Hilarion Petzold, Brigitte Leeser et al. (Hrsg.): Wenn Sprache heilt (Poesie- und Bibliotherapie, Biographiearbeit und Kreatives Schreiben)
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Waldemar Schuch, 29.06.2018
Hilarion Petzold, Brigitte Leeser, Elisabeth Klempnauer (Hrsg.): Wenn Sprache heilt. Handbuch für Poesie- und Bibliotherapie, Biographiearbeit und Kreatives Schreiben. Festschrift für Ilse Orth.
Aisthesis
(Bielefeld) 2018.
1038 Seiten.
ISBN 978-3-8498-1252-2.
D: 88,00 EUR,
A: 90,50 EUR,
CH: 114,40 sFr.
Reihe: Aisthesis Psyche. Vergleichende Psychotherapie, Methodenintegration, Therapieinnovation - Studientexte integrativer Therapie.
Thema
Sprache ist Welterkenntnis im Kontext und Kontinuum, entstanden im Polylog konkreter Sprecher und weiterhin entstehend durch ko-kreative Transformation von lebendiger, sinnlicher Welterfahrung auf einer symbolischen Ebene (Petzold 2010).
Aufbau
Das umfangreiche Buch ist in drei Teile gegliedert:
- Theorie,
- Praxeologie in Therapie und Kulturarbeit,
- Praxis in Therapie und Agogik.
Letzteres Kapitel enthält u.a. therapeutische Praxisberichte zur Arbeit in der Lebensspanne mit Kindern, Jugendlichen, alten Menschen, Sterbenden.
Das Buch wird beschlossen durch die herausragende neue Arbeit von Petzold und Orth: „Epitome. – Polyloge in der Integrativen Therapie: Mentalisierungen und Empathie, Verkörperungen und Interozeption, – Grundkonzepte für komplexes Lernen in einem intermethodischen Verfahren ko-kreativen Denkens und Schreibens“ sowie einem Literaturgesamtverzeichnis Orth, Petzold und MitarbeiterInnen und einem Schlagwortregister.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Übersicht
Hilarion Gottfried Petzold und Mitherausgeberinnen legen hier ein in mehrfacher Hinsicht gewichtiges Werk vor. Das Buch erfüllt eine Doppelfunktion: Es ist einerseits Handbuch und andererseits Festschrift. Und mehr noch: Es ist ein auf die Zukunft gerichtetes, wertvolles Vermächtnis von Leitfiguren der Poesie- und Bibliotherapie.
Der Festschriftcharakter ist schnell abgehandelt: Es beginnt mit einem Portrait von Ilse Orth (Autorin Johanna Sieper), dem einige „Kollegiale Statements“ folgen. Ilse Orth ist neben Johanna Sieper die Frau, die wesentliche, richtungsweisende theoretische Beiträge zur Integrativen Therapie geleistet hat. Ihre Beiträge decken ein weites Feld ab. Die Schwerpunkte ihrer Veröffentlichungen liegen im kreativen Bereich: auf Kunst- und Poesietherapie (Petzold, Orth 1990). Das Interview mit Ilse Orth ist eingehend und aufschlussreich. Es umreißt den Umfang ihres Werkes, ihres tiefen Denkens und bedeutenden Wirkens. Um nur einen ihrer Gedanken aufzugreifen: In jedem Gesehenen ist Ungesehenes. In jedem Gesagten ist Ungesagtes. In jedem Gedachten ist Ungedachtes. Wenn sich das Denken im Sprechen vollzieht, sei es inneres Sprechen, sei es lauthaftes Sprechen, wird es interessant, was im Geäußerten ungeäußert bleibt, was im Bewussten unbewusst bleibt. Es ist das Privileg der kreativen Methoden, eben dieses Unbewusste, Ungeäußerte, das Unscheinbare zum Vorschein zu bringen und Unsägliches sagbar zu machen.
