Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten
Rezensiert von Peter Flick, 13.08.2018
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2017. 480 Seiten. ISBN 978-3-518-58706-5. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.
Thema
Mit seinem Werk legt Andreas Reckwitz eine umfassende Theorie der Moderne vor, die den Strukturwandel von der „industriellen Moderne“ zu einer „Gesellschaft der Singularitäten“ analysiert. Im Zentrum der singularisierten Gesellschaft steht nicht wie in der klassischen oder industriellen Moderne die Routine einer „praktisch-rationalen Lebensführung“ (Max Weber), sondern die „singularisierte Lebensführung“ (Reckwitz), die ein Streben nach Einzigartigkeit, nach außerordentlichen Leistungen beinhaltet. Aber nicht nur Individuen, ganze soziale Klassen und Milieus, Communities und Städte, Kollektive und Nationen stehen unter dem Zwang, sich als etwas „Besonderes“ zu präsentieren.
Autor
Andreas Reckwitz lehrt vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Schon in seinem 2012 veröffentlichten Buch „Die Erfindung der Kreativität“ hat er sich eingehend mit Phänomenen der „Ästhetisierung“ in der modernen Gesellschaft beschäftigt. War bisher das „Kreativitätsdispositiv“ der Schlüsselbegriff, um die Ästhetisierungsprozesse der modernen Gesellschaft zu untersuchen, bevorzugt der Autor in seinem neuen Buch den umfassenderen Begriff der „Kulturalisierung“. Seinen „praxissoziologischen Ansatz“ versteht er im Sinne Michel Foucaults als „kritische Analytik der Gegenwart“, der starke normative Aussagen zugunsten einer „Sensibilität für die Konfigurationen des Sozialen und ihre Geschichtlichkeit“ (S. 23) zurückstellt.
Entstehungshintergrund
Das Vorwort macht deutlich, dass es dem Autor um nichts weniger als eine „Revision unseres Bildes der Moderne insgesamt“ (S. 17) geht. Der soziologische Diskurs der Moderne hat die „Kulturalisierung“ des Kapitalismus bisher nicht „ernst“ genommen (S. 25), von Ausnahmen abgesehen, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel und Max Weber, die er als „enzyklopädischen Denker“ bezeichnet mit einem „Gespür“ für die „Doppelstruktur der Moderne“, für die Tendenzen der Rationalisierung und Kulturalisierung. Diese „Doppelstruktur“ aber hat sich in der Spätmoderne entscheidend verändert: die Rationalisierung als Schlüsselkategorie für die Beschreibung des Strukturwandels der Moderne tritt in den Hintergrund.
Aufbau und Inhalt
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über die einzelnen Argumentationsschritte, mit denen der Anspruch einer Kulturtheorie, die das „Ganze einer Gesellschaft“ erfassen will, eingelöst wird:
Kapitel I: „Die Moderne zwischen der sozialen Logik des Allgemeinen und des Besonderen“. Darin erläutert der Autor zunächst die „soziale Logik des Besonderen“ als „Praktiken der Singularisierung, Kulturalisierung und Valorisierung“ (S. 64 ff.), in einem zweiten Schritt verknüpft er die soziale Logik der Singularitäten eng mit dem Begriff der Kulturalisierung (vgl. S. 75 ff.), um dann in einem historischen Längsschnitt die „Transformation der Kultursphäre“ (S. 92 ff.) darzulegen.
Mit dem Begriff „Singularisierung“ verbindet der Autor Praktiken, in denen soziale Akteure kategorisieren und bewerten, was ihnen einzigartig erscheint und was nicht. Das Soziale am Singulären beschreibt eine „reale Paradoxie“, denn die Soziologie muss „die Muster, Typen und Konstellationen herauszuarbeiten, die sich in der sozialen Fabrikation von Einzigartigkeiten ergeben.“ (S. 13). Es ist dabei eine Frage der Perspektive, ob das, was er als Beobachter wahrnimmt, für ihn ein einzigartiges Objekt oder singuläre Person ist oder nur ein standardisiertes Produkt bzw. ein Rollentypus. Die Erfahrung von Singularität ist zwangsläufig mit einem Mechanismus der kulturellen „Valoriserung“ (Aufwertung) und „Entvalorisierung“ (Entwertung) verbunden, einem kontingenten Auf- und Ab von Singularisierungen und Entsingularisierungen.
