeziehung“. Hier stehe nicht, wie in der Face-to-Face-Relation, das Persönlich-Beziehungsmäßige im Vordergrund, sondern „die Aufgabe, ein Auftrag, Problem, Ziel.“ (25) „Gesellschaftliche Prägungen“ schließlich bestimmen dem Autor zufolge „Bilder und Vorstellungen darüber, wie ‚männlich‘ sein sollte […]“. (26) Problematisch für Jungen sei, dass in kindlichen Lebenswelten die Männer, die ihnen solche Leitvorstellungen vermitteln könnten, in heutigen Zeiten rar geworden seien. Winter fordert deshalb: „Jungen brauchen mehr Männer, insbesondere in Kindergärten und Grundschulen […]“. (28)

Doch kommt für den Verfasser bei dem Vorhaben, Jungen explizit männlich zu bilden und ihnen eine selbstbewusste Geschlechtsidentität zu vermitteln, als ein weiteres Problem eine massive Männlichkeitskritik durch die seit den 70er-Jahren erstarkte Frauenbewegung hinzu. Seitdem stünden „traditionelle Bilder des Männlichen zu Recht heftig in der Kritik. Die alten patriarchalen Ideale sind überholt […]“ (28) Da ihnen die Pädagogen in dieser Situation, oft aus Unsicherheit und Angst vor Strafe, die nötige Unterstützung durch klare Leitlinien und Orientierungen in bezug auf Männlichkeit verweigerten, geraten Jungen Winter zufolge in einen „Männlichkeitsstress“. (29)

Dieser wird – so Winter – als „Männlichsein unter Druck“ für Jungen, die die Schule (gemäß der Kennzeichnung des Zürcher Psychologen Allan Guggenbühl) als ein „weibliches Biotop“ wahrnehmen, während sie sich selbst – im Sinne „veralteter Männlichkeitsbilder“ – als maskulin beschreiben, in Form schlechter Noten schmerzhaft erfahrbar. (29) Einen Schlüssel für einen besseren Schulerfolg solcher Jungen sieht der Autor unter diesen Umständen in einer expliziten „Männlichkeitsbildung“ in der Schule. (30)

Im Wege stünden Jungen einem besseren Schulerfolg allerdings oftmals männliche Selbstidealisierungen bis hin zum (männlichen) Größenwahn (31) und eine Etikettierung der Schule als „weiblich“ mit der Folge einer oppositionellen Haltung gegenüber der Schule, deren Anforderungen „Fleiß, Selbstdisziplin und Anstrengen“ als „uncool“ abgelehnt würden (32 f.). Das gelte in verstärktem Maße häufig für Jungen, die traditionell-muslimisch geprägten Herkunftsregionen entstammen und aufgrund männlicher Überlegenheitsvorstellungen dazu neigten, Frauen und damit auch Lehrerinnen abzuwerten oder sogar zu verachten (36 f.).

Zur Entfaltung von Jungenbildung sieht es Winter als notwendig an, mit dem Männlichen der Jungen pädagogisch umzugehen, wobei er es für „ein wesentliches Ziel der Jungenförderung in der Schule“ hält, „das Geschlechtliche der Jungen sozial verträglich und tragfähig für ein künftiges Männerleben zu entwickeln.“ Als „Hauptsätze der Jungenbildung“ postuliert er:

  1. „Jungenbildung greift Bedürfnisse von Jungen auf, die aus ihrem Männlichsein resultieren […], und gibt diesen Bedürfnissen Raum und Resonanz […], z.B. Klarheit, Bewegung, Handeln, Status, Konfrontation, Aufgabenbeziehung, Autorität.“
  2. „Jungenbildung hilft Jungen dabei, ihr Männliches weiterzuentwickeln und zu erweitern […].“
  3. „Jungenbildung setzt […] auf eine Vielfalt des Männlichen. […] Damit stellt sie sich gegen reduzierte Vorstellungen und Engführungen durch Stereotype, Geschlechteridealisierungen und -normierungen.“ (41)