Das Handbuch enthält zahlreiche, zum Teil umfangreiche, immer lesenswerte Beiträge – zumeist von Autorinnen. Der Reihe nach:
- Heidrun Räuchle: „Prozesse persönlicher Hermeneutik und Lebensgestaltung“,
- Stefanie Bläser: „Narrative Identität“,
- Elisabeth Klempnauer: „Green Writing – Schreiben in der Natur und von Naturerfahrungen“,
- Yon Suk Chae: „Integrative Poesie- und Bibliotherapie in Korea“,
- Jacqueline Blumberg: „Poesie- und Bibliotherapie: Forschung, Forschungsstand und Wirksamkeit“,
- Brigitte Leeser: „Worte werden Bilder – Bilder werden Worte“,
- Birgit Hirsekorn: „Schauen und angeschaut werden“,
- Andrea Grieder: „Poesie in Ruanda: Kühe und Schmerz“,
- Brigitte Pagendamm, Birgit Schreiber: „Potenziale entfalten“,
- Nicole Mundhenk: „Stressprävention“,
- Christiane Kretschmar: „Kleine Literaturapotheke“,
- Lutz von Werder: „Schreibtherapie als Selbsthilfe“,
- Christine Hummel: „Ziele formulieren und Übergänge kreativ gestalten“,
- Christa Henrichmann: „Was unterscheidet kreatives Schreiben (…) von der Aufsatzerziehung in der Schule?“,
- Angelika Calmez: „Sind Methoden der Integrativen Poesie- und Bibliotherapie hilfreich im Deutschunterricht für Geflüchtete?“
- Guido Lersen: „Psychiatrische Poesietherapie am Beispiel der Gedichtform Sonett“,
- Daniela Kleinschek: „LungenhochdruckpatientInnen und die Poesietherapie“,
- Alexandra Ramssl-Sauer: „Träume und Poesie“,
- Mareike van Elsbergen: „Weisheiten verbinden“,
- Ria Jansenberger: „Weil kein Kind lacht über gemahlene Macht…“,
- Eva-Maria Helmsorig: „Kreatives Schreiben als Methode der Leseförderung“,
- Petra Fiezek: „Ameisenbarbecue. Kurs ‚Kreatives Schreiben‘ für Jugendliche“,
- Beatrice Escher-Andersen: „Integrative Schreibberatung bei wissenschaftlichem Schreiben“,
- Adelheid Liepelt: „Kreatives Schreiben mit Menschen, die von einer Krebserkrankung betroffen sind“,
- Irma Petzold-Heinz: „Der Umzug – Wohnung und Quartier als Lebenswelt“,
- Praxedes Wenk-Kolb: „Hingabe an das Leben als persönliche Lebensaufgabe“,
- Anja Nevanlinna: „Integrative Poesie- und Bibliotherapie im Trauerprozess“.
Das Buch enthält darüber hinaus einen Bericht von Hilarion G. Petzold: „Integrative Arbeit mit einem Sterbenden“, sowie von Petzold und Orth: Das Curriculum der Poesie- und Bibliotherapie sowie den Forschungsbericht von Jacqueline Blumberg und Hilarion G. Petzold: „Evaluationsergebnisse der Weiterbildung in Poesie- und Bibliotherapie im Integrativen Verfahren an der EAG aus den Jahren 2008 bis 2017.“
Ausgewählte Inhalte
Ich möchte hier die beiden Arbeiten von Petzold und Orth, „Leib, Sprache, Geschichte in einer integrativen und kreativen Therapie“ sowie „Epitome. Polyloge in der Integrativen und kreativen Psychotherapie“ hervorheben.
