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Herbert Altrichter, Peter Posch et al.: Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Beywl, 12.02.2019

Cover Herbert Altrichter, Peter Posch et al.: Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht ISBN 978-3-8252-4754-6

Herbert Altrichter, Peter Posch, Harald Spann: Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. UTB (Stuttgart) 2018. 5., grundlegend überarbeitete Auflage. 368 Seiten. ISBN 978-3-8252-4754-6. D: 21,99 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 29,50 sFr.
Reihe: UTB - 4754.

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Thema

Die Lehrerschaft steht wie alle Professionen, die Menschen in einer sich rasch verändernden sozialen Welt bei ihrer Entwicklung begleiten, vor einer großen Herausforderung: den wachsenden Wissenskorpus der Humanwissenschaften nicht nur zu rezipieren, sondern aktiv gestaltend mit ihrer beruflichen Praxis zu verbinden. Da außerhalb des Unterrichts kaum Zeit bzw. Energie für diese Adaption verfügbar ist, entwickeln Lehrkräfte eine „pragmatische Skepsis“: Sie streiten die Relevanz der – oftmals allzu widersprüchlichen – Ergebnisse der Bildungsforschung für ihre spezifische Situation ab; sie setzen ihre eigenen biographisch geprägten Annahmen zum Funktionieren von Lehren und Lernen dagegen. Die Aktionsforschung will, statt diese pragmatische Skepsis zu umschiffen, die Lehrkräfte als Mitarbeitende ‚auf Augenhöhe‘ für einen Prozess der datengestützten Entwicklung von Unterricht und Schule gewinnen. Sie selbst sollen die Passung bildungswissenschaftlichen Wissens „auf die spezifischen Verhältnisse in ihrer Praxis genau beobachten, evaluieren und diese Neuerung entsprechend ihrer Beobachtung weiterentwickeln.“ (S. 328). Das Buch zeigt einen Weg auf für ein so umrissenes Erforschen des Unterrichts, als „systematische Untersuchung beruflicher Situationen, die von Lehrerinnen und Lehrern selbst durchgeführt wird, in der Absicht, diese zu verbessern.“ (S. 11)

Autoren und Entstehungshintergrund

Die Autoren des Bandes sind an österreichischen Universitäten in Lehrerbildung und Schulentwicklung tätig. In den 1970er und 1980er Jahren hielten sich Peter Posch und Herbert Altrichter am Cambridge Institute of Education und an der University of East Anglia, Norwich, auf, wo sie mit Lawrence Stenhouse und John Elliott zusammenarbeiteten. Diese prägten seit Ende der 1960 Jahre die britische Tradition der Action-Research im Schulbereich. Hieran knüpft die erstmalig 1990 erschienene Buchpublikation explizit an. Bis zur 4. Auflage stand der Begriff „Aktionsforschung“ auch im Untertitel. Für die Autoren war „die schwache Reaktion [auf die 1. Auflage] enttäuschend“. Erst mit den späteren Auflagen (bis zur 3. „Lehrer erforschen ihren Unterricht“) gelang der Durchbruch. Dies zeigt sich an Übersetzungen ins Englische, Griechische und Chinesische sowie an den gut 20.000 deutschsprachigen Google-Suchergebnissen (Stand Januar 2019). Damit sind die ungezählten Zitationen in Qualifikationsarbeiten von angehenden Lehrkräften nicht abgedeckt.

Aufbau und Inhalt

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Die Einleitung (Kap. 1) listet die charakteristischen Merkmale der Aktionsforschung auf:

  1. Forschung durch die Beteiligten
  2. praxisgenerierte Fragestellungen
  3. verbundene Aktion und Reflexion
  4. längerfristige Forschungs- und Entwicklungs-Zyklen
  5. unterschiedliche Perspektiven
  6. in eine professionelle Gemeinschaft eingebettete individuelle Forschung
  7. vereinbarte ethische Regeln für die Zusammenarbeit
  8. veröffentlichte Projektbeispiele
  9. Wertbewusstheit pädagogischer Tätigkeit
  10. Doppelziel: Entwicklung und Erkenntnis

Aktionsforschung wird als Kreislauf von datenbasierter Reflexion und Aktion dargestellt. Die vier großen, zyklisch zu durchlaufenden Etappen sind: Datensammlung, Interpretation, Schlussfolgerungen/Konsequenzen und Aktionen. Vor der Datensammlung ist der Ausgangspunkt zu klären. Für alle vier Phasen sind die Ziele und Werte der Beteiligten Lehrpersonen leitend. In das Schlussfolgern und die nachfolgende Festlegung der zu ergreifenden Aktivitäten fließen Erfahrungen der Praxisakteure und auch wissenschaftliches Wissen ein.