Aufgrund der offenkundig mangelnden Passung zwischen der Schule und Jungen sieht der Verfasser einen Veränderungsbedarf und fordert er eine „jungengerechte(re) Schule“, die sich dadurch auszeichne, dass sie Knaben mit einer „grundsätzlich bejahende[n] Haltung zum Jungesein gegenüber“tritt. Dazu gehöre es unter anderem, „auch die motorischen Bedürfnisse von Jungen, ihre Handlungsorientierung und ihre Vitalität“ zu akzeptieren und ihnen Raum zu geben durch entsprechende „Bewegungs- und Sportangebote. Dem Bewegungsdrang von Jungen wird entsprochen, ihr Kraftpotenzial wertgeschätzt. Aus einer autoritativen Haltung der Lehrkräfte heraus hat eine solche Schule klare Regeln und sorgt dafür, dass sie auch durchgesetzt werden.“ (44)

Winter lehnt es aufgrund der ausgeprägten Verhaltens- und Interessensunterschiede zwischen den Geschlechtern ausdrücklich ab, das Verhalten der Knaben an jenem ihrer Mitschülerinnen zu messen. Als Beispiel weist er darauf hin, dass die Kommunikationsformen vieler Jungen nur wenig kompatibel mit dem schulischen Verhaltenscode seien: „[…] sie äußern Kritik pointierter, direkter, kämpferischer als viele Mädchen, sie wirkt dadurch vehementer und ist stärker statusorientiert. Lehrerinnen und Lehrer, die das persönlich nehmen, reagieren mit Beziehungsabbruch und schlechten Zensuren, was Jungen allerdings nur selten durchschauen; sie fühlen sich einfach gegenüber Mädchen benachteiligt.“ Winters Resümee lautet daher: „Mädchen und Jungen gegeneinander auszuspielen oder das jeweils andere Geschlecht als wünschenswerte Verhaltensnorm zu setzen, führt in die Irre.“ (46)

Zu 3. Beziehung zwischen Junge und Lehrkraft

Das dritte Kapitel ist dem Thema „Beziehung zwischen Junge und Lehrkraft“ gewidmet. „Jungenleben in der Schule“, so Winter, „ist Beziehungsleben“, wobei alle Beziehungen auch eine geschlechtliche Seite beinhalteten: „Jungen verstehen sich selbst als Jungen, zeigen sich anderen als männlich, wollen als Junge gesehen und kategorisiert werden […]“. Die Beziehungsgestaltung zu Schülern sieht er als einen „Hauptjob von Lehrkräften“, wobei jene zu den Schülern männlichen Geschlechts wegen des schlechten Jungenimages bei den Lehrern nicht selten vorbelastet sei, was seitens der sich abgelehnt fühlenden Schüler oft mit Rückzug, Abwertung der Lehrperson oder Rebellion beantwortet werde. (49 f.)

Für Winter ist klar, dass Jungen Autorität brauchen, um sich in der Schule orientieren zu können. Orientierung entstehe „durch Klarheit und Struktur, insbesondere durch eine stabile Leitplanke in der Person der Lehrkraft.“ (52) Ein autoritäres Verhalten von Lehrern dagegen schade, denn Jungen wünschten sich „durchaus eine nicht-autoritäre Schule“, jedoch „keine Weichspülpädagogen“, denn „‚kumpelhafte‘ Lehrkräfte [werden] oft nicht ernstgenommen […]“ und „gute Lehrkräfte müssen führen“. (53) Die dazu benötigte „pädagogische Autorität ist dabei immer auch paternalistisch angelegt.“ (54)