Die Epochen der Moderne sind von den Ursprüngen im 18. Jahrhundert angefangen bis zur Gegenwart das Resultat eines langsamen, aber stetigen Prozesses der „Singularisierung“. Während in der Gesellschaft der Vormoderne noch eine „Kombination aus Singularisierung und Wiederholung“ (S. 96) vorzufinden ist, entwickelt sich in der frühen Gestalt der „bürgerlichen Moderne“ um 1800 ein offener Dualismus von bürgerlicher und künstlerischer Lebensführung. In der „organisierten Moderne“ und ihrer „Massenkultur“, die vom Autor „von etwa 1920 bis Mitte/Ende der siebziger Jahre“ (S. 100) angesetzt wird, spielt sich ein weiterer „Kulturalisierungsschub“ in den Feldern des Konsums und der Medien ab. Aber erst in der Spätmoderne wird diese „romantische Singularitätsorientierung“ der bürgerlichen Epoche und der „organisierten Moderne“ auf ein neues Niveau gehoben und das dominierende Bewegungsprinzip „kompetetiver Singularitäten“ (S. 102).
Kapitel II: „Die postindustrielle Ökonomie der Singularitäten“. Das Kapitel stellt den „Strukturwandel von der Industriegesellschaft zur Ökonomie der Singularitäten und ihrem Kulturkapitalismus dar.“ (S. 23). Das betrifft zunächst die Neuausrichtung der Ökonomie auf die Produktion und den Konsum singulärer Güter, im zweiten Schritt geht es dann um die Entstehung sog. „Singularitätsmärkte“. Der Umbau der fordistischen Ökonomie in eine Wissens- und Kulturökonomie wird vom Autor mit einem neuen Performanz- und Reputationswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt und der technischen Revolution der Digitalisierung verbunden. Der Autor bezieht sich dabei auf die bekannnten Rahmenbedingungen der „postindustriellen“ oder „postfordistischen Ökonomie“ und die Tatsache, dass in den westlichen Gesellschaften nicht mehr knapp die Hälfte, sondern allenfalls ein Viertel der Erwerbstätigen im Industriesektor arbeiten und die übergroße Mehrheit im Dienstleistungssektor. Seine Analyse geht dann einen Schritt weiter, wenn er den postindustriellen Strukturwandel im Blick auf eine Neubewertung von Gütern analysiert, weg von funktionalen, standardisierten Qualitätsstandards hin zu Produktionen und Vermarktungsstrategien, die auf die speziellen Wünsche der Konsumenten ausgerichtet sind‚ auf ‚singuläre‘ Güter (Dinge, Dienstleistungen, mediale Formate). Die Angebots- und die Nachfrageseite der Ökonomie schaukeln sich hier gegenseitig hoch. Um diesen Wandel plausibel zu machen, verweist der Autor zum einen auf die Entwicklung der „creative industries“ (Internet und klassische Medien, Design, Kunst, Werbung), die expandierenden Branchen des Tourismus und des Sports und die Erlebnisökonomie. Doch auch in traditionellen Branchen wie Ernährung/Gastronomie wird die Produktion ‚kulturalisiert‘ und auf Singularitätsmärkte hin ausgerichtet.
