Kathinka Beckmann, Thora Ehlting et al.: Berufliche Realität im Jugendamt
Rezensiert von Prof. Dr. Florian Hinken, 07.01.2019

Kathinka Beckmann, Thora Ehlting, Sophie Klaes: Berufliche Realität im Jugendamt. Der ASD in strukturellen Zwängen.
Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2018.
2. korr. Auflage.
161 Seiten.
ISBN 978-3-7841-3075-0.
D: 19,80 EUR,
A: 20,40 EUR.
Reihe: Jugend und Familie - 16.
Entstehungshintergrund
Eine hochwertige Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes im Sinne der AdressatInnen kann nur auf einer fach- und sachgerechten Ausstattung sowie einem zugestandenen Rahmen für eine (Weiter-)Entwicklung professioneller Kompetenzen und Haltungen basieren. Dafür eine transparente Diskussionsgrundlage zu schaffen war Ziel der vom Jugendamt Berlin Mitte angestoßenen und von der Deutschen Kinderhilfe finanziell ermöglichten Studie. Als Motivation für das anspruchsvolle Projekt wird formuliert: „Wir wollen mit der vorliegenden Studie den Mangel an finanziellen Ressourcen und an Fachkräften sichtbar machen. […] ist es uns ein Anliegen, den Kolleginnen und Kollegen in den ASD deutschlandweit eine Stimme zu geben“ (S. 3).
Autorinnen
Kathinka Beckmann ist Professorin, Thora Ehlting und Sophie Klaes sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen an der Hochschule Koblenz.
Aufbau
Die Studie beinhaltet neben Vorwort, Einleitung und Fazit drei Hauptkapitel:
- Die Bezirkssozialarbeit in der Jugendhilfe
- Die Bottom-up-Studie „Berufliche Realität im ASD“
- Diskussion der Ergebnisse
Inhalt
Es kommt in einer ¬- häufig von außenstehenden Professionen und Organisationen geführten – Diskussion über das Jugendamt „immer wieder zu unzutreffenden Einschätzungen hinsichtlich der Jugendamtsarbeit und mitunter auch zu wenig wertschätzenden Äußerungen ‚die Jugendämter’ betreffend“ (S. 7). Da zwar einzelne Studien zum Jugendamt vorliegen, jedoch kein umfassender Datenstand zu den Arbeitsbedingungen der ASD-Mitarbeitenden selbst besteht, soll mit der Studie Transparenz über die Strukturen und Prozesse des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) hergestellt werden, um so eine Diskussion darüber mit empirischen Daten zu unterstützen. Dies wird in der Einleitung begründet.
Das zweite Kapitel rahmt den Untersuchungsgenstand. Dargelegt wird der Wandel des Kinder- und Jugendhilferechts hin zu einem Leistungsrecht: dem heutigen SGB VIII. In diesem Zusammenhang werden auch Quantitäten in der Kinder- und Jugendhilfelandschaft auf der Grundlage von Daten des Statistischen Bundesamtes referiert. So gibt es (Stand 2017) 563 Jugendämter in Deutschland, in denen insgesamt 45.874 Mitarbeitende, davon 13.355 im Bereich Bezirkssozialarbeit, beschäftigt sind. Das Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Sicherstellung des Kinderschutzes in dem letztere wirken findet eine Skizzierung. Neben dem Allgemeinen Sozialen Dienst werden die Träger der freien Jugendhilfe, unterschieden nach Trägertyp, in dem Feld verortet. Sodann erfolgen weitere Reflexionen hinsichtlich des Annahmerahmens der Studie: Die Implementierung eines Quasi-Marktes in der Kinder- und Jugendhilfe, die Öffnung für neue Leistungserbringer im Jahr 1999, einhergehend mit „organsiertem Wettbewerb“, das Kontraktmanagement und die mit der Neuen Steuerung etablierten Budgetierungen. Hierzu werden beispielsweise detailliert die Finanzierungslogik des kommunalen Haushaltes und entsprechende Auswirkungen herausgearbeitet. Als Folge wird u.a. festgestellt: „Ist das Budget für das Jugendamt zu knapp kalkuliert, droht das Spardiktat die Fachlichkeit beiseite zu drängen, was sich für das einzelne Kind durchaus katastrophal auswirken kann“ (S. 25 f.). Einen weitere Rahmung erhält die Untersuchung durch professionstheoretische Ausführungen in Verbindung mit dem Statement der Fachkräfte des ASD hinsichtlich Fremd- und Selbsteinschätzungen. In Kinderschutzdebatten gelinge es Fachkräften häufig nicht, die eigene Arbeit nach außen nachvollziehbar darzustellen: „Bis heute fehlt eine angemessene Außendarstellung der spezifischen Kompetenzen sozialpädagogischer […] Fachkräfte und damit offensichtlich die Fähigkeit, ihre Zuständigkeit in professionellen Überschneidungsprozessen gegenüber statushöheren Disziplinen durchzusetzen“ (S. 37). Diese Aussage ist sicherlich mit der in der Einleitung formulierten Feststellung, dass die Debatte über die Jugendamtsarbeit häufig von anderen Akteuren als dem Jugendamt selbst dominiert wird, zu sehen.