Eine geschlechtsbezogene Seite des Themas „Führung und Autorität“ von einiger pädagogischer Bedeutung besteht – so Winter – darin, dass Jungen „oft ein klares, markantes und entschiedenes pädagogisches Gegenüber [verlangen], sie sind als Jungen im Durchschnitt mehr und stärker auf Autorität angewiesen als Mädchen“. (54) Diese Autorität sollte sich gemäß den Vorstellungen des Verfassers durch einen autoritativen Beziehungsstil auszeichnen, „gleichermaßen und gleichzeitig nah, verstehend, mitfühlend, wie auch eindeutig, klar, kontrollierend oder wenn nötig auch konfrontierend.“ (55) Geprägt sein sollte sie des Weiteren von den Prinzipien der Präsenz sowie des Respekts. In der Schule zeige sich Präsenz als „wertschätzende Aufmerksamkeit der Lehrkraft“, als klares und entschiedenes Da-sein. (56) Respekt als „Basis jeder guten Beziehung“ indes komme Lehrern als Autoritätspersonen qua Auftrag vonseiten der Gesellschaft und der Eltern verdientermaßen zu, wobei Männer und Frauen je unterschiedliche Qualitäten mit Respekt in Verbindung brächten. (59) Schließlich zeichne sich Autorität auch dadurch aus, dass ihr Inhaber selbst in hektischen oder stürmischen Zeit einen klaren Kopf behalte und in der Lage sei, „Ruhe [zu] bewahren“. (60)

Einen geeigneten Weg, mit Jungen oder Männern in Kontakt und Beziehung zu kommen, bildeten gemeinsame Aktivitäten und das Bewältigen von Aufgaben: „Über das Tun, Machen, Erledigen entsteht Verbindung und Beziehung, Bezüge auf- und zueinander, etwas Gemeinsames wächst. Im Vordergrund steht dabei die Sache, das Problem oder der (auch selbstgewählte) Auftrag.“ (66) All dies sei in der Schule jedoch im allgemeinen wenig gefragt, sodass dort für Jungen nur wenig Gelegenheiten bestünden, vertiefte Kontakte und Bindungen zu ihren Lehrern aufzubauen. Winter führt allerdings einige Beispiele für schulische Initiativen und Angebote auf, welche auf die Interessen von Jungen zugeschnitten seien. (68)

In Abschnitt 3.5 kommt Winter auf das Thema „Lehrerinnen und Lehrer als Frauen und Männer“ zu sprechen. Die Geschlechterverteilung in Schulen habe sich gravierend verändert: „Neun von zehn Lehrkräften an Grundschulen sind Frauen […]. In allen allgemeinbildenden Schulen waren im Schuljahr 2015/16 nur noch 28 Prozent der Lehrkräfte Männer.“ Dieser beträchtlichen und zudem stetig wachsenden Geschlechterdisparität durch die Einstellung zusätzlicher männlicher Lehrkräfte entgegenzuwirken, hält der Autor für eine „Schnellschusslösung auf Jungenprobleme in der Schule“, die „sicher zu kurz“ greife. Nichtsdestoweniger ist er der Auffassung: „Das Geschlecht der Lehrkraft hat Gewicht“, wenn auch nicht soweit es um Auswirkungen „direkt auf Noten und Leistungen“ gehe (69), wohl aber „auf den Schulalltag, z.B. sind Interessen oder Kommunikationsstile auch geschlechtlich mitgeprägt“, und auch auf das Verhalten. (70) Nicht ausschließen mag er es, dass aufgrund mangelnder Interessensübereinstimmung die Beziehung vieler Lehrerinnen „zu Jungen schlechter ist als zu Mädchen.“ (71)

Zu 4. Jungenbildung: Ansätze und Bezugspunkte

Das Kapitel 4 darf sicherlich als das Hauptkapitel des Buches bezeichnet werden. Es wird eröffnet mit dem Thema Klarheit. (72) Winter führt zur Notwendigkeit von Klarheit in der Jungenbildung aus: „Transparenz und Klarheit sind bei Lehr-Lern-Strategien entscheidende Kategorien […], wozu gut strukturierte Modelle fürs Lernen, direkte Instruktionen und eine erkennbare Klassenführung gehören.“ (73) Für Klarheit spricht er sich auch aus in bezug auf die „Haltung zu Medienfragen“. Was die Nutzung elektronischer Medien angeht, von denen viele gezielt Jungen- und Männersehnsüchte ansprächen, so spricht sich der Verfasser für eine Begrenzung der Nutzungsdauer, eine Herabsetzung der Bedeutung der Medien im Alltag sowie eine Beschränkung auf altersgemäße Inhalte aus. (75)

