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Stephan Günzel: Raum. Eine kultur­wissenschaftliche Einführung

Rezensiert von Prof. Simone Gretler Heusser, 10.10.2018

Cover Stephan Günzel: Raum. Eine kultur­wissenschaftliche Einführung ISBN 978-3-8376-3972-8

Stephan Günzel: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung. transcript (Bielefeld) 2017. 156 Seiten. ISBN 978-3-8376-3972-8. D: 14,99 EUR, A: 15,50 EUR, CH: 19,40 sFr.
Reihe: Edition Kulturwissenschaft - Band 143.

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Thema

Stephan Günzel sieht den Spatial Turn, die Hinwendung zum Raum, nicht nur als akademisches Phänomen, sondern als Reflexion der Veränderung der Lebenswelt. Globalisierung und insbesondere die Entwicklung von Mobilität und Kommunikationsmitteln verändern nachhaltig die Art und Weise, wie sich die einzelnen Menschen in ihrem Alltag bewegen, woher die konsumierten Güter stammen und welche Bezüge sie zu verschiedenen Räumen konstruieren. Dies bezieht sich sowohl auf die quantitativen als auch auf die qualitativen Aspekte des Raumes. Stadt / Land, privat / öffentlich, geplant / spontan, reguliert / frei, begrenzt / offen, gewählt / zugewiesen – dies sind nur einige wenige Gegensatzpaare, welche die Raumerfahrung und das Erleben des Raums prägen. Stephan Günzel zeigt dazu sehr schön die historische Entwicklung auf.

Aufbau

Stephan Günzel gliedert sein Werk in drei grosse Kapitel, denen eine Einleitung vor- und eine Nachbemerkung nachgestellt ist. Diese drei Kapitel widmen sich

  1. den Ambivalenzen resp. den Antinomien des Raums,
  2. der Produktion des Raums und schliesslich
  3. (früheren) Wenden resp. Turns zum Raum.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Ausgewählte Inhalte

In seinem Buch gelingt es Stephan Günzel auf eindrückliche Weise, ein Jahrtausende und Kontinente überspannendes Wissen vorzustellen. Indem er klassische Positionen der Philosophie und der Soziologie mit neuen Ansätzen wie der postkolonialen Theorie und der Wissenschaft des Ortes, der Topologie, zusammenbringt, kann die Leserin/der Leser dort anknüpfen, wo sie/er sich zuhause fühlt, sei es mehr im natur-, geistes- oder sozialwissenschaftlichen Diskurs. Die Annäherung an den Raum gelingt so dem Gegenstand angemessen auf inter- und transdisziplinäre Weise.

Diskussion

Die Kapitel über die Produktion von Raum und die Wenden zum Raum sind von beeindruckender Gelehrtheit, holen aus über Literatur und Philosophie und verorten sich stets auch politisch. Teilweise sind sie meines Erachtens etwas sehr verästelt, was den Erklärungswert eher mindert.

Auch stehen Aussagen vielfach nebeneinander, was eine Orientierung oder das Verständnis für die Entstehung der heutigen Wissenslage eher erschwert. Dazu kommen eine komplizierte Sprache und Satzkonstruktionen, welche nicht immer ganz aufgehen – diese machen das Lesen des Buches so anspruchsvoll, dass ich den Untertitel „Einführung“ gewagt finde.

Allerdings soll dies keinesfalls heissen, dass sich die Lektüre nicht lohnen würde. Beispielhaft möchte ich hier die kulturwissenschaftliche / postkoloniale Erörterung zur Produktion von Raum nach Soja (S. 77 f.) erwähnen, wo Lefebvres Raumtriade von Raumpraxis, Raumrepräsentation und Räumen der Repräsentation in Bezug gesetzt wird mit dem Konzept des hybriden „Drittraums“, welcher insbesondere für Menschen bedeutsam ist, welche in „zwei Kulturen“ leben. Soja übernimmt den Begriff „Drittraum“ von Homi K. Bhaba, versucht ihn aber mit dem Konzept der „Veranderung“ (othering) dialektisch „aufzuladen“. Das Zusammenspiel des dreifachen Raums bewirke eine „Veranderung“, ein othering.

