Thomas Hax-Schoppenhorst (Hrsg.): Das Einsamkeits-Buch
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 07.03.2019

Thomas Hax-Schoppenhorst (Hrsg.): Das Einsamkeits-Buch. Wie Gesundheitsberufe einsame Menschen verstehen, unterstützen und integrieren können. Hogrefe AGHogrefe AG (Bern) 2018. 535 Seiten. ISBN 978-3-456-85793-0. 49,95 EUR.
Thema
Über Einsamkeit wird gegenwärtig viel nachgedacht und teils auch geforscht. Unterschiedliche Einsichten werden diesbezüglich publiziert: für den Psychiater und Neurologen Manfred Spitzer ist Einsamkeit „eine tödliche Krankheit“, gefährlicher als Alkohol und Nikotin (1). Für den Philosophen Lars Svendsen hingegen ist eine Person ohne Einsamkeitsempfinden vermutlich ein Mangelwesen, das an einem Defekt in der emotionalen Ausstattung zu leiden scheint (2).
Wie können solch kontroverse Einschätzungen in einem Kulturkreis entstehen? Es kann vermutet werden, dass es an dem grundlegenden Wissen hierüber fehlt. Es liegen zwar viele Untersuchungen und Erhebungen über Isolation, Ausgrenzung und auch Rückzug und deren Auswirkungen auf die Betroffenen vor, doch es fehlt aus der Sicht des Rezensenten die Grundlagenforschung in diesem Arbeitsfeld: Verhaltensbiologie, Anthropologie und vergleichende Ethnologie u.a. So gilt es zu klären, ob die Species Homo sapiens ohne eine Form der Vergemeinschaftung (erweiterte Familien, Sippe, Clan oder Stamm) überhaupt „artgerecht“ leben kann, denn bis vor drei oder vier Generationen lebten die Menschen fast immer in verwandtschaftlich strukturierten Sozialgefügen in unterschiedlicher Formgebung (3). Wenn dem so sein sollte, dann sind nicht nur 6 bis 10 Prozent der Bevölkerung einsam, wie es die Erhebungen ergeben, sondern dann sind wir alle einsam, die dem raschen sozialen Wandel der Moderne ausgeliefert sind. Nur ist diese allgemeine und kulturelle Einsamkeit bereits verinnerlicht, zur zweiten Natur unseres Persönlichkeitshaushalts geworden. Und sehr unterschiedlich je nach Bewältigungsvermögen kann dann dieses Verlusterleben an angeborener Zwischenmenschlichkeit ertragen werden. Die Moderne zerstört somit nicht nur systematisch die physische Umwelt („Anthropozän“ und Klimawandel), sie zerstört ebenso systematisch die psychische und soziale Binnen- und Innenwelt der Akteure.
Die vorliegende Publikation nähert sich der Thematik Einsamkeit aus vielerlei Sichtweisen, es ist ein „interdisziplinäres Buch“ mit vielen Facetten (Klappentext).
Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Thomas Hax-Schoppenhorst ist Lehrer und seit 1987 als pädagogischer Mitarbeiter der LVR-Klinik Düren und als Dozent an Pflegeschulen tätig. Darüber hinaus wirkt er als Autor und Herausgeber von Fachpublikationen. Die folgend angeführten Autoren (ohne Angabe der beruflichen und akademischen Qualifikation) u.a. aus den Bereichen Pflege, Sozialwissenschaften und Szialarbeit, Medizin, Psychologie und Theologie überwiegend aus Deutschland, aber auch der Schweiz und Österreich, stellten insgesamt 50 meist durchschnittlich zehnseitige Beiträge zur Verfügung:
Michaela Abresch, Eleonora Arrer, Arnd Barocka, Anke Bebber, Gerhard Bliersbach, Caroline Bohn, Tina Brenneisen, Christine Bronner, Wilfried Borre, Hidir Eren Celik, Klaus Deuber, Jan Eckhard, Sabrina Fehn, Hartmut Fillhardt, Ursula Frede, Pierre E. Frevert, André Fringer, Friederike Gösweiner, Regina Grehl, Martin Hafen, Juliane Hanisch-Berndt, Florian Hartlieb, Annette Haußmann, Michael Herrmann, Ekkehard Höhl, Thomas Holtbernd, Christine Jahn, Klaus Junghanns, Joachim Kahl, Rainer Köchert, Helga Levend (verstorben), Maike Luhmann, Sindy Meinhardt, Christoph Müller, Astrid Nettling, Dorothea Petrich, Helmut Remschmidt, Hartmut Rosa, Kurt Schalek, Stefan Schmidt, Gundula Schneidewind, Janosch Schobin, Ronja Schüttken, Franz Sitzmann, Marion Sonnenmoser, Harald Stefan, Michael Steil, Joachim Süss, Johanna Thoma und Andreas Wittrahm.
