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Martin Wazlawik, Heinz-Jürgen Voß u.a. (Hrsg.): Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten

Rezensiert von Dipl.-Psych. Lothar Sandfort, 07.03.2019

Cover Martin Wazlawik, Heinz-Jürgen Voß u.a. (Hrsg.): Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten ISBN 978-3-658-18000-3

Martin Wazlawik, Heinz-Jürgen Voß, Alexandra Retkowski, Anja Henningsen, Arne Dekker (Hrsg.): Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten. Aktuelle Forschungen und Reflexionen. Springer VS (Wiesbaden) 2019. 300 Seiten. ISBN 978-3-658-18000-3. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 51,50 sFr.
Reihe: Sexuelle Gewalt und Pädagogik - Band 3.

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Thema

Sexualität mit all ihren Risiken bedroht Sicherheitsgefühle. Auch der Staat schaut gern weg und muss manchmal zur Aufmerksamkeit gezwungen werden. Ausgerechnet die großen Gewalt-Skandale in Odenwaldschule und Kirche haben viel Forschungsgelder frei gemacht, mit denen das Thema „Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Kontexten“ untersucht werden kann. Dieses Buch fasst die Forschungs-Ergebnisse kurz vor ihrer Veröffentlichung zusammen.

Autor*innen und Herausgeber*innen

Die Herausgeber*innen arbeiten zumeist als Juniorprofessor*innen in der Forschung oder leiten als Fachkräfte der Pädagogik Forschungsprojekte.

Entstehungshintergrund

Nach ersten Hinweisen auf sexualisierte Gewalt in der reformpädagogischen Odenwaldschule 1999 hat es bis 2010 gedauert bevor die breite Öffentlichkeit bereit war, den tatsächlichen Veränderungsbedarf wahrzunehmen und zu diskutieren. Die Skandale innerhalb der Kirchen waren sogar noch hartnäckiger. Nun, 2019 stehen die vom Staat finanzierten Forschungsprojekte kurz vor ihrem Abschluss. Es wird wohl weitere 10 Jahre dauern, bis die Ergebnisse signifikant wirksam geworden sind.

Aufbau

Vier große Komplexe werden von verschiedenen Autor*innen angegangen:

  • Organisationale Strukturen und Kulturen
  • Disclosure (Der Prozess des Bekanntwerdens von Übergriffen)
  • Adressat*innenorientierte Präventionsprogramme
  • Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften

Inhalt

Die Ergebnisse der einzelnen Arbeiten bringen selbstverständlich unterschiedliche Erkenntnisse hervor. Eine Untersuchung, die die Nützlichkeit von Fortbildung für Einrichtungen der Jugendhilfe feststellt, ist kaum der Rede wert. Eine andere beleuchtet wenig überzeugend die besondere Situation von behinderten Jugendlichen im pädagogischen Kontext. Es ist glücklicher Weise der Vorteil von Sammelbänden, dass sich die Leser*innen einzelne Kapitel aussuchen können. Zwei große Erkenntnisse lassen sich in der Fülle der Beiträge schon erkennen, die das Potenzial haben, die Welt der pädagogischen Hilfemaßnahmen grundlegend zu verändern:

  • Der große und uralte Widerspruch der Pädagogik, Support und Kontrolle gleichzeitig sein zu müssen, macht beides unmöglich. Wo kein Vertrauen entstehen kann, öffnen sich Seelen nicht.
  • Die wichtigsten Akteur*innen der Hilfe für Opfer sind deren Peers. Netzwerke der Adressat*innen, zu denen auch Opfer gehören können, die sich selber stabilisieren konnten und/oder denen dazu verholfen werde konnte, bilden den Königsweg. Externe Fachleute in öffentlichen Beratungsstellen haben kaum Wirkung. Einzelmaßnahmen, wie Seminare, haben ebenfalls keine anhaltende Wirkung. Dauerhaftes Coaching ist wirkungsvoller als Supervision.

