Verena Gritsch: Asperger-Autismus und Mentales Training
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 29.10.2018
Verena Gritsch: Asperger-Autismus und Mentales Training. Eine Herausforderung für Klient und Trainer. Pro Business (Berlin) 2018. 75 Seiten. ISBN 978-3-86460-867-4. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Thema
Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, aber was bedeutet das konkret? In diesem Buch möchte der Versuch unternommen werden, genauer zu erläutern, was sich in der Entwicklung tiefgreifend gestört entwickelt hat, um diese Diagnose zu stellen. Infrage gestellt wird, ob die Bezeichnung „Störung“ gerechtfertigt ist. Ziel ist zudem, Ärzt*innen, Therapeut*innen und Eltern, Wege aufzuzeigen, um mit Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben und eine besondere Wahrnehmung besitzen, offen und tolerant umzugehen.
Autorin
Dipl. Ing. Verena Gritsch ist Mediatorin, Kinesiologin und Mentaltrainerin. Sie schreibt als Fachperson und als Mutter eines autistischen Sohnes mit ADS und hat sich intensiv mit dem Thema Autismus Spektrum auseinander gesetzt. Die Autorin sieht Asperger-Autismus weniger als Handicap, sondern als eine besondere Form der Wahrnehmung, die es sich lohnt, genauer zu betrachten.
Aufbau
Das Buch ist im DIN A 5 Softcoverformat entstanden und hat einen Umfang von 75 Seiten, die sich in vier Kapitel aufgliedern. Als Layout wurde ein großer Zeilenabstand gewählt, zudem finden sich im Fließtext zahlreiche Absätze und Zwischenüberschriften.
- Einleitung
- Asperger Autismus und Mentales Training. Eine Herausforderung für Klient und Trainer
- Resümee
- Literaturverzeichnis
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Den Kern des Buches bildet das zweite Kapitel, das den gleichen Titel, wie das Buch trägt: „Asperger Autismus und Mentales Training. Eine Herausforderung für Klient und Trainer“.
Die Bezeichnung Asperger Autismus geht auf den österreichischen Kinderarzt Hans Asperger zurück, zeitgleich publizierte Leo Kanner in den USA zu diesem Personenkreis. Die Autorin führt aus, dass dem Asperger Autismus fälschlicherweise von außen betrachtet zugeschrieben wird, dass es sich dabei um eine mildere Form des Autismus handeln würde, diese Zuschreibung ist aber nicht zutreffend. Kriterien der Diagnose werden genannt, diese werden durch eine Perspektive auf die „überaus“ genaue Wahrnehmung, Gedächtnisleistung und Selbstbeobachtungsfähigkeit ihre Sohnes ergänzt, der mit 4 Jahren lesen konnte und sich autodidaktisch englisch in „Wort und Schrift“ beigebracht (S. 11) hat.
Nach einer kurzen Übersicht über die Diagnostik und die Ausprägung des Asperger Autismus im Alltag wird die Frage nach den Entstehungshintergründen angerissen. Zitiert wird Simon Baron-Cohen, der das „Empathising System versus Systemising System“ (S. 18) erforscht hat. Gemeint sind zwei Systeme, mit denen Menschen Dinge oder Vorgänge interpretieren. Bei diesem Ansatz werden sowohl anatomische, als auch neurophysiologische und genetische Erklärungsansätze miteinander verbunden. Nach Baron-Cohen neigen autistische Menschen zur „Hypersystematisierung“ (S. 19), er erklärt damit das Auftreten von immer wiederkehrenden Handlungen oder die Rigidität im Denken und Handeln sowie das ausgeprägte Wissen bei Spezialinteressen.
Ein weiterer Erklärungsansatz findet sich in einer möglichen Fehlfunktion eines Areals des Gehirns, der Amygdala, auch genannt Mandelkern. Sie ist ein Teil des limbischen Systems und für die Emotionen zuständig. Die Autorin weist auf Studien hin, die belegen, dass Personen aus dem autistischen Spektrum eine signifikant weniger aktive Amygdala aufweisen als nicht autistische, sog. neurotypische Menschen, wenn es darum geht, Aufgaben zum geistigen Zustand einer fremden Person zu lösen. Ein weiterer kurz angerissener Ansatz beleuchtet die Spiegelneuronen, die die Basis für Sprache, Kultur und emotionale Empathie bilden.
Es folgen Ausführungen zur Sinneswahrnehmung, in dem die Systeme der Wahrnehmung beschrieben und die besondere Ausprägungen erläutert werden: visuell, auditiv, kinästhetisch, olfaktorisch und gustatorisch. Diese besondere Ausprägung ist ein Grund für die nicht seltene Überforderung von Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben z.B. lässt sich bei manchen eine Synästhesie benennen, das bedeutet, dass sich Sinne vermischen. Farben werden mit Zahlen verbunden oder Wörter können gerochen werden.
Deutlich wird, dass Menschen mit Autismus zahlreichen Sinneseindrücken ausgesetzt sind, was durch eine Filterschwäche verschärft wird. So ist es verständlich, dass es zu Überforderungssituationen kommen kann. Unterscheiden lassen sich der sog. „Overload“, „Meltdown“ sowie der „Shutdown“. Beim Overload handelt es sich um eine absolute Reizüberflutung, die durch Rigidität und Routinen beruhigt werden kann. Eine weitere Stressstufe ist der Meltdown, der sich in völligen Ausrastern mit Auto- und Fremdaggressionen oder in ein „In sich zurückziehen“ ausdrücken kann. Eine absolute Eskalation stellt der Shutdown dar. Betroffene verlieren die Kontrolle – nichts geht mehr.
