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Marion Wieczorek: Mit jedem Schritt wächst meine Welt - Bildung und schwere Behinderung

Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 09.01.2019

Cover Marion Wieczorek: Mit jedem Schritt wächst meine Welt - Bildung und schwere Behinderung ISBN 978-3-945771-14-3

Marion Wieczorek: Mit jedem Schritt wächst meine Welt - Bildung und schwere Behinderung. verlag selbstbestimmtes leben (Düsseldorf) 2018. 145 Seiten. ISBN 978-3-945771-14-3. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Für Menschen mit schweren Behinderungen sind – so die Forderungen der Fachkräfte – besondere Lehr- und Bildungsformate erforderlich, um die ihnen angemessene Förderung ermöglichen zu können. Die Zielsetzungen einer bestmöglichen Unterstützung der Kinder und Jugendlichen vor Augen „didaktisieren“ Lehr- und Fachkräfte jeden Schritt aus der Perspektive der Lehrenden – und vergessen oftmals auf die Eigenbestimmtheit der Subjekte, die den Lern- und Bildungsprozess formen. Der Titel „Mit jedem Schritt wächst meine Welt“ ist Programm und Programmatik des Buches. Und Bildung heißt Mitwelt-, Umwelt- und Kulturerschließung.

Das Buch erschien im Eigenverlag des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. (bvkm.). Ziel des Verlags besteht darin, Lehr- und Fachkräfte mit aktuellen Büchern, Arbeitsmaterialien, Ratgebern und Broschüren zu erschwinglichen Preisen zu versorgen. Etliche Tabellen dienen einem schnellen Überblick oder einer Gegenüberstellung. Längere Zitate oder Praxisberichte sind leserfreundlich eingerückt und in kursiver Schrift gekennzeichnet.

Verfasserin

Prof. Dr. Marion Wieczorek lehrt am Institut für sonderpädagogische Förderschwerpunkte im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung der Fakultät für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Pädagogik und Didaktik sind ihre priorisierten Lehr- und Forschungsinhalte.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in folgende acht Kapitel untergliedert, die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Einleitung (S. 5-9): Nach der Erläuterung des Begriffs „schwere Behinderung“ legt die Autorin fest, dass in ihrem Buch Kinder und Jugendliche „im Mittelpunkt [stehen], die sich unter der Bedingung einer sehr schweren motorischen Beeinträchtigung der Welt zuwenden, dabei auf konkretes Lernen angewiesen sind und einer bedeutsamen Unterstützung dahingehend bedürfen, symbolisches Denken auszubilden“ (S. 7 f.). Ihr Verständnis von Bildung basiert auf dem Konzept des Kindheitspädagogen Gerd Schäfer, der Denkformate von Kindern experimentell erforscht hat. Es impliziert, wie sich aus eigenen Erfahrungen Wissen entwickelt, danach Gedanken von anderen verstanden und übernommen werden können und schließlich eine soziale Verbindung und der Bezug zur Kultur mit inbegriffen ist. Diesem Konzept gemäß verfolgt Wieczorek die Bildungsprozesse der schwer und sehr schwer behinderten Kinder und Jugendlichen.

Beziehung zur Welt (S. 10-20) beginnt mit einem Reisebericht, der zahlreiche persönliche Erfahrungen eines Kindes enthält. „Grundlegendes Lernen“ (S. 11) folge primär inneren Entwicklungsimpulsen, sei offen, habe einen starken emotionalen Bezug und geschehe in einem Lebens- und Bedeutungszusammenhang, der zu einem tiefen Erleben führe. Die „Möglichkeitsorientierung“ werde nach Auffassung der Autorin in den durchgetakteten Unterrichtsentwürfen („Zielorientierung“) oft zu sehr von den Lehrenden eingeschränkt. Den Kindern fehle es an selbsttätiger Auseinandersetzung mit der Welt, das etwas sehen, greifen, tasten Dürfen, welches nötig sei, um darauf aufbauend ihre Beziehung zur Welt gestalten zu können und damit „gebildet“ zu sein/zu werden.

Austausch und Verständigung (S. 21-35) widmet sich der Bedeutung und Entstehung von Selbstbildungspotenzialen der in diesem Buch adressierten schwer behinderten Kinder und Jugendlichen, die zum einen aufgrund ihrer komplexen Problematik nur eingeschränkte motorische, sprachliche und Kommunikationsoptionen haben und zum anderen häufig nur Ausschnitte von Umwelt und Welt erkunden können. Anhand konkreter Beispiele erläutert Wieczorek wie Verständigungsprozesse entstehen und wie sie über die Welt entdecken, sie erkunden und gestalten in ein Verstehen der Welt übergehen. Dabei ist individuelles Lernen eingebettet in den sozialen Kontext einer Gruppe. „Verstehensprozesse“ (S. 26), „Resonanz“ (S. 28), „Autonomie und Würde“ (S. 30) sowie die „Rahmung der Situation“ (S. 31) sind wichtige Prinzipien der Verständigung.