„Anweisungen und Appelle von Lehrkräften“, die „häufig unklar und zu umfangreich formuliert“ würden, sollten Winter zufolge, der Leitidee einer „eindeutige[n] Kommunikation“ folgend, knapp, verständlich und prägnant sein. Jungen fühlten sich durch diffuse und zu umfangreiche Mitteilungen, denen der rote Faden fehlt, leicht verwirrt. (79) Da Jungen aufgrund ihres Männlichseins verstärkt zu Regelverstößen und Störungen tendierten, sei auch hier ein klarer Umgang zu fordern. Ein solcher Umgang drücke sich im Falle von Grenzüberschreitungen unter anderem in einer klaren Konfrontation aus. (80 f.) „Das Grundprinzip ist die Akzeptanz und Wertschätzung der grenzüberschreitenden Person, bei klarer Verurteilung des Fehlverhaltens.“ (82)

Das zweite Thema, das der Verfasser in diesem Kapitel behandelt, ist das der Bewegung. Da immer mehr Jungen hinsichtlich der Fähigkeit zum Stillsitzen im Schulunterricht als „auffällig“ etikettiert würden und sich die Normgrenzen des angemessen ruhigen Verhaltens in der Schule in einer sitzenden Wissensgesellschaft in Richtung der ruhigeren „Mädchennorm“ verschoben habe, würden „viele Jungen heute deshalb als hyperaktiv bezeichnet […], weil die Schule sich hypoaktiv entwickelt hat und Bewegung wie auch Handeln gegenüber dem kognitiv-akademischen Lernen entwertet sind.“ (85) Der gängige Unterrichtsstil ziele aufs Stillsitzen, sodass die Jungen ihre natürlichen Bewegungsimpulse unterdrücken müssten, mit der Folge einer rasanten Zunahme von ADHS-Diagnosen bei Jungen. Dabei belegten zahlreiche Studien eindrücklich: „Nicht Stillsitzen, sondern Bewegung macht Kinder schlau.“ Daraus ergebe sich, dass „falsche Konzepte in der Schule“ die gegenwärtige Pädagogik bestimmen. (86) Das müsse sich ändern zugunsten von „Körperbezüge[n] und Bewegung“, die „wie Üben oder Wiederholen als selbstverständliches Element zur Lernkultur gehören […].“ (87)

Der 3. Abschnitt des Kapitels ist dem Kämpfen und spielerischen Raufen gewidmet. Dieses müsse in Form einer Aggressionskultivierung durch Erlernen und Einhalten von Fairnessregeln geschehen, die es Jungen erlauben, „auf sozial verträgliche Weise zu konkurrieren“, um so ihren Status innerhalb der Rangordnung der Gleichaltrigen zu finden. Das Motiv, das dem körperlichen Kräftemessen von Jungen zugrundeliege, sei gewöhnlich ein rein spielerisches. Das spielerische Raufen habe einen freundschaftlichen Charakter, setze Vertrauen voraus und sei nicht darauf gerichtet, den Gegner zu verletzen oder ihm in anderer Weise zu schaden. (88-90)