Das Führen eines Forschungstagebuchs (Kap. 2) wird kleinschrittig und verbunden mit Beispielen und Hinweisen erläutert.

Entwicklung und Klärung des Ausgangspunktes für die Forschung (Kap. 3 und Kap. 4) sind entscheidend für die Praxisrelevanz der anzugehenden Aktionsforschungsprojekte. Diese sollen stets eine doppelte Zwecksetzung verfolgen, nämlich sowohl Entwicklung im Sinne der Verbesserung von Praxis als auch Erkenntnis „um jene praktische Situation, deren Bedingungen, ihre Handlung darin und deren Wirkungen besser [zu] verstehen“. Die Ausgangspunkte resultieren typischerweise aus der „Erfahrung von Diskrepanzen“, zum Beispiel zwischen geplantem und tatsächlichem Unterrichtsablauf, zwischen Wertvorstellungen der Lehrperson und Verhalten der Lernenden oder von anderen Akteuren; zwischen dem Gemeinten (zum Beispiel: Unterstützung) und dem vom Gegenüber Wahrgenommenen (zum Beispiel: Gängelung). Auch wenn solche Knacknüsse in der Regel individuell, von einer Lehrerin oder einem Lehrer identifiziert werden, so sollen Aktionsforschungsprojekte darauf hinwirken, Lehrergruppen oder Kollegien einzubeziehen. Vorgehensweisen wie Brainstorming, Einholen von zusätzlichen Informationen, analytische Gespräche mit Teammitgliedern, Nicht-Beteiligten oder kritischen Freunden, können schließlich dazu beitragen, eine „eigene praktische Theorie zu formulieren“. Diese bezeichnet eine weitmöglich bewusste Wissensbasis, die Lehrkräfte in einer konkreten Handlung benutzen. Sie kann sowohl am Beginn eines Aktionsforschungsprojektes stehen, und wird dann kritisch überprüft, oder sie ist ein (womöglich die anfängliche Theorie revidierendes) Ergebnis des Forschungshandelns. Am Schluss dieser Planungsphase ist zu entscheiden, ob der Schwerpunkt des Projektes auf ‚Aktion und Entwicklung‘ oder auf ‚Forschung und Erkenntnis‘ gesetzt werden soll. In beiden Fällen ist eine bewusste Klärung von Zielen und Werten erforderlich, für die danach Indikatoren zu erarbeiten sind, an denen „man erkennen kann, dass und inwieweit diese Merkmale tatsächlich vorhanden sind“. (S. 91).

Die Datensammlung (Kap. 5) schließt daran an. Unter Daten werden materielle Spuren oder Objektivierungen von Ereignissen verstanden, die von den Untersuchenden als relevant und aussagekräftig für die verfolgten Fragestellungen angesehen werden. Im Rahmen eines Aktionsforschungsprojekts repräsentieren sie Wirklichkeit. An der „Leiter des Schließens“ von Chris Argyris wird verdeutlicht, wie der Weg schrittweise von den Daten zu den Interpretationen verläuft, und dass dabei der subjektive Deutungsanteil der Untersuchenden zunimmt. Im Untersuchungsprozess sind a) erkenntnistheoretische, b) pragmatische und c) ethischen Gütekriterien zu beachten. Erkenntnistheoretisch ist Perspektivenvielfalt (Triangulation) bezüglich Akteuren, Forschungsmethoden und Situationen anzustreben. „Praktische Verträglichkeit“ ist in der Aktionsforschung besonders wichtig. Sie kann „erhöht werden, wenn Forschungsstrategien entwickelt und eingesetzt werden, die zugleich Unterrichtselemente sind.“ (S. 108). Aus ethischer Perspektive soll neben der Verträglichkeit mit pädagogischen Werten und Zielen angestrebt werden, dass „die Forschungsstrategien selbst auf demokratischen und kooperativen menschlichen Beziehungen aufbauen und zu ihrer Weiterentwicklung beitragen.“ (S. 109). Je ein Unterkapitel behandelt:

  • Sammlung bereits vorliegender Daten
  • Beobachtung und Dokumentation von Prozessen
  • Interview und Gespräch
  • schriftliche Befragung

Die Analyse von Daten (Kap. 6) dient dazu, Sinn zu gewinnen. Neben einer Einführung in die Systematik insbesondere der qualitativen Datenauswertung werden folgende Schritte eines systematischen Vorgehens skizziert:

  1. Daten ‚lesen‘, d.h. sich deren Informationsgehalt bewusst machen
  2. Daten ‚reduzieren‘, d.h. relevante Informationen auswählen
  3. Daten ‚explizieren‘, d.h. sich die Bedeutung der vorliegenden Informationen bewusst machen
  4. Daten strukturieren und ‚kodieren‘, d.h. Informationen ordnen und begrifflich fassen
  5. Zusammenhänge aufbauen
  6. Interpretationen und den Analyseprozess überprüfen

In drei Unterkapiteln werden konstruktive, kritisch-prüfende und komplexe Analysemethoden ausführlich vorgestellt und beispielhaft demonstriert.

Die Entwicklung und Erprobung von Handlungsstrategien (Kap. 7) kennzeichnet das alleinstellende Merkmal der Aktionsforschung. „Die Nutzung der Reflexionsergebnisse zur Verbesserung der Praxis und damit die Entwicklung und Erprobung von Handlungsstrategien [werden] als integrale Bestandteile des Forschungsprozesses angesehen …“ (S. 208). Was eine Handlungsstrategie ist, wird an Beispielen erläutert und durch eine Reihe von Merkmalen konkretisiert, u.a.:

  • auf Veränderung der Situation und ihrer Rahmenbedingungen gerichtet
  • in der Regel an Zielen orientiert
  • typischerweise eng verbunden mit der erarbeiteten praktischen Theorie

Handlungsstrategien sind „vorläufige Antworten“ und repräsentieren „versuchsweise Lösungen“. Sie können ganz verschieden große Veränderungen bezeichnen und auch unterschiedlich neuartig sein. Die Unterkapitel 7.3 bis 7.5 leiten schrittweise dazu an, wie auf die jeweilige Situationsdiagnose passende Handlungsstrategien identifiziert, aus Alternativen ausgewählt und schließlich praxistauglich konkretisiert werden können. Vorgehensweisen sind zum Beispiel individuelles oder kollektives Brainstorming, gedankliches Überprüfen, oder die originelle „Kluge-Ideen-Konzentrations-Methode“. Für diese mit der Moderationsmethode verwandte stark strukturierte Vorgehensweise zur Entscheidungsfindung in Gruppen wird eine Muster-Drehbuch bereitgestellt. Das Kapitel 7.6 zeigt, wie der Aktionsforschungs-Zyklus geschlossen werden kann, indem eine weitere Datensammlung geplant wird, um den Erfolg der eingesetzten Handlungsstrategien zu überprüfen.

Die Darstellung und Kommunikation des durch das Aktionsforschungsprojekt generierten Lehrerwissens wird in Kapitel 8 behandelt. Charakteristisch für eine solche Berichterstattung sind die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler, von kritischen Freunden und des eigenen Fach- oder Unterrichtsteams – auch hier wiederum Kollaboration. Im Unterschied zum anglophonen Bereich, für den einige Open-Source-Plattformen aufgeführt werden, gibt es im deutschsprachigen Raum bisher kaum Veröffentlichungsmöglichkeiten für Ergebnisse aus Lehrpersonen-Aktionsforschung. Ansätze bieten das IMST-Wiki an der Universität Klagenfurt, die Veröffentlichungen der Bielefelder Schulprojekte oder Praxisberichte auf der Plattform „Lehren und Lernen sichtbar machen“ der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz.

Wie Aktionsforschung und Schulentwicklung kombiniert werden können, skizziert Kapitel 9. Alle drei Einstiegspunkte eines Schulentwicklungszyklus können genutzt werden:

  • Zielperspektiven – ‚Visionen‘’ entwickeln
  • Entwicklungsschritte setzen – ‚neue Handlungen‘’ ausprobieren
  • Bestandsaufnahmen oder Evaluationen bisheriger Praxis

Kapitel 10 (mit einigen neuen Abschnitten gegenüber Auflage 4) gibt Beispiele und Anregungen, wie Aktionsforschung in der Lehrerbildung umgesetzt werden kann, sowohl in der Erstausbildung, wie auch in der Weiter- und Fortbildung.

Kapitel 11 „Lesson Studies und Learning Studies“ ist das für die 5. Auflage neu verfasste Hauptkapitel.

Im Rahmen von Lesson Studies, die seit über 100 Jahren in Japan etabliert sind und sich besonders im anglophonen Bereich ausgebreitet haben, wählen Gruppen von drei bis sechs Lehrpersonen ein Thema und bereiten gemeinsam eine Forschungsstunde vor. Das schrittweise Vorgehen weist Ähnlichkeiten mit der Aktionsforschung auf, mit Einstiegspunkt ‚Neues Handeln in einer Forschungsstunde ausprobieren‘.