Als Beispiel aus dem dritten Kapitel zu den Turns möchte ich eine Gegenüberstellung von Simmels und Jamesons Interpretationen der Gesellschaft im Raum anführen (S. 87f). So wie sich für Simmel zentralistische Gesellschaften in ihrer Stadtarchitektur ausdrücken (man denke z.B. an die grossen Boulevards in Paris), so drückt sich die globale Unübersichtlichkeit für Jameson in den Hotel- und Shoppingkomplexen der heutigen Grossstädte aus. Als konkretes Beispiel führt er den gläsernen Bonaventure-Hotelkomplex in Los Angeles an. Die Glasfassade zeigt keinen Eingang oder Zugang auf, und tatsächlich kommt man nur durch die – zuganskontrollierte – Tiefgarage ins Gebäude. Im Innern finden sich römisch anmutenden Atrien und Wendeltreppen als architektonische Zitate. Pikant ist Jamesons Aussage, viele Geschäfte im Komplex hätten schliessen müssen, da die Kundschaft die Läden nicht gefunden hätte.

In meiner Einschätzung ist das erste Kapitel zu den Antinomien des Raums das Innovativste des ganzen Buches. Interessant sind die Ambivalenzen bezüglich Raum und Raumempfinden, welche gleichzeitig wirken. So beobachtet Günzel sowohl ein Verschwinden als auch ein Erstarken des Raums. Als Beispiel seien dafür die zunehmende Geschwindigkeit der Verkehrsmittel genannt, die es uns heute erlauben, in wenigen Stunden eine Distanz zurückzulegen, welche früher Jahre in Anspruch genommen hätte. Dies führt sowohl zum Verschwinden des Raums, indem eine Reisestrecke gleichsam von einem Düsenflugzeug „aufgefressen“ wird, als auch zum Erstarken des Raums, da immer mehr Individuen im Laufe ihres Lebens einen immer grösseren Teil des Raums der Erde bereisen und gewissermassen aneignen können. Die zweite Antinomie sieht Günzel in der Gegenüberstellung von Determinismus und Possibilismus. Wie wirken Raum und Gesellschaft aufeinander? Für den Determinismus ist es der (geographische) Raum, welcher die Gesellschaft prägt, für die possibilistische Position, wie sie etwa Simmel vertritt, ist es die Gesellschaft, welche auf den Raum wirkt und das Territorium gestaltet. Die dritte Antinomie, Raum versus Ort, wird nach Günzel im Gegensatz zu den beiden ersten offen debattiert und kann „mithin als Leitdifferenz für die Rekonstruktion aller kosmologischen, physikalischen und soziologischen Raumbegrifflichkeiten angesehen werden“ (S. 45). Gibt es Raum ohne Ort? Was spezifiziert einen Ort im Raum? Für Levinas ist die Gegenüberstellung von „Raum“ und „Ort“ auf die Kontroverse von „Fremde“ und „Heimat“ zurückzuführen: „Das Eingepflanztheitsein in eine Landschaft, die Verbundenheit mit dem Ort, ohne den das Universum bedeutungslos würde und kaum existiert – eben dies ist die Spaltung der Menschheit in Einheimische und Fremde.“ (S. 56). Und eben diese Ortsphilosophie bereite den Boden für ein xenophobes Raumdenken, in welchem es um die Beherrschung des Raums gehe.

Fazit

Das Buch von Stephan Günzel wird als Lehrbuch beworben. Diesen Anspruch löst es sicher hinsichtlich der Vielfalt von Raumtheorien ein, welche im Buch diskutiert werden, und zwar insbesondere jene von Soziologen und Philosophen (es sind nur Männer), welche zwar sehr bekannt sind, aber nicht primär für ihre Arbeiten zum Raum. Es sind dies z.B. Pierre Bourdieu und Michel Foucault, aber auch Martin Heidegger. Um Raum und die Hinwendung der Sozialwissenschaften zu Fragen des Raums zu verstehen, würde ich jedoch eher das Studium von Henri Lefebvre, Martina Löw und Johanna Rolshoven empfehlen, im Original. Sehr empfehlenswert ist auch die Auswahlbibliographie (zusätzlich zur Bibliographie) im Anhang des Buches.

Rezension von
Prof. Simone Gretler Heusser
Dozentin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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Es gibt 47 Rezensionen von Simone Gretler Heusser.

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Zitiervorschlag
Simone Gretler Heusser. Rezension vom 10.10.2018 zu: Stephan Günzel: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung. transcript (Bielefeld) 2017. ISBN 978-3-8376-3972-8. Reihe: Edition Kulturwissenschaft - Band 143. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24602.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.


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