Der darauffolgende Abschnitt hat vor dem Hintergrund, dass „Störungen, Regelverstöße und Disziplinschwierigkeiten […] in den meisten Schulen mit deutlichem Übergewicht eher ein Jungenphänomen“ darstellten, das Überschreiten von Normgrenzen zum Thema. Während grenzüberschreitendes Verhalten in der Schule von Lehrern in der Regel als problematisch und störend empfunden werde, könne es aus evolutionstheoretischer Sicht durchaus als „funktional“ bezeichnet werden. „Aus der Jungenperspektive verbergen sich dahinter […] Entwicklungswünsche und -möglichkeiten. Nicht nur individuell bietet anomisches Verhalten Entwicklungschancen. Regelüberschreitungen hinterfragen Normen und Erwartungen und ermöglichen damit Innovation.“ (91) Allerdings würden Funktionalität und Entwicklungschancen, die mit Grenzüberschreitungen verbunden sind, in ihrem Wert von den Verantwortlichen in der Schule oft nicht anerkannt. „Dementsprechend werden Jungen nur ausgebremst, abgewertet und moralisch diszipliniert, wenn sie sich mit solchem Verhalten zeigen.“ Im übrigen unterschieden sich Grenzverletzungen von Jungen sowohl hinsichtlich ihrer Häufigkeit als auch ihrer Wucht und Intensität deutlich gegenüber jenen von Mädchen, bis hin zu kriminellen Handlungen. Insofern seien sie eng mit dem Männlichen verknüpft. (92)

„Jungen sind in der Tendenz eher forschend, experimentell oder explorativ orientiert.“ Handlungsorientierung bildet, dieses Motiv aufnehmend, das Thema des nachfolgenden 5. Abschnitts, in welchem Winter dazu ausführt: „Für viele Jungen wird Interesse besonders dort spürbar, wo sie handgreiflich werden können, wenn sie etwas herstellen, verarbeiten, experimentieren, wo sie planen und durchführen und Resultate am eigenen Leib erleben können, wo es Ernstfälle und nicht nur Spielwiesen gibt.“ (94) Resümierend gelangt er zu folgender Einschätzung: „Jungen [brauchen] einfach mehr handlungsorientiertes Lernen, mehr Ernstsituationen und den Kontakt im wirklichen Leben außerhalb der Schule.“ (95)

Mit „Beziehungen unter Jungen (mit)gestalten“ ist der 6. Abschnitt des Kapitels überschrieben, welcher Hierarchiebildung, Rangordnungen und Konkurrenzverhalten innerhalb von männlichen Gleichaltrigengruppen zum Gegenstand hat. Denn kennzeichnend für Jungengruppen sind, wie Winter feststellt, ein „erhöhtes Aktivitäts- und Dominanzverhalten“ sowie „hierarchische Strukturen“. Da die anderen Jungen den Ton angäben, bildeten „die Beziehungen von Jungen zu gleichaltrigen Geschlechtsgenossen für ihre Lebenswelt Schule eine maßgebliche Größe.“ Die Schule stelle für Jungen immer auch eine Bühne dar, um sich Peers gegenüber als männlich in Szene zu setzen. Daher seien nicht die Normen der Schule der Maßstab für die männliche Anerkennung, sondern jene der Peergroup. „Ab der Pubertät motivieren Mitschüler mehr zum Lernen als die Lehrkräfte, weshalb hier die Dynamik unter den Gleichaltrigen erfolgsentscheidend werden kann.“

Da in vielen Jungengruppen eine offen oder verdeckt ablehnende Haltung gegenüber schulischen Anforderungen und Erwartungen angesagt sei, versprächen die Ablehnung solcher Anforderungen und Erwartungen und das Auflehnen gegen das System Schule Prestigegewinn bei den Mitschülern. (96) Ähnliches gelte für die Abgrenzung gegenüber den „fleißigen“ Mädchen. Um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, ein „Streber“ zu sein, pflegten viele Jungen hinsichtlich schulischer Anstrengungsbereitschaft einen demonstrativen Minimalismus.