Learning Studies basieren auf der „Variationstheorie des Lehrens und Lernens“: Zugespitzt richtet jede Schülerin, jeder Schüler die Aufmerksamkeit auf ganz verschiedene Aspekte des Lerngegenstands, erlebt und versteht ihn anders (= Variation). „Was die SchülerInnen jedoch tatsächlich gelernt haben, hängt davon ab, was sie während der Unterrichtsstunde erlebt haben, d.h. vom erlebten Lerngegenstand.“ (S. 316). Im Unterschied zu anderen Spielarten der Aktionsforschung fokussiert dieser Ansatz von Vornherein auf vermutete Unterschiede in den Voraussetzungen und Wahrnehmungen der Lernenden sowie weitere Variationen. Die Planung und Durchführung der Forschungsstunde beziehen sich stark auf die verschiedenen vorab vermuteten Dimensionen der Variation und ihre Ausprägungen. Das Vorgehen einer Learning Study wird detailliert und mit Beispielen geschildert.

Ein positiver Einfluss beider Verfahren auf Lernprozesse und -resultate der Schülerinnen und Schüler wird durch einige Begleitforschungen plausibel gemacht. Sie entsprechen überdies den ebenfalls durch Forschung abgesicherten Ansprüchen an eine transferwirksame Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern.

Mit „Ein Blick hinter die Kulissen“ beschließt ein wissenschaftshistorisches, professions- und wissenschaftstheoretisches Kapitel 13 das Buch. Die verschiedenen im Aktionsforschungsansatz der Autoren zugrundeliegenden Theorie- und Forschungsstränge (neben den bereits Genannten u.a. von Jacob L. Moreno und Kurt Lewin) werden skizziert. Sehr klar werden die drei Arten des Zusammenspiels von Wissen und Handeln in der Praxis nach Donald A. Schön als unverzichtbar für Lehrer-Professionalität nachgezeichnet: Im Zentrum steht „Reflexion-in-der Handlung“, mit der komplexe professionelle Situationen zeitökonomisch bearbeitet werden. Diese ist in nicht (mehr)reflektierte Handlung auf der Basis unausgesprochenen „Wissens-in-der-Handlung“ eingebettet. Außerdem muss sie durch nachträgliche „Reflexion-über-die-Handlung“ ergänzt werden, um Wissen mitteilbar zu machen.

Schließlich wird auf die Kritik eingegangen, Aktionsforschung könne nicht als ‚wirkliche‘ Forschung gelten, da es ihr an der nötigen Distanz ebenso fehle wie den Akteuren an Kompetenzen, um gängige Gütekriterien erfüllen zu können. Außerdem führe sie nicht zu allgemeingültigen Aussagen. Solche Differenzen werden einerseits graduell eingeräumt, andererseits wird darauf verwiesen, dass die Praxisforschenden „mit den Fehlern ihrer Reflexion leben müssen und sie … ganz existenziell zu spüren bekommen, während traditionelle ForscherInnen die Möglichkeit haben, sich durch Wechsel ihres … Forschungsthemas diesen Konsequenzen zu entziehen.“ (S. 343).

Diskussion

Dieses Buch behauptet weiterhin souverän seinen Status als das Standardwerk für eine praxisintegrierte Forschung, verantwortet durch Lehrerinnen und Lehrer in ihrem fortwährenden Professionalisierungsprozess. Es zeichnet ein Ideal der forschungsaffinen Lehrprofession. Wer an diesem besonders interessiert ist, sollte zuerst das instruktive Kapitel 13 lesen. Gleichzeitig weisen die Autoren Schritt für Schritt auf, wie sich Interessierte Konzepte und Methoden aneignen können. Mit seinen am Ablauf der Aktionsforschung orientierten Kernkapiteln 3 bis 8 bietet das Werk ein didaktisch durchkomponiertes Selbstlern-Curriculum. Die einzelnen Schritte werden anschaulich, praxisnah und anregend präsentiert und visualisiert. Ein beachtlicher Erfahrungs- und Ideenfundus wird zur Verfügung gestellt: praxisbewährte Methoden, Untersuchungen zu strukturieren, Schwerpunkte zu setzen, nächste Handlungsschritte systematisch zu konkretisieren; kurze veranschaulichende Beispiele aus der Unterrichtspraxis; anregende Übungen; Mustervorschläge usw. – gekennzeichnet als M1 bis M54. Auch die insgesamt 48 Abbildungen, darunter insbesondere die Ablaufdiagramme, unterstützen das Verständnis. Die Texte sind sehr gut lesbar, und dank sinnfälliger Feingliederung schnell erfassbar. Es gibt gleich mehrere anderswo nicht zu findende ‚Perlen‘ in diesem Buch: z.B. „Dilemma-Analyse“, „Muster-Analyse“, „Analyse von Daten“, „Handlungsstrategien“, „Kluge-Ideen-Konzentrations-Analyse“ oder „Fallstudie“.

