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Zekirija Sejdini (Hrsg.): Islam in Europa

Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 16.11.2018

Cover Zekirija Sejdini (Hrsg.): Islam in Europa ISBN 978-3-8309-3809-5

Zekirija Sejdini (Hrsg.): Islam in Europa. Begegnungen, Konflikte und Lösungen. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2018. 198 Seiten. ISBN 978-3-8309-3809-5. 29,90 EUR.
Studien zur islamischen Theologie und Religionspädagogik ; Band 3.

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Thema und Aktualität

Der Islam – obwohl es den Islam nicht gibt – wird immer mehr zum Objekt ideologischer Auseinandersetzungen in Deutschland und Europa, wofür Ereignisse wie islamistische Terroranschläge, die medial aufgebauschten Ereignisse der Sylvesternacht in Köln oder rechtspopulistische Publikationen, z.B. die von Thilo Sarrazin, die Erfolge rechtsnationaler Parteien in Europa, in Deutschland der AfD, und ihre islamverachtenden und „fake news“ verbreitenden Wahlparolen beigetragen haben.

Der Islam und auch die Auslegung des Korans stehen gegenwärtig im Fokus politisch-ideologischer, seltener theologischer oder religionswissenschaftlicher Debatten. Seit einigen Jahren ist auch die Rede von bzw. die Forderung nach einem (aufgeklärt-liberalen) „Europäischen Islam“ (Bassam Tibi) oder eben der Verweis auf die Tatsache eines „Islam in Europa“ oder die Existenz von knapp 5 Millionen Moslems in Deutschland Gegenstand von politischen und wissenschaftlichen Diskursen. Nicht zuletzt die Thesen „Der Islam gehört zu Deutschland“ (damaliger Bundespräsident Christian Wulff) und „Wir schaffen das“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel) haben die Debatte angefacht und bis heute am Leben gehalten.

Von daher kommt ein Buch mit dem Titel „Islam in Europa“ gerade zur rechten und noch nicht zu späten Zeit; allerdings suggeriert bereits der Untertitel „Begegnungen, Konflikte und Lösungen“, dass es sich um ein konfliktreiches „Problem“ handelt, das irgendwie „gelöst“ werden muss. Im vorliegenden Reader wird auf der Basis der Beiträge zu einer Ring-Vorlesung des Instituts für Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Innsbruck im WS 2016/ 2017 zum Thema „Islam in Europa – Begegnungen, Konflikte und Lösungen“ ein „akademischer Islamdiskurs im europäischen Kontext“ angeregt, um einen Beitrag zu leisten, das „friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft“ mittels „akademisch fundiertem Wissen“ und „aus unterschiedlichen Perspektiven“ zu fördern (Vorwort, S. 7).

Herausgeber

Der Herausgeber Zekirija Sejdini ist Universitätsprofessor für Islamische Religionspädagogik an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und Mitherausgeber zweier Buchreihen zur Islamischen Theologie und Interreligiösen Religionspädagogik.

Autor*innen

Die weiteren acht Beiträger sind zumeist namhafte Theologen oder Religionswissenschaftler, wobei mit Blick auf die Gender- und Migrations-Perspektive (Thema „Intersektionalität“) nicht unerwähnt bleiben sollte, dass sich darunter auch drei Frauen und drei Autoren mit „Migrationshintergrund bzw. -erfahrung“ befinden.