Mit zunehmender Größe und Komplexität der Gleichaltrigengruppe und der damit verbundenen Unübersichtlichkeit sieht der Verfasser die Gefahr einer Überforderung vieler Jungen verbunden, die nicht selten motorisch ausagiert werde und in Aggression, Gewalt und Unterdrückung ausarte. (97) Um einer chaotischen Entwicklung oder gar einem sozialen Kollaps vorzubeugen, sei ein „Training sozialer Kompetenzen“ hilfreich. Von Vorteil sei ein solches Training aber gleichzeitig zur Förderung des Wohlbefindens der Schüler und zum „Herstellen einer entspannten lern- und entwicklungsförderlichen Lage für Jungen in der Schule.“ (99)

Im nachfolgenden 7. Abschnitt des Kapitels geht es um ein Entschärfen der Koedukation (100 ff.), welche, wie Winter sogleich anmerkt, für Jungen „nicht nur entspannend [sei], im Gegenteil.“ Daher tue vielen Jungen „eine zeitweilige oder auch dauerhafte Geschlechtertrennung gut […]“. Aufgrund ihres im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen nicht unbeträchtlichen allgemeinen „Entwicklungs-‚Nachsprungs‘“ von im Durchschnitt 1- 2 Jahren, mit welchem auch eine verzögert einsetzende Fähigkeit zur Impulskontrolle verbunden sei, stelle sich bei den Knaben gewöhnlich „ein wiederkehrendes Gefühl der Unterlegenheit, schlimmstenfalls eine latente Dauerkränkung ihres kollektiven geschlechtlichen Selbstwertgefühls […] ein. Das kann Jungen demotivieren oder frustrieren, Stress produzieren […]“. (101) Als Lösung für dieses Problem spricht sich der Autor als „Ergänzung zum koedukativen Unterricht“ zum einen für eine „phasenweise Entlastung von Koedukation“, zum anderen, zwecks wechselseitigen Redens über persönliche Befindlichkeiten, für „Jungenkonferenzen“ aus. (103)

Lernen: Unterrichtsinhalte und -stil“ ist das Thema des 8. Abschnitts innerhalb dieses Kapitels. (103) Aufgrund der bei Jungen oft schwächer entwickelten sprachlichen Fähigkeiten spricht sich der Verfasser für eine gezielte Jungenleseförderung aus. Während in der Schule verbales, kognitiv-akademisches Lernen und Kopfbildung dominierten, könnten die Jungen weitaus besser von Lernangeboten profitieren, die auf Bewegung und Handeln basierten und alle Sinne ansprächen. Beziehungen müssten harmonisch gestaltet, Konflikte stets verbal geregelt und mediatisiert werden. „Diese Art von Schule wirkt kontrolliert, artig und gezähmt – aber in vielen Jungenaugen langweilig, brav, unmännlich und leblos, […] zahlreiche Themen und Inhalte der Schule […] einschläfernd und fad.“ (104) Winter fordert deshalb einen Unterrichtsstil, der verstärkt auch auf Interessen und (funktionalen) Denkstil der Jungen eingeht. (105)

Zum Thema Motivation (Abschnitt 4.9) stellt Winter zunächst einmal fest, dass diese grundsätzlich angeboren sei. Ein wesentliches Problem sei, dass Jungen oft nicht verstünden, wozu eine Institution, die ihre Interessen vielfach ignoriere und damit ihre angeborene Motivation abbremse, „fürs Männerleben gut sein soll.“ (107) In dieser Situation setzt der Autor auf „Beziehung als Motivationsträger und -beschleuniger“, wobei in gleicher Weise Beziehungen zu Lehrkräften als auch zu Gleichaltrigen gemeint sind, (110) sowie den „Dreiklang der Motivation aus Kompetenz, Selbstbestimmung, Zugehörigkeit […]“. (112 ff.)

Der letzte Abschnitt des Kapitels ist dem Thema „Männlichkeitsbildung“ gewidmet. Winter stellt dazu fest, dass „das Männliche […] stark in Veränderung begriffen“ sei. Trotz existierender Restbestände „traditionelle[r] Bilder und Vorstellungen von Männlichkeit“ wisse jeder Mann, dass „Patriarchat und echtes Machotum […] längst überholt“ seien. Der Autor warnt vor der Falle „reduzierte[r] und stereotype[r] Bilder über Männlichkeit“, die Jungen in der Schule „geradewegs in ein Dilemma“ führten: Jungen, die sich für Männlichkeit entscheiden – und damit auch dem Wunsch von Mädchen und Frauen entsprechen, die „nach wie vor gerne den starken Mann als ‚Beschützer‘ hätten“ – und es dafür in Kauf nehmen, sich in Widerspruch zu schulkonformen Erwartungen zu begeben, zahlen dafür einen hohen Preis. Es gehe um nicht mehr und nicht weniger als um ihren Erfolg in der Schule und damit um ihre Zukunft. (119)

