Hein Kistner: LebensWege. Biografiearbeit von Menschen mit Behinderung
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 18.10.2018
Hein Kistner: LebensWege. Biografiearbeit von Menschen mit Behinderung. verlag selbstbestimmtes leben (Düsseldorf) 2018. 90 Seiten. ISBN 978-3-945771-12-9. 12,40 EUR.
Thema
Das vorliegende Büchlein widmet sich Grundlagen und Methoden der Biografiearbeit von Menschen mit Behinderung. Es resümiert und verallgemeinert Erfahrungen, die der Autor als Biografieberater (vor allem auch) in der Sozialtherapeutischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Am Bruckwald mit Klientinnen und Klienten der Einrichtung, deren Angehörigen und Begleiterinnen machen durfte.
Aufbau und Inhalt
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Biografiearbeit wird als wohlgeordneter, doch nicht festgelegter, Prozess vorgestellt. Sie gründe sich auf die Freiwilligkeit und Selbstverantwortlichkeit der Klient/-innen und sichere Verschwiegenheit und Datenschutz zu. Sie erfolge aus den Grundhaltungen Interesse, Milde und Zutrauen heraus und kumuliere im Staunen angesichts der Verschiedenheit von Lebenserfahrungen anderer, über die das Besondere des eigenen Lebens noch besser erkannt werden könne (vgl. S. 55 f.).
Biografiearbeit als Prozess vollziehe sich in fünf Schritten, wobei das eigene Leben (er-) lebt, betrachtet, befragt, erkannt und verwandelt werden soll. Das biografische Gespräch, gleichgültig ob Einzelgespräch oder „Biografiearbeit im Sozialen“ (Gruppenarbeit, Mittelpunkt- Gespräch, Persönliche Zukunftsplanung, Zukunftsgespräch) verhandelt das Leben als Prozess und orientiert sich sowohl inhaltlich als auch methodisch an diesen Schritten. Dabei unterscheidet der Biografieberater Momente, in denen Übergänge und Krisen im Leben der Klient/-innen gecoacht werden müssen von Momenten der „notwendigen Selbstvergewisserung“ (S. 24), in denen das ganze Leben eine Betrachtung (chronologisch, themenbezogen, als Ganzes…) erfahre.
Diskussion
Dort, wo das biografische Arbeiten an seine vermeintlichen Grenzen stößt, nämlich im Gespräch mit schwer behinderten Menschen, die nur schwer oder gar nicht verbal kommunizieren können, weist es über diese Grenzen hinaus. So trägt die Umkreis- Biografiearbeit mit Eltern, Angehörigen und Begleiter/-innen die vielfältigsten Erinnerungen aus den Begegnungen mit Klient/-innen zusammen und ermöglicht so, „zu fragen, ohne Antworten“ (S. 60) von ihnen zu erwarten. Besonders eindrucksvoll sind die Reminiszenzen, die 21 Begleiter/-innen im Rahmen eines Forschungsprojektes zu biografischen Motiven und Fragestellungen von Frau Solis, einer 45- jährigen Bewohnerin des Bruckwaldes in nicht gegenständlichen Bildern und Situationsbeschreibungen zusammentrugen und letztlich zu einem vielgestaltigen Portrait ihrer Persönlichkeit verdichteten. Der stellvertretende Charakter des Gesprächs mit Menschen, die selbst keinen verbalen Beitrag leisten können, wandelt sich in Selbstvertretung immer dann, wenn diese als Personen anerkannt mit ihren (möglichen) Bedürfnissen, Wünschen und Fähigkeiten im Mittelpunkt stehen.
Die anthroposophischen Grundorientierungen zur Biografiearbeit, die an verschiedenen Stellen deutlich werden, etwa in den „Gesetzmäßigkeiten“ und „Entwicklungsmöglichkeiten im Lebenslauf“ (S. 12 und 78 f.) sind generell anschlussfähig an wissenschaftliche Diskurse zu Problemen und Lösungen entwicklungsbezogener Diagnostik, (inklusionsfördernder) Intervention und (assistierter) Lebensbegleitung.
Zielgruppen
Studierende und Lehrende (heil-) pädagogischer Fachrichtungen, der Gesundheits- Pflege und Sozialwissenschaften, Interessierte helfender Berufe
Fazit
Der vom Autor vorgelegte Praxisbericht zur Biografieberatung bietet dem Leser eine Fülle von Anregungen und Strukturierungshilfen für die eigene Arbeit. Überaus lesenswert.
Literatur
- Bernasconi, Tobias & Böing, Ursula (2105): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung. Kohlhammer, Stuttgart
- Jödecke, Manfred: „Der Mensch muss werden können, was er seinem Wesen nach ist…“ Reflexionen zum psychischen Gestaltwandel am Beispiel des Jugendalters. In: Behindertenpädagogik 46 (2007) 3+4, S. 343- 373
- Römer, Susanne (Hg.) (2017): Diagnostik als Beziehungsgestaltung. Beziehungen eingehen, reflektieren und gestalten- Diagnostik in Dialog und Kooperation. Frank & Timme, Berlin
- Trescher, Hendrik (2017): Behinderung als Praxis. Biografische Zugänge zu Lebensentwürfen von Menschen mit geistiger Behinderung. Transcript Verlag, Bielefeld
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Zitiervorschlag
Manfred Jödecke. Rezension vom 18.10.2018 zu:
Hein Kistner: LebensWege. Biografiearbeit von Menschen mit Behinderung. verlag selbstbestimmtes leben
(Düsseldorf) 2018.
ISBN 978-3-945771-12-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24650.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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