Kapitel III: „Die Singularisierung der Arbeitswelt“. Entsprechend wird der Arbeitsmarkt vom der traditionellen Arbeitsethik auf eine Kultur der Performanz umgestellt, die die Qualifikationshierarchie an den singularistischen Kriterien (Originalität, Kreativität, Performanz) ausrichtet. Was die Relevanz von Singularisierung angesichts des Strukturwandels der Arbeitswelt angeht, so räumt der Autor zwar ein, dass ältere Formen der Arbeit natürlich weiter reproduziert werden und industrielle Normalarbeitsverhältnisse nicht einfach verschwinden. Doch sind Konflikte um die Verteilungsgerechtigkeit eher letzte „Zuckungen“ einer sterbenden Industriegesellschaft, gewissermaßen Ungleichzeitigkeiten, die in die Gegenwart hineinragen. Das „Neue“ und „Zukünftige“ ist eine durch kulturelle Wertungen verstärkte Polarisierung zwischen Hoch- und Niedrigqualifizierten. Die Feststellung der Dichotomisierung der Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt verbindet sich mit seinen Beobachtungen einer Valorisierung der Arbeit im Bereich qualifizierter Tätigkeiten, während die Arbeit im Niedriglohnsektor systematisch abgewertet wird, was die soziale Polarisierung weiter vertieft.
Kapitel IV: „Digitalisierung als Singularisierung: Der Aufstieg der Kulturmaschine“. Die „Schlüsseltechnologien der Spätmoderne“ (S. 24), Digitalität und Internet, ermöglichen die Einrichtung singularisierter Gütermärkte, während die digitale Technik die kulturelle Öffentlichkeit umpflügt: aus der alten „Kulturindustrie“ (Adorno/Horkheimer) wird eine „kulturelle Singularisierungsmaschine“ (Reckwitz). Wenn der in Kapitel II beschriebene Wandel von der alten industriellen Ökonomie zum Kulturkapitalismus den ersten strukturellen Bruch bedeutet, so wird der zweite durch die digitale Revolution verursacht, durch eine Technologie, die Personen und Güter singularisiert – vom data tracking der Profile über die Personalisierung des digitalen Netzes bis hin zu den 3D-Druckern. Mit der digitalen Revolution wird zugleich eine Umwandlung der kulturellen Öffentlichkeit eingeleitet. An die Stelle der „Kulturindustrie“ tritt die Vorstellung einer „Kulturmaschine“ (Reckwitz), in der primär kulturelle Elemente (Bilder, Narrationen,Spiele) im Sinne von kurzfristigen Attraktionen produziert und rezipiert werden. Der Wirkung dieser ganz auf singuläre Profile, den Facebook-Nutzer mit seinen Likes ausgerichteten „Kulturmaschine“ können sich Produzenten und Rezipienten nicht mehr entziehen.
Kapitel V: „Singularistische Lebensführung: Lebensstile, Klassen, Subjektformen“. Das Kapitel analysiert Lebenstile und Sozialstruktur der spätmodernen Gesellschaft. Im Zentrum steht dabei der Lebensstil der neuen, akademisch ausgebildeten Mittelschicht und die kulturelle Abwertung der neuen Unterklasse.
Gegenüber dem Begriff Individualismus, wie er von Georg Simmel in die Soziologie eingeführt wurde, grenzt Reckwitz seinen Begriff der „Singularität“ ab, der in seinen Augen den Vorteil hat, nicht subjektfixiert zu sein und sich nicht ausschließlich auf menschliche Subjekte zu beziehen, sondern auch auf „alle anderen sozialen Einheiten: Objekte, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektive“ (S. 57). Auch der von Ulrich Beck verwendete Begriff der Individualisierung ist für Reckwitz zu unscharf, weil sich das Individuum der Spätmoderne „nicht in der Luft, (…), sondern in einer sozial-kulturellen Klasse: der neuen Mittelklasse“ (S. 274) bewegt. Die Leitmetapher Becks, der „Fahrstuhleffekt“, der in materieller Hinsicht alle soziale Klassen auf ein höheres Niveau befördert und eine kulturelle Beweglichkeit und „herrschaftsfreie(n) Flottierung von Lebensstilen und Individuen“ impliziert, entpuppt sich aus der Sicht des Autors als „optische Täuschung“ (S. 276). Statt von einem „Fahrstuhl“ müsse man angesichts der spätmodernen Sozialstruktur eher von einem „Paternoster“ (S. 285) sprechen, bei dem eine neue Mittelklasse mit einem „ressourcenstarken valoriserten Lebensstil“ aufwärts fährt, während in einer gegenläufigen Bewegung eine zahlenmäßig wachsende Unterklasse absteigt.