Oft sei die Suche von Jungen „nach guten, tragfähigen Männlichkeitskonzepten“ nur wenig erfolgreich, nachdem ehemals in hohem Ansehen stehende männliche Tugenden wie „Mut, Durchsetzungsfähigkeit, Leistungswille oder Autonomie“ eine massive gesellschaftliche Abwertung erfahren hätten. (120) Doch sei es mit einer „Abwertung und Abgrenzung des Alten, Traditionellen“ nicht getan. (121) Deshalb führt der Verfasser eine Reihe von „positive[n] männliche[n] Eigenschaften und erwünschte[n] Kompetenzen [auf], die nicht im traditionellen Dominanzbezug eingehängt sind“, wie Achtsamkeit, Ausgeglichenheit, Beharrlichkeit und viele andere mehr. (122 f.) Abschließend skizziert er sein „Variablenmodell eines ‚balancierten‘ Jungeseins“, welches „einen Zugang über ein eher dynamisch zu verstehendes Verständnis des Männlichen bieten“ soll. Es beinhaltet acht Begriffspaare „als komplementäre Antagonisten […], als Gegenspieler, die sich brauchen und ergänzen.“ (124)

Zu 5. Jungenpädagogische Übungen und Spiele

Das Kapitel 5 schließt das Buch ab. Darin geht es um „Kennenlernen, Anwärmen, Beziehungen, Gruppe“ (5.1), um „Handeln, Bewegung, Körperkontakt“ (5.2), um „Beziehungen, Partnerschafts- und Teambildung“ (5.3), um „Kämpfen, assertive Aggression“ (5.4), um „Cool-down, Herunterkommen, Entspannen, Selbstmanagement“ (5.5) und schließlich um „Männlichkeitsbildung, Männlichkeit und Mannsein“ (5.6), wobei der Autor einmal mehr einen „Stereotypenalarm“ ausruft (157).

Zielgruppen

Das Buch, das sich ausdrücklich als ein „Praxisbuch“ versteht und Lehrern pädagogische Handlungsmöglichkeiten aufzeigen will, eignet sich für alle, die es, in erster Linie im Bereich Schule, pädagogisch mit Jungen zu tun haben. Dazu zählen neben Lehrern Schulsozialarbeiter und -psychologen, im erweiterten Sinne aber auch Sozialpädagogen im Bereich der Jugendhilfe, Jugendberufshilfe und Jugendarbeit sowie Vertreter der Schulpolitik und Schulverwaltung.

Diskussion und Fazit

Das Buch stellt einen Gewinn für jeden dar, der in der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen tätig und dem daran gelegen ist, einer weiteren Benachteiligung von Jungen entgegenzuwirken, ganz besonders für in der Schule und deren weiteren Umfeld Tätige. Erfrischend ist Winters Ansatz, die Erziehung und Bildung von Jungen, deren geschlechtstypische Interessen, Bedürfnisse und Anliegen in den Schulen bislang kaum Beachtung finden, ausdrücklich und gezielt „vom Männlichen her“ in Angriff zu nehmen und damit zum Dreh- und Angelpunkt seiner Jungenpädagogik zu machen. Zugleich hebt er sich damit wohltuend ab von älteren Konzepten einer betont männlichkeitskritischen Jungenarbeit im Gefolge oft gutgläubig rezipierter Gender-Mainstreaming-Programme, deren „hidden agenda“ nicht selten die „antisexistische“ Umerziehung von Knaben, die unverständlicherweise noch an „antiquierten Männlichkeitsbildern“ klebten, zum Ziel hatte.