Sowie den Artikel von Hilarion G. Petzold: „Intersubjektive, konnektivierende Hermeneutik, Transversale Metahermeneutik, ‚Multiple Resonanzen‘ und die ‚komplexe Achtbarkeit‘ der Integrativen Therapie und Kulturarbeit.“ Dies deshalb, weil sie wesentliche Bestandteile der Petzold / Orthschen Theorie beinhalten und durch die Art ihrer Darstellung einen klaren wissenschaftstheoretischen Blick auf die Struktur und Qualität dieser Theorie ermöglichen. Ich hatte einmal in einer früheren Arbeit (Schuch 2002) Petzolds Art der Theoriebildung eher als durchgängigen Stil als eine formal durchgehaltene Theorie klassifiziert und dies anhand der Begriffe Exzentrizität, Mehrperspektivität, Synopse, Konnektivierung und Transversalität durchdekliniert. Mittlerweile hat sich die Theorie weiterentwickelt, insbesondere differenziert, sind Zwischenräume gedanklich gefüllt, liegen zahlreiche, umfassende Definitionen vor. Nicht zuletzt hat sich das Integrationswerk in einem letzten Schritt auf die Natur zu bewegt und damit ausgeführt und konsequent um das erweitert, was wesenslogisch bereits vorgesehen war.
Hermeneutik – nach Petzold mit der Phänomenologie verschwistert – nimmt neben der Letzteren eine zentrale Stellung in Petzolds Theoriebildung ein. Petzold spricht sich für eine transversale Erkenntnissuche durch eine konnektivierende Hermeneutik aus, die nach Art der Kollage vorgeht. Demnach verschaffen immer wieder neu anzufertigende Kollagen immer wieder aufs Neue Möglichkeiten, sich neue Bilder zu machen, neu zu konnektivieren und so in der Erkenntnissuche fortzuschreiten, im Sinne eines transversalen, sich ständig überschreitenden Verfahrens. Erkenntnis stellt dann kein Ergebnis dar, bildet keinen Abschluss, sondern bleibt programmatisch immer Suche, wird durch Innehalten allenfalls zur Position auf Zeit.
Thematisch schlägt Petzolds Gedankenführung einen Bogen von der Leibphilosophie, seinem Begriff von Leiblichkeit, seiner Anthropologie des informierten Leibes, seinen Begriffen von komplexer Achtsamkeit und komplexer Resonanz, über die Neurowissenschaften bis hin zur ökologischen Kontexttheorie. In diesem Durchgang kann „Transversale Hermeneutik“ zur Praxis metareflexiver Kulturarbeit werden. Transversalität definiert er als Voranschreiten, in immer deutlicher werdenden Suchbewegungen von Menschen, Organisationen, Institutionen – weltweit.
Petzold erweitert und differenziert auf diese Weise die Formel vom „Leibsubjekt in der Lebenswelt“ durch zahlreiche weitere Gesichtspunkte, insbesondere unter Berücksichtigung der neueren wissenschaftlichen Forschung, namentlich die Neurosciences und unternimmt sozusagen einen Gang in die Peripherie des Leibes. Er sucht immer wieder die Exzentrizität und die von da aus vorgenommenen Formulierungen des Seins. Er nimmt dabei in Kauf, dass die von ihm kollagierten Erkenntnisschritte wissenschaftstheoretisch nicht immer auf einer Höhe resp. auf einer Linie sind. Insbesondere gerät er durch diese Art der Theoriebildung in Gegensatz zu einer parsimonischen Auffassung von Phänomenologie. Aber all das ist nicht sein Problem. Zielt doch sein Denken auf die Ermöglichung von Vielfalt, auf die Zulässigkeit heterotopischen Argumentierens und auf die Gültigkeit heterogener Ordnungen. Mit diesem Ansatz kann er sich dann auf eine erkenntnistheoretische Gratwanderung machen, nämlich die innerhalb der leibphilosophisch nicht überschreitbaren Grenzen des Leibes wahrgenommene, aber außerhalb dieser Grenzen wissenschaftlich situierte Realität zu betonen.