Dem Autorenverzeichnis ist zu entnehmen, dass sich von den insgesamt 50 Autoren nur sechs eingehend mit dem Themenfeld Einsamkeit im Rahmen eines Forschungsvorhabens oder Ähnlichem beschäftigt haben.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation ist in fünf Kapitel untergliedert. Die Beiträge entstammen unterschiedlichen Erfassungsmodalitäten des Gegenstandsbereiches: u.a. wissenschaftliche Abhandlungen, Projektbeschreibungen, Beobachtungen und Selbstbeobachtungen, Erfahrungsberichte aus psychosozialen Arbeitsfeldern und philosophische und spirituelle Erklärungsversuche.
Kapitel 1 (Das Phänomen Einsamkeit, Seite 33-96) enthält sechs Beiträge überwiegend aus sozialwissenschaftlichen Arbeitsfeldern. Zu Beginn wird Einsamkeit als Isolation und damit zugleich Ausgrenzung aus sozialen Bezügen beschrieben, die mit negativen gesundheitlichen Folgen verbunden sind. Als Lösungsansätze werden u.a. sozialpolitische Reformen zwecks Verbesserung der Lebensumstände (u.a. das garantierte Grundeinkommen) vorgeschlagen. Der folgende Beitrag reflektiert das Thema aus der Sicht soziologischer Theorieansätze, wobei auch die Dimension des persönlichen Bewältigungsvermögens als eine Disposition angeführt wird. Dass Einsamkeit nicht nur eine Problemlage hochaltriger Menschen und Alleinstehender ist, sondern auch in Kindheit und Jugend verstärkt anzutreffen ist, wird anhand der Darstellung verschiedener Erhebungen nachgewiesen. Es folgt ein Beitrag, der u.a. dazu auffordert, an seiner „Alleinseinsfähigkeit“ zu arbeiten und entsprechend die Einsamkeit als eine „Lebenskunst“ aufzufassen. Im letzten Abschnitt dagegen werden die massiven gesundheitlichen Einbußen an Körper und Seele beschrieben, die durch Einsamkeit und Isolation hervorgerufen werden: Suchtverhalten, Depression, Suizid und körperlicher Stress einschließlich chronischer Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
In Kapitel 2 (Deutungen, Seite 97-173) wird die Thematik in acht Beiträgen vorrangig aus geisteswissenschaftlicher Sicht behandelt. In einer philosophischen Betrachtung zu Beginn wird spekuliert, ob eine genetische Disposition das Empfinden der Einsamkeit erklären könnte. Einsamkeit wird in diesem Kontext geradezu als eine Persönlichkeitsleistung deklariert, wenn z.B. der schwedische Philosoph Lars Svendsen zitiert wird: „… dass nur ein Wesen mit der Fähigkeit, Einsamkeit zu fühlen, lieben oder jemandes Freund sein kann.“ (Seite 100). In einer Interpretation der Einsamkeit aus psychoanalytischer Sicht wird die Vorstellung zitiert, dass „Einsamkeit als ein fundamentaler menschlicher Charakterzug angesehen werden kann, der mit dem Problem der Vollkommenheit verwoben ist.“ (Seite 116). Ähnlich wird in einer philosophischen Abhandlung von der „Einsamkeitsfähigkeit“ als einer „Lebenskunst“ ausgegangen. In einem Beitrag über „Einsamkeit und Spiritualität“ wird über die „heilsame Einsamkeit“ u.a. in Form von Exerzitien, Meditation und Gebet berichtet.
Kapitel 3 (Betroffene, Seite 175-376) besteht aus 22 Beiträgen mit den folgenden Aspekten und Verursachungsmechanismen des Auftretens von Einsamkeitsempfindungen: u.a. Armut und Marginalisierung, Suizid, Alterung, Sterben, pflegende Angehörige, chronischer Schmerz, Sucht, stationäre Altenhilfe (Pflegeheim), Migration, Kriegsenkel, seelisch kranke Kinder und Jugendliche, Familien im Kontext der Kinderhospizarbeit, die sozialen Medien, ambulant betreute Wohnformen, der „Einsame-Wolf-Terrorist“ Anders Behring Breivik aus Norwegen, das klösterliche Leben, die Einsamkeit der Führungskraft und die Einsamkeit im Rettungsdienst.