Das Buch ist kein im engeren Sinne wissenschaftliches Werk, wohl aber ist es wissenschaftlich gut fundiert; zudem besticht es durch seinen hervorragenden Anwendungsbezug. Es zeichnet sich durch eine klare, logische und systematische Gliederung und Darstellung aus. Die sprachliche Ausdrucksweise ist im allgemeinen angemessen und gut verständlich. Allerdings scheut sich der Verfasser, obwohl mit kritischen Kommentaren insgesamt keineswegs sparsam, an manchen Stellen, an denen es dem Rezensenten notwendig erscheint, mit mehr Entschiedenheit Klartext zu reden, und bleibt damit hinter seinen eigenen Forderungen und Ansprüchen zurück (72 ff.).

Die beanstandete Formulierung „Feminisierung der Schule“ (69) bspw. bezeichnet rein beschreibend eine insbesondere für Jungen außerordentlich bedeutsame Veränderung der Rahmenbedingungen schulischen Lernens, welche weder populistischen noch pejorativen Charakters und in der geschlechterpädagogischen Debatte im übrigen längst zu einer gängigen Münze geworden ist. Wenn Winter an anderer Stelle moniert, dass Jungen aus der Pädagogik „meist keine Unterstützung“ erhalten, weil „Lehrkräfte [aus eigener Unsicherheit und Angst vor Strafe] dem heiklen männlichen Geschlechterthema lieber ausweichen“ (29), so wäre auch dort ein klares Wort aus der Pädagogik hilfreich, das Jungen entschlossen dazu ermutigt, dem vom Verfasser identifizierten „Männlichkeitsstress“ gelassen und selbstbewusst zu begegnen und sich ihres „Männlichseins“ nicht zu schämen.

Ähnliches gilt für Ausführungen des Verfassers zum Thema Koedukation, die er für Jungen durch eine „phasenweise Entlastung“ davon zu „entschärfen“ empfiehlt, weil die gemeinsame Unterrichtung mit Mädchen für sie „nicht nur entspannend“ sei. (100 f.) Angesichts der von ihm genannten durchaus triftigen Gründe, die gegen die gemeinsame Unterrichtung sprechen, (s. dazu auch: „Dauerstress für Jungen“, Interview in: SZ, 07.05.2012) würde man vom Autor eher die Empfehlung erwarten, das Thema zu entideologisieren und die Koedukation als ganze auf den Prüfstand einer kritisch-pädagogischen Analyse und Bewertung zu stellen, in welcher Kosten und Nutzen für beide Geschlechter einander gegenübergestellt werden.

Winters Zurückhaltung in seinen Äußerungen zu diesen Punkten, die um weitere ergänzt werden könnten, ist nicht zu tadeln. Seine Gründe dafür sind sicher wohlüberlegt, aufgrund seiner langjährigen jungenpädagogischen Erfahrung theoretisch und praktisch fundiert und verdienen deshalb Respekt.

Fazit: Dieses Buch stellt die Jungenpädagogik sehr kompetent und nutzbringend von ihrer schulpraktischen Seite her dar. Es zeigt pädagogisch durchdacht Wege auf, Schule und Unterricht jungengerecht zu gestalten, und ist vor allem Lehrern sehr zu empfehlen.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Tischner
Emeritierter Hochschullehrer an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm, Fakultät Sozialwissenschaften. Lehr- und Arbeitsgebiete: Pädagogik, Sozialpädagogik, Hilfen zur Erziehung, Schulsozialpädagogik, Konfrontative Pädagogik, Jungen- und Geschlechterpädagogik.
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Zitiervorschlag
Wolfgang Tischner. Rezension vom 04.01.2019 zu: Reinhard Winter: Praxisbuch Jungen in der Schule. Pädagogische Handlungsmöglichkeiten für Lehrerinnen und Lehrer. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2018. ISBN 978-3-407-63077-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24575.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.


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