Einführung und Aufbau

Der Herausgeber gibt in seiner „Einführung“ (S. 11-15) zunächst einen Ein- und Überblick über die Thematik, betont die (zumeist medial und ideologisch befeuerte) „Angst“ vieler Einheimischen vor Überfremdung, vor Identitätsgefährdung durch „fremde Kulturen“, durch Zuwanderung „fremder“ Menschen, sowie allgemein durch den „Islam als eine äußerst fremde und zum Teil vom Wesen her mit den ‚europäischen Grundwerten‘ inkompatible Religion“ (S. 11). Diese Fremdzuschreibungen sind zwar „wissenschaftlich nicht haltbar“ und ein „Hindernis für die Integration“ und ein „respektvolles Miteinander“, sie bestimmen aber den öffentlich-medialen und teilweise auch politischen Islam-Diskurs in Europa und Deutschland (vgl. AfD). Seit der „Zuwanderungswelle“ 2015/ 2016 hat diese Debatte an Schärfe gewonnen und es scheint dem Autor wichtig, die „Komplexität der Problematik“ wahrzunehmen und zu reflektieren und „zur Versachlichung des Islamdiskurses beizutragen“ (S. 12). Im Umschlagtext wird dieses Anliegen des Herausgebers durch den Hinweis verstärkt: „Dadurch möchte dieser Band dazu beitragen, dem Fremden und Anderen nicht mit Angst, sondern mit Offenheit und Neugierde zu begegnen und Veränderungen im eigenen und tradierten Denken zuzulassen“.

Sodann folgen neun Kapiteln:

  • zuerst von Zekirija Seidini selbst über „Herausforderungen für die Islamische Religionspädagogik im europäischen Kontext“ (S. 17-32), und dann werden zentrale Themen- und Problemfelder des Islam-Diskurses in Europa dargestellt und diskutiert:
  • „Was ist der Islam – und wenn ja, wie viele?“ von Bacem Dziri;
  • der bekannte Migrations- und Bildungsforscher Erol Yildiz reflektiert über „Vom methodologischen Orientalismus zur muslimischen Alltagspraxis“;
  • Halima Krausen berichtet über die Gender-Perspektive zu „Islam und Geschlechtergerechtigkeit“,
  • Rüdiger Lohlker diskutiert das mediale Alltagsthema „Islam und Gewalt, Gewalt und Islam“;
  • Wolfram Reiss befasst sich mit dem „Umgang mit religiösen Minderheiten in der islamischen Welt“;
  • Mirjam Schambeck blickt auf „Interreligiöse Kompetenz in praktischer Absicht“ und
  • Martina Kraml widmet ihre Überlegungen der „Religionspädagogik im Kontext der Rede von ‚transreligiös‘, ‚transversal‘ und ‚interreligiös‘. Eine möglichkeitsbewusste Erkundung“.

Ein Autorinnen- und Autoren-Verzeichnis schließt den Band ab und informiert über Status, Arbeits-, Forschungs- und Publikationsschwerpunkte (zumeist Islamwissenschaft und Religionspädagogik) sowie die unterschiedlichen Herkunftsuniversitäten (Innsbruck, Wien, München, Osnabrück, Hamburg, Freiburg).

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalte

Der Grundsatzbeitrag des Herausgebers ist überschrieben mit dem Sprichwort „Wer das eigene Ufer nie verlässt, wird Neues nicht entdecken“ und hat die „Herausforderungen für die Islamische Religionspädagogik im europäischen Kontext“ zum Inhalt (S. 15-32). Sejdini betont eingangs die „besondere Affinität des Islam zur Bildung“ (S. 17), die jedoch seit dem 13. Jahrhundert nachgelassen hat, sodass man von einer „allgemeinen Stagnation in der ‚muslimischen Welt‘“ reden könnte, was auch zum Verlust der ehemaligen „Vorreiterrolle in Wissenschaft, Bildung, Kunst und Kultur“ führte. Es geht dem Autor darum, theologisch-islamische Traditionen mit einem neuen europäischen Kontext innerhalb der säkularen Universität und Wissenschaft zu vermitteln – mit dem Ziel, „innovative Ansätze hervorzubringen“ und einen „akademischen Diskurs“ anzuleiten.