Das Buch ist ein Meilenstein der Emanzipation von einer exklusiven Forschung, die sich der Objektivität willen von Verwicklungen in die Praxis fern hält. Während letztere in handlungsentlasteten risikoarmen institutionellen Kontexten arbeitet, stehen die aktionsforschenden Lehrerinnen und Lehrer in der täglichen unvorhersehbaren und emergenten Komplexität des Unterrichts.

Schulische Aktionsforschung könnte in ihrem Emanzipationsprozess noch weiter gehen: Sie könnte auf diejenigen bislang noch mitgetragenen Elemente exklusiver Forschung verzichten, die sich als nicht funktional für Zielsetzung und Prozess erweisen. So nennt das Buch prominent „Hypothesen“ (mit sieben einer der häufigsten Indexeinträge), obwohl sie in den Praxisbeispielen kaum eine Rolle spielen. Ebenfalls auf den Prüfstand gehören einige Zeitfresser aus der qualitativen oder quantitativen Forschung, die den Lehrkräften zugemutet werden, obwohl das Buch selbst mehrfach auf das enge Zeitregime hinweist, in denen diese handeln. Wären also Tagebuch, Transkripte und Beobachtung durch Dritte als deutlich nachrangig zu bezeichnen? Mutig wäre weiterhin, als zu bevorzugenden Einstiegspunkt das Ausprobieren einer neuen Handlungsstrategie zwecks Überwinden einer akuten Problemsituation zu empfehlen, statt die beiden Alternativen damit gleichrangig zu setzen: die Analyse der Ausgangslage mit einer erschöpfenden Datensammlung oder das Ableiten von Fragestellungen aus dem Bildungsplan bzw. dem schulischen Leitbild. So käme es vielleicht oft schneller zu Optimierungen, zu gestärkter kollektiver Selbstwirksamkeitsüberzeugung an Schulen, zu situativ passendem optimiertem Lehren, zu mitverantwortlichen da am Forschungsprozess beteiligten Schülerinnen und Schülern, zu einer wertgeschätzten Kultur der Empirie an Schulen. Ohnehin spielt der Zweck Verbesserung in den meisten präsentierten Beispielen die Hauptrolle. Das Erkenntnisziel spielt eine Nebenrolle. Die Autoren könnten sich eventuell dazu durchringen, dies in ihrer Besetzungsliste auszuweisen.

Schließlich wäre zu klären, inwiefern ein Selbststudium dieses hervorragend orientierenden Buches ausreicht, oder ob schulexterne und -internen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie einschlägige Weiterbildungsangebote für eine einflussreiche Aktionsforschung unverzichtbar sind. Welche Kompetenzen für Beratende wären erforderlich, z.B. basierend auf eigenen kritisch reflektierten und womöglich veröffentlichten Aktionsforschungsprojekten? Um solche Fragen zu klären bräuchte es mehr Begleitforschung zur Aktionsforschung von Lehrerinnen und Lehrern – diese natürlich wiederum ‚auf Augenhöhe‘.

Fazit

Das Buch ist weiterhin das Standardwerk zu Aktionsforschung in der Schule, mit Schwerpunkt beim Unterricht. Es präsentiert die theoretischen und methodologischen Grundlagen und es zeigt klar auf, wie ein auf Relevanz geprüftes Aktionsforschungsprojekt geplant und realisiert werden kann. Es sollte auf Papier und/oder elektronisch in der Handbibliothek von all denjenigen verfügbar sein, die den Weg einer empirisch gestützten Weiterentwicklung von Unterricht und Schule einschlagen.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Beywl
Evaluationswissenschaftler, Seniorprofessor, Fachhochschule Nordwestschweiz, Pädagogische Hochschule, Institut Weiterbildung und Beratung. Professur für Bildungsmanagement und Schulentwicklung – wissenschaftlicher Leiter Univation– Institut für Evaluation, Köln.
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ISSN 2190-9245