Der Artikel „Epitome – Polyloge in der Integrativen Therapie: Mentalisierungen und Empathie, Verkörperungen und Interozeption, – Grundkonzepte für komplexes Lernen in einem intermethodischen Verfahren ko-kreativen Denkens und Schreibens“ bildet zum einen einen fokussierten Auszug aus dem umfangreichen Werk von Petzold und Orth und zum andern stellt er den neuesten Stand der innovativen Theorieentwicklung dar. Dieser Auszug – in meinen Augen der Höhepunkt des Bandes – stellt in sechs thematisch geordneten Kapiteln noch einmal begrifflich das Ergebnis einer themenreichen Entwicklung dar, immer wieder auch bezogen auf die Integrative Poesie- und Bibliotherapie. Der Integrative Ansatz wird anhand zahlreicher Definitionen als bio-psycho-sozial-ökologische Humantherapie im mundanen Kontext und undanem Kontinuum präsentiert. Integrative Therapie verschränkt naturwissenschaftliche und human- bzw. geisteswissenschaftliche Perspektiven. Sie verknüpft Exterozeptives und interozeptives Wahrnehmen, Verarbeiten, Memorieren, Lernen. Sie verdeutlicht das Zusammenspiel des Lernens, „ein Selbst zu werden“, (d.h. Selbst-Lernen, Selbstverstehen) und des „Lernens der Welt“ (Welt-Lernen, Weltverstehen). Denn nichts geht ohne Lernen. Auch die Generierung von Sinn, die Sinnschöpfung verlangt nach Prozessen komplexen Lernens.
Die Arbeit schließt mit einem gemeinsamen Bekenntnis der Leitfiguren der Integrativen Therapie Hilarion G. Petzold / Johanna Sieper / Ilse Orth: „Unser Credo: Poiesis – Welt ko-kreativ gestalten“. In diesem Credo vertreten sie eine Ästhetik und Praxis des Humanen und Ökologischen. Integrative Poesie- und Bibliotherapie, Biographiearbeit und ko-kreatives Schreiben als transversale Methoden des Denkens und Handelns kommt hierbei eine zentrale Stellung zu.
Fazit
Das Buch kommt mir bedeutend vor. Jedenfalls erfüllt es weitaus mehr als von einem Handbuch erwartet werden kann. Selbstverständlich verschafft es einen ebenso differenzierten wie breiten Überblick, gewährt dabei tiefgehende und anregende, letztlich wegweisende Einblicke in Theorie und Praxis der Integrativen Poesie- und Bibliotherapie, wie sie von Hilarion G. Petzold und Ilse Orth begründet und entwickelt worden ist. Ein Handbuch enthält in der Regel viel Bekanntes und Bewährtes. Dies liegt in der Natur der Sache. Dieses Handbuch enthält aber darüber hinaus auch viel Neues und Wegweisendes. Ich sehe es als ein auf die Zukunft gerichtetes, wertvolles Vermächtnis.
Literatur
- Petzold, H. G. (2010): Sprache, Gemeinschaft, Leiblichkeit und Therapie. Materialien zu polylogischen Reflexionen, intertextuellen Collagierungen und melioristischer Kulturarbeit – Hermeneutica. POLYLOGE 7 / 2010. www.fpi-publikation.de downloads/download-polyloge/download-nr-07-2010-petzold-h-g-2010 f.html.
- Petzold, H. G. / Orth, I. (1990): Die Neuen Kreativitätstherapien. Handbuch der Kunsttherapie. 2 Bde. Paderborn (Junfermann).
- Schuch, H. W. (2002): Integrative Therapie. Ein kurzer Versuch über Denken, Positionen und klinische Verfahrensweise. GESTALTTHERAPIE 16, 1, Mai 2002, 100 – 124.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Waldemar Schuch
Lehr- und Kontrollanalytiker, Lehrsupervisor, Vis. Professor am Departement für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Universität Krems
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Zitiervorschlag
Hans Waldemar Schuch. Rezension vom 29.06.2018 zu:
Hilarion Petzold, Brigitte Leeser, Elisabeth Klempnauer (Hrsg.): Wenn Sprache heilt. Handbuch für Poesie- und Bibliotherapie, Biographiearbeit und Kreatives Schreiben. Festschrift für Ilse Orth. Aisthesis
(Bielefeld) 2018.
ISBN 978-3-8498-1252-2.
Reihe: Aisthesis Psyche. Vergleichende Psychotherapie, Methodenintegration, Therapieinnovation - Studientexte integrativer Therapie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24581.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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