Nach Sejdini liegen zwei gegensätzliche „Theorien religiöser Bildung“ bzw. „Zugänge zur Religionspädagogik“ im akademischen Streit: Ein religionswissenschaftlicher und stark sozialwissenschaftlich-empirischer Zugang mit einem „Modell religiösen Lernens“, das die Ebenen Lernen „in religion“ (Innenperspektive), „from religion“ und „about religion“ (Außenperspektiven) unterscheidet; Bezugswissenschaft ist hier die Religionswissenschaft und nicht die Theologie. Allerdings hat sich in Österreich und Deutschland die zweite Form, die „konfessionell geprägte Form“ mit der Bezugswissenschaft Theologie durchgesetzt. Fazit ist: „Die entstehenden Spannungen hängen mit der Gebundenheit der konfessionell verstandenen Religionspädagogik an Glaubensgemeinschaften zusammen, welche häufig dazu tendieren, nur die eigene Perspektive zu berücksichtigen“ (S. 22).

Das zweite Problem besteht in der Tatsache, dass es den Islam nicht gibt, sondern nur unterschiedliche Auffassungen mit vielfältigen Interpretationen des „Islam“, der Auslegung und Relevanz des Korans, von religiöser Bildung und Erziehung oder Religionspädagogik. Aber: Das gegenwärtig dominierende Paradigma im Islam „widerspricht einem aufgeklärten, an Freiheit und Menschenwürde ausgerichtetem Verständnis von Religionspädagogik in wesentlichen Bereichen“ (S. 24). Diese Analyse des Ist-Zustandes bedeutet, dass ein Paradigmenwechsel vonnöten ist, der den aktuellen Kontext der europäischen Muslime reflektiert und berücksichtigt. Mit Bezug zu Kant und Watzlawik meint Sejdini, dass in zwei Bereichen Innovationen notwendig seien: In der Epistemologie und im Traditionsverständnis der Islamischen Religionspädagogik. Problem ist: Konstruktivistische oder relativierende Auffassungen haben bisher in die islamische Religionspädagogik kaum Einzug gehalten. Der Kontext einer pluralen demokratischen Gesellschaft, der Kontext Europa, bedarf daher einer eigenständigen wissenschaftlich fundierten islamischen Religionspädagogik, um nicht „die Asche von Generation zu Generation weiterzugeben, sondern das Feuer“ (S. 31).

Im Weiteren fasse ich mich kürzer. Der Beitrag von Bacem Dziri „Was ist der Islam – und wenn ja, wie viele?“ macht deutlich, dass es „den Islam nicht gibt“, dass „mehrere ‚Islame‘ generiert“ werden, dass Religionen allgemein ambivalent gesehen werden können: „reformiert oder rückständig, patriarchalisch oder emanzipatorisch, demokratiefeindlich oder -kompatibel, friedlich oder gewalttätig etc. Kurz: Religion ist damit entweder ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ bzw. ‚wahr‘ oder ‚falsch‘. Übertragen auf ‚den Islam‘ lässt sich dieser fortan in einen ‚reformierten Islam‘, einen ‚rückwärtsgewandten Islam‘, einen ‚patriarchalischen Islam‘ usw. ausdifferenzieren“ (S. 33). Problem, dabei ist: Islam bedeutet realiter Vielfalt, aber im Arabischen kann grammatikalisch kein Plural gesetzt werden und „Islam wird als ‚Kollektivsubjekt‘“ begriffen. Am Beispiel von „Islam und Gewalt“ diskutiert der Autor dann dieses komplizierte Verhältnis im Islamdiskurs, was auch die Relation von Tradition und Reform bzw. von einem ‚moderaten‘ und einem ‚radikalen‘ Islam betrifft. Nach dem 11. September 2001 hat sich ein sog. „Islamic Turn“ vollzogen, der die Diskussion weiter zuspitzte. Ein solcher die Wirklichkeit reduzierender Dualismus bestimmt seitdem als „binäre Wirklogik“ die Debatte, die Postulate und die Kritik an einem real vielfältigen Islam.