Aus den aufgeführten Begründungen werden im dritten Kapitel die untersuchungsleitenden Thesen abgeleitet:
- Die aktuellen Rahmenbedingungen im ASD behindern eine professionelle sozialpädagogische Arbeit.
- Ein in seiner sozialpädagogischen Professionalität eingeschränkter ASD konterkariert den Grundgedanken des KJHG.
In dem Empiriekapitel werden sodann die quantitativen und die qualitativen Teilstudien jeweils hinsichtlich der Konzeptionierung und der Ergebnisse abgebildet. Im Fokus stehen dabei die Struktur- und die Prozessqualitäten im ASD. „Man könnte auch sagen, dass die Studie auf eine Ist-Zustandsbeschreibung der tagtäglichen Arbeitsvollzüge im ASD abzielt, auf deren Grundlage Aussagen zur vorhandenen Struktur- und Prozessqualität getroffen werden können“ (S. 39).
Als Indikatoren für Struktur- und Prozessqualität werden im Rahmen der empirischen Arbeit die folgenden Themen fokussiert:
- Personalsituation
- Arbeitsbedingungen
- Professionelle sozialpädagogische Arbeit
- Weitere Einflusskriterien (z.B. Budgetierungen)
In einem ersten Bearbeitungsschritt erfolgte dazu eine repräsentative Fragebogenerhebung, mit der postalisch und online 175 Jugendämter erreicht werden konnten. Insgesamt nahmen damit 652 Mitarbeitende aus dem ASD an der Fragebogenerhebung teil. In einem zweiten Schritt erfolgten anschließend 13 Experteninterviews mit ASD-Mitarbeitenden mit dem Ziel „vertiefend diejenigen Aspekte [zu] beleuchten, die sich als hinderlich oder förderlich für die professionelle sozialpädagogische Arbeit erweisen“ (S. 77 f.). Da hier eine Orientierung an den Fokussierungen der quantitativen Untersuchung hergestellt wurde, war das Interviewmaterial einer induktiven als auch einer deduktiven Logik folgend auszuwerten. Die Ergebnisse zu den einzelnen Themenbereichen werden in der Darstellung der Teilstudien ausführlich erläutert.
In der abschließenden Ergebnisdiskussion erfolgt eine Fokussierung der Beteiligung von AdressatInnen. Deutlich wird, dass einer Beteiligung in den Hilfskontexten durch die Fachkräfte der normativ auferlegte hohe Stellenwert auch zugeschrieben wird. Jedoch hier einerseits unterschiedliche Interpretationen bestehen und andererseits mangelnde Zeitressourcen eine Beteiligung auch einschränken. Weiterhin wird eine interessante Diskussion dahingehend eröffnet, dass es an der Zeit sei, „dass die Diskussion über Partizipation und Beteiligung um die Beteiligung der Mitarbeiterinnen selbst […] erweitert wird, da nur diejenigen, die selbst beteiligt sind, auch andere selbstverständlich beteiligen werden“ (S. 112 f.). So würden auch Beschwerdemöglichkeiten, z.B. externe Beschwerdestellen, für Fachkräfte fehlen. In diesem Zusammenhang wird der Mangel einer Fachaufsicht für Jugendämter beklagt.
Die Fallzahlbelastung je Fachkraft findet im Rahmen der Studie eine Orientierung an den Forderungen der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD/KSD. Fallverantwortliche sehen sich in den Arbeitsvollzügen aber mit deutlich mehr als den empfohlenen 35 Fällen pro Vollzeitäquivalent konfrontiert. Als interessant erscheint der Befund, dass entgegen der einführenden Rahmung kein signifikanter Zusammenhang zwischen finanzieller Situation der Kommune und der Fallzahlbelastung besteht. Gleichwohl sehen sich aber mehr als die Hälfte der Befragten einer spürbaren Abhängigkeit von der Haushaltssituation ausgesetzt.