Wege zum individuellen und überlieferten Weltwissen (S. 36-53) beschreibt die aufeinander aufbauenden Stufen des Wissens, beginnend vom Erfahrungswissen bis hin zum Verständnis von Wissen aus zweiter Hand und was dabei insbesondere für die adressierte Zielgruppe zu berücksichtigen ist. Didaktik müsse nach Auffassung der Autorin ausreichend pure Erfahrungen (wie z.B. mit Wasser) möglich machen. Daran schließt sich das konkrete Denken über die sinnliche Empfindung an, bevor es möglich ist, dass diese konkreten Erfahrungen weitergedacht werden können, z.B. im sog. „aisthetischen Denken“ (S. 43) in Vorstellungen (ohne Bild und ohne Sprache), im narrativen Denken und im theoretischen Denken (mit abstrakten Begriffen). Dass nicht alle Kinder jemals theoretisch denken können werden, entpflichte nach Ansicht der Verfasserin nicht, das Konkrete zu überschreiten, sondern fordere in didaktischer Hinsicht, diese Denkwege sukzessive anzubahnen.

Konkretes Denken: Von der Körper- zur Welterfahrung (S. 54-82): Bei der Primärerfahrung der Pflege und dem Hautkontakt beginnend eröffnet der Körper viele Optionen des Zugangs zur Welt. Wieczorek listet auf, in welch vielfältiger Weise allein das manuelle Erkunden von materiellen Eigenschaften ist, daneben gibt es noch andere Formen (oral, auditiv). Immer wieder flicht sie anschauliche Beispiele ein, z.B. auch wie Erkunden unterstützt durch eine Betreuungsperson stattfinden kann. Erst auf der Grundlage der Materialerfahrung der Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung könnten sie sich der Welterfahrung annähern, wobei es hier insbesondere auch darum ginge, den Eigensinn der Kinder zu respektieren. So sei ein Gegenstand mehrfach verwendbar, müsse nicht auf den normierten Gebrauch fixiert werden. „Lernen im Alltag“ (S. 69) sei konzeptionell folgenden Anforderungen verpflichtet:

  1. sinnvolle, reale Lebenswelten müssten „hinreichend einfach – hinreichend komplex“ (S. 69) sein,
  2. Kinder und Jugendliche müssten eingebunden sein in die alltägliche Lebenswelt (durch Einladung, Beteiligung und Mitgestaltung),
  3. Explorationen müssten in „sinnvollen Zusammenhängen“ (S. 75) stattfinden und
  4. „Ereigniswissen“ (S. 80) müsse über Zusammenhänge und Strukturen ausgebildet werden.

Weiterdenken! (S. 83-107) beschäftigt sich, illustriert durch viele Beispiele, mit den an das konkrete Denken aufbauenden Stufen des Denkens. Zunächst werden Erkundungen, Spiel und Symbol als Erweiterung thematisiert. Danach gibt die Autorin Einblick, wie weitere Formen „einen Stein ins Rollen bringen“ (S. 87) können, z.B. das Lernen in komplexen Zusammenhängen – sofern es nicht ohne Bezug zum Erfahrungswissen der Kinder und Jugendlichen passiert –, das „körperliche Nach-Sinnen“ (S. 93), Klangspuren (in Form von Liedern, von Alltagsklängen), mit denen Emotionen ausgedrückt und evoziert werden können, „Sammeln, Ordnen und Vergleichen“ (S. 99), „Bauen, Konstruieren, Umordnen und Gestalten“ (S. 101), „Bilder und Abbilder“ (S. 104) und das „Zur Sprache kommen“ (S. 105).