Die anschließenden Betrachtungen zum „Lebenstil der neuen Mittelklasse“, dem „kuratierten Leben“ und der „Kultur als Ressource“ (S. 285 ff,), sind ebenso wie die „Bausteine des singularistischen Lebensstils“ (S. 308 ff.) stilistische Glanzstücke des Buches. In der neuen Mittelklasse wird das „praktisch-rationale Leistungsethos“ (Max Weber) „altmodisch“, während das spätmoderne Leitbild romantischer Selbstverwirklichung aus seiner Randstellung als Künstlerideal ins Zentrum der neuen Wertorientierungen rückt. Das Distinktionsgebaren der neuen Mittelschicht im Gefolge der „Selbstkulturalisierung des Lebensstils“ (S. 283), die neue Wertschätzung des „guten Lebens“ wird dabei in all seinen Facetten kritisch aufgespießt. Die Orientierung am Singulären betrifft die Einzigartigkeit des Ortes, die Exzellenz der Bildungsstätten, die Exotik des Reisens, Essens und Wohnens. Güter, Orte, Personen, sie alle sollen das Besondere ausstrahlen, durch eine authentische Atmosphäre verzaubern, etwas Exzeptionelles vermitteln.
Die Folge ist der selbstgeschaffene Zwang eines „kuratierten Leben“, in dem sich die singularisierte Person ständig in neuer Weise präsentiert. Wie ein erfolgreicher „Kurator“, der sein Publikum durch ständig wechselnde Ausstellungen überrascht, so muss auch der spätmoderne Lebenskünstler seiner eigenen Biografie immer wieder neue und überraschende Wendungen geben. Der Preis ist ein Lebensgefühl, das zwischen Dauerreflexion und Depression schwankt. Die Kultur der Spätmoderne erweist sich als ein „systematischer Enttäuschungsgenerator“(Reckwitz). Das „emblematische Krankheitsbild“ der spätmodernen Mittelklasse ist deshalb die „Depression“ (S. 434).
Das alles ordnet sich für den Autor aber nicht zu einem Muster einer fragmentierten Gesellschaft, sondern fügt sich zum Bild einer neuartigen Klassengesellschaft zusammen, die das normative Band der differnzierten Gesellschaft, die soziale Solidarität, weiter schwächt. Das Kriterium dieser neuen Klassengesellschaft ist nicht allein die unterschiedliche Verteilung der materiellen Ressourcen, der Einkommen und Vermögen (das sind weiterhin notwendige Bedingungen für die Kulturalisierung des Lebensstils), es dominieren vielmehr kulturelle Bewertungen, die klare Klassengrenzen abstecken.
Zunächst belegt der Autor das anhand der Unterscheidung innnerhalb der Mittelklasse zwischen „altem Mittelstand“ und „neuer Mittelklasse“. Die Unterscheidung neue/alte Mittelklasse macht eine Polarisierung deutlich, die in erster Linie auf auf den postmaterialistischen Wertewandel und seine Maßstäbe eines ‚guten Lebens‘ zurückzuführen ist, die das ‚Prestige des Singulären‘ mit einer subtilen Entwertung des alten Mittelstands verbindet, der sich mit dem „Goldstatus von ‚Maß und Mitte‘“ (S. 368) zufrieden gibt.