Erol Yildiz versucht in seinem Beitrag, den herrschenden Islamdiskurs in Öffentlichkeit und Medien, aber auch in der Wissenschaft, der durch Dualismen (Wir und die Anderen), Polarisierungen (Westen – Orient), binäre Konstrukte (modern – traditionell) und negative Pauschalisierungen, vor allem durch eine „Reduktion von Komplexität“ (dieses Konzept erwähnt er nicht!) charakterisiert ist, erkenntnistheoretisch zu hinterfragen. Er kritisiert das „eurozentrische Weltbild“ und „orientalistische Deutungen“, das dominierende Denkkonzept als „methodologischen Orientalismus“, der – bewusst oder unbewusst – westliche Maßstäbe zur Norm erklärt. „Diese Geisteshaltung schuf die Koordinaten der gesellschaftlichen Wahrnehmung und erzeugt reale soziale Konsequenzen“ (S. 64). Vor allem die Differenzlinie „Kultur und Religion“ hat spätestens nach dem 11. September 2001 einen „Islam-Mythos“ mit negativen Assoziationen entstehen lassen (fremd, vormodern, anders, gewalttätig, usw.). Yildiz referiert mehrere aktuelle Studien, um diese Erkenntnisse zu belegen, die sich aber m.E. nahezu ohne Ausnahme aus allgemeinen Erkenntnissen der Sozialpsychologie ableiten lassen: Notwendigkeit eines intersectionality approach statt dualistisches Denken; Neigung der Menschen, Komplexität und Vielfalt zu reduzieren; gesellschaftliche Individualisierung statt Kollektivierung; Folgen sozialer Wahrnehmung usw., und um zuletzt die „Relevanz einer kontrapunktisch non-dualistischen Perspektive“ mit einem Fokus auf Ambivalenzen, Überschneidungen, Hybriditäten und Übergänge etc. im Migrations- und Islam-Diskurs zu postulieren und um die Bedeutung einer „Revision der konventionellen Migrations-, Integrations- und Islamforschung“ anzuregen. Kurzum: „Ich bin Moslem, ja – aber ich bin auch vieles mehr“ (Navid Kermani, hier S. 71). Vor allem Mensch, möchte ich ergänzen.

Im nächsten Kapitel greift Halima Krausen die alltagsrelevante und wie das Gewaltthema kontrovers diskutierte Thematik „Geschlechterrollen im Islam“ auf und bezieht das Thema auf die Tradition von „Frauen- und Menschenbildern“, die in der Regel unkritisch und unreflektiert weitergegeben werden und nicht unbedingt durch den Koran – und je nach Interpretation unterschiedlich – vorgegeben sind.

Danach geht es im Beitrag von Jürgen Wasim Fremdgen um die „Spiritualität im Islam: Die Sufi-Tradition“ (S. 93ff). Er klärt zuerst, was unter „Sufismus“ bzw. „islamischer Mystik“ zu verstehen ist und welche Konsequenzen dies für die Interpretation des Korans hat. Ferner befasst er sich mit „Sufi-Poesie“ und dem „Meister-Schüler-Verhältnis“ im Sufi-Orden, mit der „spirituellen Praxis der Sufis“ sowie „sakralen Orten“ und der „Sufi-Kunst“. Die Herangehensweise der Sufi an eine Koraninterpretation unterscheidet sich seiner Meinung nach sowohl von den klassischen orthodoxen hermeneutischen Ansätzen als auch von fundamentalistischen. Gegenwärtig haben sich in Europa (und den USA) transnationale „neue Formen mystischer Gemeinschaften entwickelt“, die per Internet vernetzt und an „großen Meistern“ orientiert sind.