Ein zentrales Ziel der Begleitung von Menschen aus dem autistischen Spektrum sollte sein, Möglichkeiten des Rückzugs zu gestalten, damit diese Erfahrungen minimiert werden. Der 4-jährige Sohn der Autorin fand eine Scheinwelt als Ausweg. Er zog sich in „sein Büro“ zurück, wenn es ihm zu viel wurde. Als weitere Herausforderung werden Probleme mit der Deutung von Gesichtsausdrücken, dem Verstehen von Sprache oder die Schwierigkeiten mit Konflikten umzugehen genannt.
Wer nun erwartet, dass die Autorin sich dem zweiten Teil des Buchtitels widmet, also praxiserprobte Methoden des mentalen Trainings erläutert, wird enttäuscht. Die Autorin schreibt in Großbuchstaben, dass sie keine Vorschläge bringt, welche Techniken anzuwenden sind und beruft sich auf die Einzigartigkeit und Verschiedenheit des Klientels. Nach dieser klaren Absage behandelt sie dann doch drei Stichworte: Gestaltung des Settings, Faktor Zeit und Faktor Sprache und Schrift (S. 63-69).
Diskussion
Die Autorin gibt einen knappen Überblick zum Erscheinungsbild Autismusspektrum. Kurz werden mögliche Erklärungsansätze angerissen, sodass die Leserschaft eine Idee davon bekommt, wo die Schwierigkeiten auf Seiten der Menschen mit Autismus und auch auf Seiten der sog. Neurotypischen liegen könnten. Kurz angerissen wird, wie Sinneskanäle funktionieren und welche Informationen sie aufnehmen.
Durch die Störung in der Reizfilterung kann es zu Überforderungssituationen kommen, unterschieden werden der sog. „Overload“, „Meltdown“ sowie der „Shutdown“. Beim Overload handelt es sich um eine absolute Reizüberflutung, die durch Rigidität und Routinen beruhigt werden kann. Eine weitere Stressstufe ist der Meltdown, der sich in völligen Ausrastern mit Auto- und Fremdaggressionen oder in ein „In sich zurückziehen“ ausdrücken kann. Eine absolute Eskalation stellt der Shutdown dar. Betroffene verlieren die Kontrolle – nichts geht mehr.
Ich stimme der Autorin zu: In der Arbeit mit diesem Personenkreis bedarf es der Rücksicht auf die differenzierte Wahrnehmung und deren Folgen. Zentraler Fokus sollte eine Stärkenperspektive sein, das nicht autistische Umfeld, die sog. Neurotypischen können viel lernen, wenn sie sich auf die Wahrnehmung einlassen und erkennen, welches Potenzial darin steckt, statt die Person in ein „NT-Schema“ stecken zu wollen (S. 61). Spätestens an dieser Stelle im Buch hätte ich das Aufzeigen von Möglichkeiten des mentalen Trainings erwartet, diese Erwartung wird enttäuscht. Die Autorin bleibt an der Oberfläche, auch zum Ende des Buches geht sie nicht auf entsprechende Methoden ein, wie es der Buchtitel vermuten ließ. Sie schreibt in Großbuchstaben, dass sie keine Vorschläge bringt, welche Techniken anzuwenden sind und beruft sich auf die Einzigartigkeit und Verschiedenheit der Klientel. Nach dieser klaren Aussage zählt sie dann doch – allerdings sehr knapp und komprimiert drei „Beispiele“ auf: Gestaltung des Settings, Faktor Zeit und Faktor Sprache und Schrift (S. 63-69). Diese reichen aber nicht aus. Hilfreich wären entweder ausführlichere Erklärungen zum methodischen Ansatz, einige Beispiele aus der Praxis ihrer Arbeit als Kinesiologin und Mentaltrainerin oder die Beschreibungen aus dem Alltagserleben ihres Sohnes gewesen, um den Erwartungen, die sich aus dem Titel „Asperger-Autismus und Mentales Training“ ableiten, zu erfüllen.
Fazit
Der Titel des Buches „Asperger-Autismus und Mentales Training. Eine Herausforderung für Klient und Trainer.“ hält nicht, was er verspricht. Es werden Themen benannt, teilweise angerissen, aber nicht vertieft z.B. was sich in der Entwicklung tiefgreifend gestört entwickelt hat, um die Diagnose Autismus Spektrum Störung zu stellen. Das auf dem Klappentext genannte Ziel, Ärzt*innen, Therapeut*innen und Eltern, Wege aufzuzeigen, um mit Menschen aus dem autistischen Spektrum zu arbeiten, wurde nicht erreicht. Eingestreut in den Fließtext finden sich lediglich punktuell Erkenntnisse von Expert*innen oder Anekdoten aus dem Erleben mit dem eigenen Sohn, aber leider fehlt es an der nötigen Tiefe und vor allem fehlt der Transfer in die praktische Arbeit des mentalen Trainings, wie es der Titel erwarten ließ.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 29.10.2018 zu:
Verena Gritsch: Asperger-Autismus und Mentales Training. Eine Herausforderung für Klient und Trainer. Pro Business
(Berlin) 2018.
ISBN 978-3-86460-867-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24673.php, Datum des Zugriffs 08.12.2024.
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