Weniger subtil, im Blick auf gesunde Lebensführung, Kosmopolitismus, Bildungswerte ist die „Devalorisierung der neuen Unterklasse“ (S. 368). In einem eigenen Kapitel beschreibt der Autor die „Lebensform der Unterklasse“ als „Muddling through“ (S. 350-358). Darüber hinaus begegnet Unterklasse kulturellen Abwertungen mit einer eigenen „singularistischen Gegenstrategie“ (S. 359-362), die ebenfalls auf kulturelle Kategorien des ‚Authentischen‘ zurückgreift, sie aber gewissermaßen gegen die Mittelklasse „umcodiert“.
Am Ende des Kapitels entwirft der Autor ein „Tableau der spätmodernen Klassen und ihrer Relationen“ (S. 363-370), das hier nur sehr holzschnittartig (als „Drei-Drittel-Gesellschaft“) wiedergegeben werden soll: das erste Drittel umfasst eine Oberklasse, die sich in eine distinguierten Oberschicht und eine Gruppe der „nouveaux riches“ aufteilt, eine gespaltene Mittelklasse, wobei weder die akedemische noch die nichtakademische Mittelklasse (der „alte Mittelstand“) in sich homogen ist, und im letzten Drittel eine anwachsende Unterklasse.
Kapitel VI: „Differentieller Liberalismus und Kulturessenzialismus“. Der Autor diagnostiziert, dass in der politischen Sphäre ein Antagonismus zwischen einem individualistischen Liberalismus (der in einen wirtschaftsliberalen und linksliberalen „Flügel“ gespalten ist) und Gegenbewegungen dominiert, die er unter dem Etikett „Kulturessenzialismus“ zusammenfasst. Der sozialdemokratische Konsens der „organisierten Moderne“, der keynesianische Steuerungs- und Wohlfahrtsstaat, wird Ende der siebziger Jahre durch einen „differentiellen Liberalismus“ als neues politisches Konzept abgelöst. Die Folgen dieses Paradigmenwechsels in der Politik fallen für Reckwitz deutlich komplexer aus, als das in den Analysen zum Neoliberalismus und zur „Postdemokratie“ den Anschein hat. Der zentrale Imperativ eines „apertistisch-differentiellen Liberalismus“ ist für ihn ein Schlüssel zum Verständnis der Veränderungen im Sinne der „Öffnung, Entgrenzung und Deregulierung des Sozialen“ (S. 375). Der „apertistische Liberalismus“ hat ein Doppelgesicht: er propagiert die Öffnung des Nationalstaats gegenüber einem globalen Wettbewerb und zugleich die Vielfalt des Individuellen, den Pluralismus der kulturellen Herkunftsgemeinschaften und der unterschiedlichen Lebenssstile.
Zugleich kristallisieren sich in den 1980er Jahren Gegentendenzen zum differentiellen (auf Unterschiede setzenden) Liberalismus mit seinem Leitbild der „offenen Gesellschaft“ heraus, die Reckwitz unter dem Begriff „Kulturessenzialismus“ zusammenfasst: eine Identitätspolitik entlang ethnischer Gemeinschaften, Tendenzen eines Kulturnationalismus, Versionen eines religiösen Fundamentalismus und schließlich Formen des Rechtspopulismus.Sie bilden in der Auseinandersetzung mit dem apertistischen Liberalismus neue Konfliktkonstellationen, die zu Fragen der Gerechtigkeit quer stehen.
In den Schlussbetrachtungen zur „Krise des Allgemeinen“ (S. 429-442) stellt der Autor die Frage, ob man die „Gesellschaft der Besonderen“ überhaupt noch als „einen Teil der Moderne“ begreifen kann oder ob wir nicht „vielmehr unterwegs zu etwas ganz Anderem (...), zu einer nachmodernen Formation“ (S. 430) sind. Wie auch immer, es zeichnen sich für ihn drei Herausforderungen in den Sphären der Arbeit, der Kultur (im engeren Sinne) und der Politik ab, die Gegenreaktionen herausfordern:
Die Krise der Anerkennung im Bereich der Arbeit wird durch die enttäuschten Verheißungen der Wissensgesellschaft und der Bildungsrevolution nach einem „sozialen Aufstieg (…) für alle“ (S. 433) hervorgerufen, die kulturelle Krise der Selbstverwirklichung resultiert aus der Enttäuschung des Autonomieversprechens der Moderne, während die Krise des Politischen aus der Ernüchterung angesichts der Grenzen „gesamtgesellschaftlicher Steuerungsmöglichkeiten“ hervorgeht (S. 434).