Weiterhin findet die Auseinandersetzung mit der „defizitären Einarbeitungssituation“ im ASD eine vertiefte Beachtung im Rahmen der Diskussion. Festgestellt wird u.a., dass es in einem Drittel der Dienste keine Einarbeitungsmodelle gibt. Bei über der Hälfte erfolgt eine Einarbeitung in weniger als drei Monaten.
Die Befunde resümierend – so die Feststellung der Autorinnen – fehlt es in den Allgemeinen Sozialen Diensten an Zeit, Raum, Wissen und Erfahrung. Als eine Stellschraube zur Abhilfe wird der Jugendhilfeausschuss in die Diskussion eingebracht. Doch hier „stellt sich die Frage, warum der JHA so blass, so wenig präsent in der Jugendhilfe und in den Kommunen ist?“ (S. 138).
Diskussion
Die Bottom-up-Studie „Berufliche Realität im ASD“ hat unmittelbar nach Erscheinen eine hohe mediale Aufmerksamkeit erfahren (z.B. Tagesschau, Spiegel-online). Das gelingt nicht vielen sozialwissenschaftlichen Studien und macht umso mehr deutlich, dass doch ein öffentliches Interesse an der Praxis in Jugendämtern besteht. Die Motivation der Initiatoren, den Mitarbeitenden im ASD öffentlich eine Stimme zu geben, ist dadurch ganz sicher eingelöst worden. Zu der hohen Wahrnehmung „von außen“ hat beigetragen, dass die Studie derzeit proklamierte, es wären bundesweit 16.000 Stellen im ASD zu schaffen, wenn der Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD/KSD gefolgt würde. Die entsprechende Argumentation wurde durch die akjstat mit einer anderen Berechnung hinterlegt und war so nicht haltbar [1]. Hier wurde – so ist es herauszulesen – mit der rezensierten 2. korrigierten Auflage eine andere Formulierung gewählt und damit das Argument abgeschwächt. Das heißt aber bei weitem nicht, dass die ASD nicht doch erhebliche Personalmängel zu verzeichnen haben.
Nun aber zu der Studie selbst. Die Veröffentlichung hat vor dem Hintergrund, dass tatsächlich eine hohe Transparenz bezüglich professioneller Anforderungen und notwendiger struktureller Notwendigkeiten geschaffen wird, die Aufmerksamkeit verdient. Mit der verzahnten quantitativen und qualitativen Herangehensweise ist es gelungen, das Feld mit seinen Rahmenbedingungen in dem die Mitarbeitenden des ASD tagtäglich wirken, greifbar zu machen. Bloße Aufrufe oder auch Zuschreibungen, wie z.B. Zeitmangel, knappe Haushalte etc., finden eine empirische Fundierung. Als interessant erscheinen einige Mikrofokussierungen, z.B. hinsichtlich der sachlichen Ausstattung. Darüber hinaus macht die Studie sehr deutlich, dass ein gewisser Grad des Nichtinformiertseins innerhalb des ASD selbst besteht, z.B. hinsichtlich der Rahmenbedingungen, in den die Fachkräfte agieren, dies wird besonders deutlich an den Verständnisvariationen von einer Fachaufsicht des Jugendamtes.
Fazit
Die Studie ermöglicht Transparenz bezüglich der Arbeitsbedingungen im ASD. Aus den qualitativen Befunden lassen sich sehr gut tiefergehende Erkenntnisse zu der Fragebogenerhebung ableiten. Fragen zur Ausstattung und zu Arbeitsbedingungen finden nachvollziehbar eine Beantwortung. Lesenswert ist die Publikation vor allem für Entscheidende aus Politik und Verwaltung auf kommunaler Ebene sowie für Politikgestaltende der Länder und des Bundes.
[1] vgl. Mühlmann, Thomas/Pothmann, Jens (2018): Stellungnahme zu einer Aussage der Studie „Berufliche Realität im Jugendamt“ [HS Koblenz]. Fehlen 16.000 Fachkräfte im Allgemeinen Sozialen Dienst. Online verfügbar unter: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/dasdji/stellungnahmen/2018/20180601_Stellungnahme_Fachkraefte_ASD.pdf (Download am 04.12.2018)
Rezension von
Prof. Dr. Florian Hinken
Professor im Studiengang Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Evangelischen Hochschule Berlin
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