Narratives Denken – in und mit Geschichten denken (S. 108-130) rekurriert auf die soziale Dimension des Erzählens, auch dann, wenn sich die Kinder und Jugendlichen mit schwerer Behinderung lediglich mit Vokaldialogen zum Ausdruck bringen können. Ihre Mitteilung an die Gruppe, ihr Gehört-Werden, können sie unterstreichen mit Stimmvariationen und Körpersignalen. Sie sind Bestandteile des Erzählens ebenso wie Erinnerungen, d.h. das Memorieren von subjektiv bedeutsamen Wahrnehmungen, die geteilt werden. Über das Erzählen und „gleichzeitig ganz Ohr sein können“ (S. 112) entsteht eine gemeinsame Vorstellungswelt derjenigen, die Teilnehmer/innen sind, für die diese Geschichte „gilt“. Den didaktisch vielseitig verwendbaren „Alltagsgeschichten“ (S. 114) widmet Wieczorek einen größeren Abschnitt: Insbesondere wie sie sich charakterisieren lassen, nach welchen Kriterien sie gestaltet und wie sie zu Sachgeschichten werden können. Abschließend gibt die Autorin ein Plädoyer dafür ab, dass Kindern und Jugendlichen auch „kulturelle Geschichten“ (S. 123) zugänglich gemacht werden, allerdings widerspricht sie den Annahmen, dass dies voraussetzungslos möglich ist und plädiert für die Verwendung solcher Gedichte und Geschichten, mit denen ein Anschluss an die Erfahrungswelt verbunden ist.

Mit jedem Schritt wächst meine Welt – Eine Zusammenfassung des Weges (S. 131) erinnert am Ende des Buches auch an die strukturellen Erfordernisse an die Lern- und Bildungsorte, die mit dem Konzept einhergehen.

„Anmerkungen“ (S. 132) und „Literatur“ (S. 133-145) runden den Band ab.

Diskussion

Das Buch setzt sich mit der vorhandenen Fachliteratur zur Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements konstruktiv auseinander und konfrontiert sie mit der stärker konstruktivistisch ausgerichteten Auffassung, dass Lernen nicht verordnet werden kann, sehr wohl aber ein anregendes Lernumfeld zu Erfahrungen, sich darauf einzulassen, motivieren kann. Insofern vollzieht die Verfasserin den Wandel „from teaching to learning“, ist sich aber der anspruchsvollen Voraussetzungen an die didaktische Gestaltung der Erfahrungs- und Lernräume sehr bewusst und bagatellisiert an keiner Stelle. Sie weist dagegen mehrfach darauf hin, welch intensive Vorüberlegungen z.B. das Weiterdenken erfordert. Und sie kritisiert vorgefertigte Unterrichtsstunden, die aus der Lehrerperspektive entstanden sind und an den Menschen mit schwerer Behinderung vorbei geplant wurden. Wieczorek „erdet“ alle allzu eifrigen und überspannten Lehr- und Lernzielformalisten – ohne die Zielplanung an sich zu verteufeln. Sie wehrt sich nur gegen eine „Verfügung über das Subjekt“, das nur wie geplant erfahren, aufnehmen und verarbeiten darf. Die Verfasserin denkt und schreibt radikal für die Selbstbestimmung der Zielgruppe, verpönt mit Überzeugung die Reduktion auf Lernen und fordert Bildung im Sinne von Teilhabe am Weltwissen, sozialer Teilnahme und Mitproduktion von Kultur. Der sozialen Verortung attribuiert sie dabei einen hohen Stellenwert. Das Buch beschränkt sich weitgehend auf die Optionen pädagogisch-didaktischen Handelns, dem eine Konzeption zugrunde liegt, die die Entwicklung von Denkwegen auf Erfahrung zurückführt und verweist an einigen Stellen darauf, dass Zeit nötig sei, diesen Prozess zu verfolgen. Genau hier deutet die Schrift auf bildungsstrukturelle und bildungspolitische Gegebenheiten hin, die Lernen und Bildung nach diesem didaktischen Konzept unter den gegebenen Voraussetzungen nur in Ansätzen erlauben.

Fazit

Selbst wenn ideale Bedingungen einer Umsetzung nicht vorhanden sind, macht dieses Buch Mut, den Lern- und Bildungsprozessen von Menschen mit schwerer Behinderung besonders intensive Aufmerksamkeit zu schenken, die primären Erfahrungen denjenigen aus zweiter Hand vorzuziehen, Zeit zu geben zur Verarbeitung, zu entschleunigen und didaktisch zu reduzieren. Das Buch ist besonders geeignet für Fachpersonal von Einrichtungen der Behindertenhilfe, von Förderstätten und Schulen sowie für Studierende der Sonderpädagogik. Aber auch „nur“ didaktisch Interessierte und Lehrplanentwickler oder in der Bildungspolitik Verantwortung tragende Personen profitieren von dieser Mikroperspektive auf Lern- und Bildungsprozesse.

Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 83 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.

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ISSN 2190-9245