Diskussion

Wenn das bestehende System der Kinder- und Jugendhilfe weiterhin davon ausgeht, seine Macht gegenüber den Adressat*innen auszunutzen um Kontrolle auszuüben, können die Mitarbeitenden an der wichtigsten Schnittstelle der Hilfe kein Vertrauen bilden. Ratsuchende vor oder nach Übergriffen werden sich niemals jemandem ausreichend anvertrauen, der oder die bei der nächsten Hilfekonferenz gezwungen sind, fremden Personen intimste Nöte weiterzugeben. Fachkräfte der Pädagogik brauchen die gleichen Schweigerechte wie etwa Ärzt*innen oder Psycholog*innen. Wenn schon staatliche Macht ausgeübt werden muss, etwa von Jugendämtern, so dürfen niemals die vertrauten Mitarbeitenden von Hilfemaßnahmen dazu ausgebeutet werden. Jugendämter müssen auf deren Zuarbeit verzichten. Den Betreuenden müssen die Kinder und Jugendlichen auch wirklich vertrauen können.

Ein System, in dem die Ratsuchenden die Kontrolle über ihre Erfahrungen behalten dürfen, selbst über ihre verletzenden, ein System, in dem sie Choise-, Voice- und Exit-Gewissheiten vermittelt bekommen (Empowerment), wird vermutlich mehr Schaden abwenden als Entmündigungssysteme. Strafen sind niemals pädagogische Hilfen. Einrichtungen z.B, in denen es das Verbot von Körperkontakt zwischen den Adressat*innen (Pubertierende in der Regel) gibt, sind irrsinnige Vertrauenskiller. Vertrauen und Hilfe schafft eher die Frage, wie baust du dir am besten Peer-Netzwerke auf. Oder: Was braucht die Wohngruppe, damit wir über Sexualität sprechen können? Oder: Was brauchst du, damit du mir vertrauen kannst? Sätze wie: „Sexualität gibt es nicht in unserer Wohngruppe“ sind jämmerlich.

Die eingangs genannten großen Gewaltskandale haben Betroffene selber aufzudecken geholfen. Erfolgreich war der Diskurs unter ihrer Beteiligung oder gar Führung. Sie sind die Expert*innen in eigener Hilfe gewesen. Das müssen sie auch in Zukunft sein. Betroffene, die sich selber bemächtigen konnten und denen in ihrem Empowermentprozessen speziell dazu geholfen wurde. Sie müssen einbezogen werden.

Da der Staat und die bestehenden Hilfeträger sich nicht so schnell verändern werden, braucht es Hilfeangebote aus dem Bereich frischer und freier Träger, braucht es auch neue Peer-Counseling-Ideen.

Fazit

Die Veröffentlichungen dieses Buches kommen spät. Die Ergebnisse unterstützen die Ideen des Empowerments, d.h. des Self-Empowerments UND der Unterstützung dazu. Sie konzentrieren den Blick auf Vertrauen und Stärkung. Dem Staat soll das Kontroll- und Gewaltmonopol bleiben. Sicher gibt es sinnvollere Kontrolleure als Pädagog*innen.

Nun gilt es für alle pädagogischen Fachkräfte dafür zu sorgen, dass die „Schutzbefohlenen“ nicht noch einmal 10 Jahre brauchen, bis effektive Hilfemaßnahmen Realität werden. Ich empfehle dieses Buch. 

Rezension von
Dipl.-Psych. Lothar Sandfort
Psychologischer Leiter des „Institutes zur Selbst-Bestimmung Behinderter“ (Trebel), seit 1971 querschnittgelähmt und so seit vielen Jahren als Peer-Counselor in Beratung und Psychotherapie tätig. Unter anderem Supervisor und Coach für Teams in Einrichtungen der Behindertenarbeit von körperlich, geistig bzw. psychisch behinderten Menschen.
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Es gibt 24 Rezensionen von Lothar Sandfort.

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Zitiervorschlag
Lothar Sandfort. Rezension vom 07.03.2019 zu: Martin Wazlawik, Heinz-Jürgen Voß, Alexandra Retkowski, Anja Henningsen, Arne Dekker (Hrsg.): Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten. Aktuelle Forschungen und Reflexionen. Springer VS (Wiesbaden) 2019. ISBN 978-3-658-18000-3. Reihe: Sexuelle Gewalt und Pädagogik - Band 3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24610.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.


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