Im nächsten Artikel von Rüdiger Lohlker geht es wieder um das Thema, um welches sich der aktuelle Islam-Diskurs immer mehr dreht: „Islam und Gewalt, Gewalt im Islam?“. Der Autor intendiert eine „kritische reflektierte Perspektive auf ein Denken, das die Anwendung von Gewalt privilegiert und erlaubt“ (z.B. von „IS, al Qa’ida & Co“) (S. 111). Entscheidend ist, dass der Islam nicht ‚ist‘, sondern (gemacht) ‚wird‘, dass „islamisch definierte Gewalt“ konstruiert wird und dass die relevanten Stellen im Koran semantisch nicht eindeutig und im historischen Kontext zu sehen sind (Begriff „Kampf“, „militärischer Kampf“ und „Kampf mit der Triebseele“ bzw. „Kampf um Vervollkommnung“ und „Vielfältigkeit der Bedeutung vormoderner Aussagen“). Fazit an Hand der Diskussion eines mittelalterlichen Koran-Kommentars bei Lohlker ist: „Die auf den Koran gerichtete Suchbewegung verweist uns auf Vieldeutigkeiten der Interpretation, die einem simplen modernen Geist nicht zugänglich sind … Die Vieldeutigkeit der älteren Begriffe wird dem Druck der modernen Homogenität unterworfen, die die erkenntnistheoretische Grundlage modernen fundamentalistischen Denkens ist“ (S. 124f).

Wolfram Reiss befasst sich in seinen Überlegungen mit dem „Umgang mit religiösen Minderheiten in der islamischen Welt“ (S. 127ff) und gibt einen Ein- und Überblick über den Zugang und das regional unterschiedliche Verhältnis des Islam zu anderen Religionen wie Judentum, Christentum, Buddhismus, Hinduismus und Atheisten. Dabei kann er sowohl auf akzeptable wie auf verwerfbare Praktiken verweisen, denn, wie gesagt: „Den Islam gibt es nicht“ und Islam verweist etymologisch auf „Frieden“, „ Sicherheit“ und „Unversehrtheit“ (S. 129). Allerdings, so Reiss, gibt es für den traditionellen Islam „keine Bündnisfähigkeit mit Polytheisten oder Atheisten“. Wie schnell jemand als „Ungläubiger“ oder „Teufelsanbeter“ (wie z.B. die Jesiden) bezeichnet werden kann, hat die jüngste Geschichte bzw. das Vorgehen des IS gezeigt – oder mit Blick auf unsere europäisch-christliche Geschichte die Diffamierung als „Hexe“, was einem Todesurteil gleich kam.

„Die beiden letzten Beiträge von Mirjam Schambeck sf und Martina Kraml gehen aus einer katholischen Perspektive auf die Thematik des Buches ein“ (Einführung, S. 14) und sollen an dieser Stelle nur erwähnt werden, da es, aufgezeigt an einem konkreten Beispiel, um die Theorie und Praxis der „Möglichkeiten zur Bildung und Förderung interreligiöser Kompetenz“ (Schambeck) und Ansätze zu einer „pluralitäts- und kontingenzbewussten (transreligiösen bzw. transversal orientierten) Religionspädagogik“ (Kraml) geht.

Diskussion

Nachdenkenswert und diskussionswürdig finde ich den Hinweis bei Erol Yildiz, dass die Konstruktion eines „Islam in Europa“ (so der Buchtitel!) bzw. eines „Euro-Islam“ wiederum zu dualistisch-binären Deutungen, Denkweisen und Konstruktionen wie „Europa und Orient“, „Wir und die Anderen“, „Moderne und Tradition“, der gute und der böse bzw. der friedliche und der gewalttätige Islam führen wird und zu wenig der Frage nachgegangen wird, wie wir in Europa unser wissenschaftlich und traditionell geprägten dualistisches Denken überwinden und realitätsadäquater gestalten können.

Nicht zuletzt haben die sozialwissenschaftlichen Paradigmen des (Sozial-)Konstruktivismus, der „intersectionality approach“ oder klassische Erkenntnisse der Sozialpsychologie über (soziale und selektive) Wahrnehmung, self-fulfilling-prophecy, Gruppen- und Identitätsbildungen oder der Luhmannschen Systemtheorie (Reduktion von Komplexität) die Grundlagen für ein selbst-kritisch-reflexives Denken in Differenzen und in Vielfalt gelegt.