Kapitel 4 (Pflege, Sozialarbeit und Behandlung, Seite 377-448) zeigt in acht Beiträgen Zugangswege in der Erfassung und Bearbeitung der Einsamkeit in verschiedenen Berufs- und Arbeitsfeldern auf. So wird in einem Beitrag über das so genannte „Care und Case Management“ für ältere Menschen als ein patientenzentriertes Organisationsangebot für Hilfe- und Pflegeleistungen auf die Bedeutung des Aufbaus und Erhalt von verlässlichen und stabilen Kontakten, so genannte „Netzwerke“, verwiesen. Hierdurch können Isolierungsphänomene im höheren Alter teils vermindert werden. Des Weiteren wird auf das Vorgehen der Patientenisolierung bei ansteckenden Erkrankungen mit den Auswirkungen für die Betroffenen und möglichen alternativen Versorgungs- und Hygieneformen eingegangen. Es folgen Beiträge über die Einsamkeit in der psychiatrischen Pflege und die Einsamkeit der Angehörigen von psychisch Kranken. Den Abschluss bilden Ausführungen über Einsamkeit als Sujet in der Literatur und der Kunst.
In Kapitel 5 (Wege aus der Einsamkeit, Seite 449-512) werden in sechs Beiträgen Umgangs- und Interventionsformen in der Bewältigung bzw. Linderung der Einsamkeit in unterschiedlichen Kontexten des Alltagslebens aufgezeigt. Zu Beginn wird über die Schnelllebigkeit und Zeitverdichtung in der Moderne räsoniert, die u.a. zur „schrankenlosen Steigerungsorientierung der Subjekte“ in Gestalt der permanenten Selbstoptimierung aller führt. Stillstand ist in dieser Welt zugleich Rückschritt, den sich keiner angesichts der drohenden Ausgliederung aus dem Wirtschafts- und Gesellschaftsgefüge erlauben darf. Anschließend wird über moderierte wöchentliche Videokonferenzen für alleinlebende mehrfach erkrankte ältere Menschen als ein Weg zur Teilhabe und zu Kontakten referiert (Projekt in Brandenburg). Es folgen neben einen Bericht über „Kinderhospizarbeit“ und teils Persönlichem weitere Projektberichte: u.a. ein Besuchsangebot für ältere Alleinlebende (NAHbarn), ein ehrenamtliches Betreuungsangebot für alleinlebende Demenzkranke (Paten für Demenz) und das Projekt „Wohlfühlanrufe“ für alte Menschen von ehrenamtlichen Helfern (regelmäßige Telefonate nach Absprache anstelle von Hausbesuchen).
Diskussion und Fazit
Wie bereits in der Einleitung angedeutet ist der Wissensstand über die Einsamkeit noch recht begrenzt, sodass hier Anlass für jedwede Form der Analyse, Reflexion und natürlich auch Spekulation gegeben ist. Für das Alltagswissen ist das nicht weiter von Bedeutung. Es werden jedoch fachliche und wissenschaftliche Belange tangiert. So entstehen fast schon automatisch Problemlagen.
Die vorliegende Veröffentlichung wird laut Titel und Klappentext als „Praxishandbuch“ für „Gesundheitsberufe“ oder „Health Professionals“ deklariert, also als ein Fachbuch vorrangig für eine bestimmte Personengruppe nebst interessierten Laien. Es kann dann hierbei erwartet werden, dass praxisnahes Orientierungs- und Handlungswissen die Inhalte bestimmt. Diesem Anspruch wird das „Einsamkeits-Buch“ jedoch bei weitem nicht gerecht. Anstelle systematischer Ableitungen von anerkannten Wissensständen und Forschungsergebnissen bis hin zu überprüften Praxisbeispielen und entsprechenden Anleitungsempfehlungen wird ein Konglomerat an diversen Einblicken und Überblicken offeriert. Es ist deutlich zu spüren, dass der Herausgeber nicht als ausgewiesener Experte in diesem Themenfeld bekannt ist. Unterschlagen werden darf jedoch nicht der Sachverhalt, dass ein begrenzter Teil der Beiträge sehr fundiertes Wissen und auch Faktenmaterial enthält.
Es kann das Fazit gezogen werden, dass das „Einsamkeits-Buch“ kein Fachbuch im engeren Sinne ist, sondern eher ein Lesebuch oder Hausbuch, das überwiegend Befindlichkeiten und Stimmungen im Sinne eines Zeitdokuments der Gegenwart enthält. Der existenziellen und auch virulenten Bedeutung der Einsamkeit als ein Seinstatbestand und damit auch als eine Leidensgegebenheit wird es jedoch nicht gerecht.
Literatur
- Spitzer, M. (2018). Einsamkeit – die unerkannte Krankheit. München: Droemer Knaur. (www.socialnet.de/rezensionen/24081.php)
- Svendsen, L. (2016). Philosophie der Einsamkeit. Berlin: University Press.
- Murdock, G. P. (1949). Social Structure. New York: The Macmillan Company.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 07.03.2019 zu:
Thomas Hax-Schoppenhorst (Hrsg.): Das Einsamkeits-Buch. Wie Gesundheitsberufe einsame Menschen verstehen, unterstützen und integrieren können. Hogrefe AGHogrefe AG
(Bern) 2018.
ISBN 978-3-456-85793-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24618.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.
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