Es sind aber auch drei Gegentendenzen zur „Singularisierung“ und zur „Krise des Allgemeinen“ in diesen Bereichen erkennbar. Was die Krise der Anerkennung angeht, sieht der Autor in der gesellschaftlichen Debatte zur „kulturellen Wertzuschreibung“ von Arbeit, Lebensstil und Lebensorten (vgl. S. 439 oben) ein Hoffnungszeichen, ohne sich über den Effekt einer solchen Debatte große Illusionen zu machen. Denn was im kulturellen Valorisierungsprozess als „attraktiv“ oder „unattraktiv“ bewertet wird, darüber entscheidet in der Kultur der Singularitäten der unberechenbare Wechsel von Normen der Attraktivität.
Die Krise der Selbstverwirklichung gibt ebensowenig Anlass zu übertriebenen Hoffnungen. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich hier im „dunklen Herzen“ einer verwilderten Singularitätskultur Tendenzen einer Gegenkultur regen: Zum einen „ (…) die Strategie der Selbstbegrenzung, die sich im Bereich des psychologischen Counceling und der Lebensberatung“ (S. 440) zeigt und die den Selbstverwirklichungsanspruch neu definiert: „Der hohe Anspruch des postmaterialistischen Lebensstils an sein eigenes Gelingen soll hier bewusst gesenkt werden.“ (S. 440). Das ist eine Art Gegengift zur „Ideologie des self growth- Psychologie“ und eine Anleitung zum Ausstieg aus dem Perfektionierungs- und Beschleunigungswahn, der das unbegrenzte Wachstum des Selbst zum Leitbild der Kultur erklären möchte. Zum zweiten verweist Reckwitz auf die Tendenzen einer Kulturkritik, die „die Schattenseiten der Subjektkultur“ thematisiert.
Was die Gegentendenzen zur Krise des Politischen angeht, so registriert der Autor hier Widerstandskräfte einer „zumindest provisorische(n) ’Rekonstitution des Allgemeinen’ innerhalb der Gesellschaft der Singularitäten (..)“ (S. 440), beginnend mit den sozialen Bewegungen eines „politischen doing universality“ als „Gegengewicht zum allgegenwärtigen doing singularity“ (S. 441) über die „Bewegung der ‚Commens‘“ und die „Formen alternativen Wirtschaftens und alternativer Stadtentwicklung“ (S. 441) bis hin zu den Gruppen, die sich den Fragen der „kulturellen Integration“ (ebd.) zuwenden, all das sind Signale für einen neuen, die sozialen Konflikte moderierenden Liberalismus. Allerdings die „Arbeit an der Universalität, an den allgemeinverbindlichen Normen und gemeinsam geteilten Gütern“ (S. 441) kann sich nicht mehr auf ein „verbindliches Fundament“ des Rechts und der egalitären Moral stützen. Dennoch sieht er eine Renaissance eines „regulativen Liberalismus“ kommen, der „die Institutionen des Staates“ neu zur Geltung bringt (vgl. S. 442).
Diskussion
Die kritische Pointe des Buchs besteht darin, dass sich in der Spätmoderne die Relation und damit die Gewichte zwischen Rationalisierung und Kulturalisierung entscheidend verschieben und dass das Rationalisierungsparadigma als Schlüsselkategorie der Modernisierung in den Hintergrund tritt.