Ein solch zusammenfassender grundlagentheoretischer Beitrag in abstrakter Hinsicht hätte m.E. dem Band gut getan – auch um aufzuzeigen, dass die Sozialwissenschaften über derlei allgemeines und kritisches Wissen verfügen, welches die Verortung neuer, aktueller Themen wie „Islam in Europa“ erlaubt. Mir persönlich fehlte ein Beitrag, wie sich Religionen wie der Islam oder das Christentum und damit auch Religionspädagogiken gegenüber der historischen Realität und dem aktuellen Vorwurf der Instrumentalisierung durch Politik (erfolgreich) wehren können – und warum dies bisher so selten der Fall ist. Wie geht der „Islam in Europa“ und die aktuelle islamische Religionspädagogik mit dem Phänomen und der Versuchung der Macht um?

In letzter Instanz geht es bei allen Beiträgen um das Hauptkriterium des aktuellen Diskurses um Migration, Integration, Islam, Einwanderungsgesellschaft etc., nämlich: Differenz und Diversität, Pluralität und Individualität, Einzigartigkeit und Vielfalt – oder wie man dies sonst noch bezeichnen kann – oder eben um Argumente gegen ein dualistisches, binäres und pauschalisierenden Denken und Handeln, das Konstruieren der Wirklichkeit in zwei Seiten: gut und böse, Wahrheit und Lüge, richtig und falsch, „das Eigene und das Fremde“, „Wir und die Anderen“ (so z.B. frühere Buchtitel im Themenkontext), kurz: um die Reduktion von Komplexität und die Abwertung des Anderen mit dem Ziel der Exklusion als ideologisch-politisch-religiöse Geheimwaffe im Gegenwartsdiskurs um ‚den‘ Islam, z.B. bei der AfD.

Ärgerlich finde ich immer wieder, wenn der Umfang der Fußnoten den des Textes übertrifft (so z.B. vor allem bei Bacem Dziri) und wenn überhaupt übertrieben mit Fußnoten als Nachweis der „Belesenheit“ des Autors gearbeitet wird. Ich habe meinen Studierenden immer als Leitlinie vorgegeben: „Was wichtig ist, gehört in den Text; was unwichtig ist – streichen“! Gewünscht hätte ich mir auch mehr Informationen über die Autor*innen (Elternhaus, Sozialisation, Konfession, Studium etc.) und nicht nur über den Ist-Zustand ihrer Lehre und Forschung – gerade bei dem Thema!

Fazit

Die islamische Religionspädagogik, wie sie in diesem Band präsentiert wird, ermöglicht eine konstruktive, sachlich-kritische Auseinandersetzung mit dem Thema (nicht Problem!) „Islam in Europa“ und „Was ist der Islam?“. Die aktuellen Reizthemen wie „Islam und Gewalt“, „Geschlechterrollen im Islam“ und „religiöse Minderheiten im Islam“ werden ebenso umfassend, mehrperspektivisch und kritisch-reflektierend dargestellt und diskutiert wie die Sonderthemen „Mystik/ Sufismus“ oder „interreligiöse Kompetenz“, sodass sowohl an Theorie (der Islamwissenschaften und der Religionspädagogik) als auch an Praxis (Beispiele interreligiöser Kompetenz und kontingenzbewusster Religionspädagogik) Interessierte sich ihre Beiträge heraussuchen können. Am besten ist jedoch, man nimmt sich Zeit, um all die verschiedenen, unterschiedlich fokussierten, also diversen und differenzierten (vielfältig und mehrperspektivisch orientierten) Beiträge – und dann auch den Koran – zu lesen.

Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
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Es gibt 85 Rezensionen von Hartmut M. Griese.

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Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 16.11.2018 zu: Zekirija Sejdini (Hrsg.): Islam in Europa. Begegnungen, Konflikte und Lösungen. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2018. ISBN 978-3-8309-3809-5. Studien zur islamischen Theologie und Religionspädagogik ; Band 3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24669.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.


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