Zwei Einwände drängen sich auf. Der eine betrifft den vom Autor gewählten Forschungsansatz. Es stelllt sich die Fage, ob der institutionelle Kern der Moderne angemessen analysiert werden kann, wenn der sozialen Praxis der Singularisierung bzw. Kulturalisierung ein Primat eingeräumt wird. Max Weber hat den Blick auf zwei Institutionen (Markt und Staat) gelenkt, die sich als Systeme zu einem monetär-administrativen Komplex verdichtet und gegenüber der kulturellen Lebenswelt verselbstständigt haben. Die ungebrochenen Logik der Monetarisierung und der administrativen Macht sind es, die die kulturelle Praxis in ihren Dienst nehmen und nicht umgekehrt. Es ist fraglich, ob ein handlungstheoretischer Forschungsansatz die komplexen Wechselwirkungen zwischen den ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen auf der einen und der kulturellen Sinndeutungen und Konstruktionen von Wirklichkeit durch die Akteure auf der anderen Seite angemessen erklären kann.
Der zweite Einwand bezieht sich auf das, was Max Weber das „Erbe des okzidentalen Rationalismus“ nannte. Was spricht dagegen, dieses „Erbe des westlichen Rationalismus“ weiterhin als einen Fundus der kulturellen Spätmoderne zu betrachten? So ganz will auch Reckwitz die Verabschiedung des „Projekts der Moderne“, der genuin westlichen Traditionen, nicht gelingen. Das „normative Fundament aus reziproken Annerkennungsformen, gemeinsamen kulturellen Werten und normativen Regelungen des Rechtsstaates“ (S. 437) wird als „festes Fundament“ verabschiedet, um dann durch die Hintertür einer „Rekonstitution allgemeiner Öffentlichkeit“ (S. 440), des „doing universality“ und eines „regulierenden Liberalismus“ wieder hereingelassen zu werden. Der latente normative Gehalt der Moderne, die Dimension einer kommunikativen Rationalität allerdings bleibt ausgeblendet. Mit seiner Konstruktion „kompetitiver Singularitäten“ bleibt der Autor den Begriffszwängen einer solipsistischen Subjektphilosophie verhaftet, die die Individuen in einen Zirkel von Singularisierung und Generalisierung bannt, aus dem sie nicht heraustreten können. Die kritische Intuition der „Einbeziehung des anderen“ (Habermas), die Vorstellung einer zwanglosen Vereinigung der besonderen Interessen der Einzelnen mit den Interessen aller, wobei die Differenz zwischen Besonderheit und Allgemeinheit gewahrt bleibt, liegt außerhalb des Horizonts der singularisierten Subjekte.
Fazit
Wer vor der anstrengenden Begriffsheuristik des Autors zur „sozialen Logik des Besonderen“ zurückschreckt, sollte mit der empiriegesättigten Darstellung der „Transformation der Kultursphäre“ (S. 92 ff.) beginnen, da sich die soziale Logik des Besonderen aus der historischen Darstellung der verschiedenen Epochenbestimmungen der Moderne besser erschließt.
Für selektive LeserInnen, die sich stärker für die soziologische Zeitdiagnose der singularisierten Klassengesellschaft interessieren, enthalten die Kapitel III zur „singularisierten Arbeitswelt“ und Kapitel V zur „singularisierten Lebensführung und spätmodernen Klassengesellschaft“ instruktive Beiträge zur aktuellen soziologischen Debatte. Mit seiner Analyse der kulturellen Ausgrenzungen hat der Autor einen kritischen Nerv getroffen.
In den Hinweisen auf eine wiedererwachte bürgerlichen Öffentlichkeit, auf wirtschaftliche und soziale Reformbewegungen, die sich stärker den „commens“, einem „doing universality“ zuwenden und dem wie Phönix aus der Asche des Wettbewerbsstaates wiederauferstandenen „regulativen Staat“ drückt sich die eher defensive Haltung eines Linksliberalismus aus. Die Rückbesinnung auf einen moderaten Liberalismus dürfte einem rot-grünen Milieu der neuen Mittelklasse aus dem Herzen gesprochen sein.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 13.08.2018 zu:
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2017.
ISBN 978-3-518-58706-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24642.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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