Christopher Young: Narrative im Justizvollzug
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger, 10.01.2020

Christopher Young: Narrative im Justizvollzug. Identitäten von Mitarbeitenden, medialer Diskurs und historischer Kontext. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2018. 400 Seiten. ISBN 978-3-03777-191-4. D: 38,00 EUR, A: 38,00 EUR, CH: 42,00 sFr.
Thema
Das rezensierte Werk ist in der Reihe «Differenzen», die von Monica Budowski und Michael Nollert von der Universität Freiburg, deutschsprachiger Lehrstuhl des Studienbereichs Soziologie, Sozialpolitik, Sozialarbeit herausgegeben wird, erschienen.
Gemäss Autor soll die Arbeit «eine Sicht auf die heutige Strafvollzugspraxis in der Schweiz bieten, die auf die Identitätskonstruktion von Mitarbeitern fokussiert ist, ethnographisch abgestützt ist und die lokale Sicht um historische sowie mediale Perspektiven erweitert» (S. 14). Die Arbeit ist inspiriert von der Punishment and society-Debatte, lehnt sich an soziologische Theorien an, die davon ausgehen, dass Strafe eine soziale Funktion hat und mit den Strafe konstituierenden Strukturen und Prozessen der Gesellschaft eng verwoben ist (S. 16–22). Vor diesem Hintergrund positioniert sich die Studie als qualitative und interpretative Untersuchung, die die kultursoziologische Perspektive auf Strafe mit einer ethnographisch gestützten Rekonstruktion der narrativen Identitäten (Berufsidentitäten) des Strafvollzugspersonals verbindet und dabei die Verbindungslinien zwischen makro- und mikrosoziologischer Ebene ausleuchtet. Die konkreten Forschungsfragen lassen sich auf drei Untersuchungsfelder der Arbeit herunterbrechen: einer Diskussion der historischen Entwicklung des Strafvollzugs, dem medialen Kontext der Strafvollzugspraxis sowie einer Identitätskonstruktion von Mitarbeitenden in ihrem Alltag im geschlossenen Strafvollzug.
Autor
Das rezensierte Werk ist die Dissertation des Autors, Christopher Young, welche er im Jahr 2015 an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (CH) eingereicht hatte. Der Autor ist heute an der Eig. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL tätig und beschäftigt sich mit sozialwissenschaftlicher Landschaftsforschung.
Aufbau und Inhalt
Die insgesamt 375 Seiten umfassende Dissertation ist in elf Kapitel unterteilt, die sich gemäss Autor in vier grosse Teile gliedern lassen. Die Kapitel 1–3 umfassen Einleitung, Ziel, Theorie und Methode, in den Kapiteln 4–5 werden die historischen Perspektiven beschrieben, in Kapitel 6 wird am Beispiel eines Medienereignisses rund um den Fall eines geflüchteten Verwahrten verschiedene Formationen von Narrativen rekonstruiert. Schliesslich wird in den Kapiteln 7–10 ein Blick auf die Alltagspraxis der Anstalt geworfen und Narrative der Mitarbeitenden rekonstruiert. Anschliessend wird in wird in Kapitel 11 ein Fazit der gesamten Untersuchung gezogen.
Der in Kapitel zwei entworfene Analyserahmen soll die später durchgeführte Analyse von kulturellen und ontologischen Narrativen anleiten. Ontologische Narrative beschreibt Young als diejenigen Narrative, «durch die sich soziale Akteure in ihrem Leben positionieren, mit denen sie eine soziale Identität für sich konstruieren und sich für sich selbstverständlich machen» (S. 82) Ontologische Narrative werden durch kulturelle Narrative angeeignet. Zu den kulturellen Narrativen zählen verschiedene Ebenen sozialer Organisation oder Verortung, wie Interdiskurse (in Form von medialen Narrativen), Spezialdiskurse (in Form von juristischen Narrativen), Organisationsdiskurse (in Form von Anstaltsnarrativen) und Elementardiskurse (in Form von familialen Narrativen). Bedeutend für seine Analyse ist die Frage, welche kulturellen Narrative zitiert werden.
In Kapitel drei beschreibt der Autor das empirische Material der vorliegenden Untersuchung, das mit verschiedenen Methoden gesammelt wurde. Zu nennen sind die Stichprobe von Zeitungsartikeln, die Stichprobe von Onlinekommentaren, die teilnehmende Beobachtung in der Anstalt Thorberg, eine geschlossene Justizvollzugsanstalt für Männer im Kanton Bern, mit einer Dauer von insgesamt 26 Tagen über 130 Stunden, die teilstrukturierten narrativen Interviews mit 23 Mitarbeitenden. Für die qualitativen Interviews wurden Mitarbeitende aus drei Bereichen der Anstalt einbezogen: aus dem Normalvollzug, dem Sicherheitsdienst, der Therapieabteilung bzw. aus Arbeitsateliers. Im Weiteren erläutert Young, wie aus dem Material narrative Formationen rekonstruiert wurden, die mehr oder weniger als vollständiges Narrativ betrachtet werden können (S. 95–98). Am Ende des Kapitels werden Einschränkungen diskutiert, die das narrationstheoretische, diskursanalytische und ethnographische Vorgehen mit sich brachte. Young fokussiert hierbei auf drei Punkte: dass die Rekonstruktion der Anstaltsnarrative, besonders der Identitätsnarrative, hauptsächlich auf Interviewmaterial basiert; dass die Praxis des Erzählens in der Anstalt wenig untersucht wurde; dass unklar ist, ob die narrative Identitätsrekonstruktion das Handeln der Mitarbeitenden tatsächlich strukturiert. Schliesslich werden das ethnographische Feld, der Thorberg, sowie die sozioökonomischen Merkmale der Mitarbeitenden beschrieben.
Im vierten Kapitel wird das Strafvollzugsfeld aus historischer Perspektive betrachtet. Young resümiert, dass das «autoritäre, punitive Narrativ des 19. Jahrhunderts, das Resozialisierung, Disziplinierung und Vergeltung verknüpft» ab den 1970er Jahren durch ein «therapie-optimistisches, inkludierendes Narrativ und eine zunehmende juristische Durchsetzung der EMRK» zurückgedrängt wurde (S. 152). Der Autor hält ebenso fest, dass mit der Verwahrungsinitiative und den Revisionsvorschlägen des Strafgesetzbuches nach 2007 eine Rückkehr zum autoritären Narrativ des 19. Jh. zu beobachten ist. Konkurrierende und komplementäre Narrative werden sich, so Young, noch deutlicher im nächsten Kapitel zeigen, in dem das Strafvollzugsfeld – die Institutionen, der Anstaltsalltag, die Gefangenen und Mitarbeitenden, die Praktiken und Narrativen, die den Vollzug formen, unter die Lupe genommen werden.
Das fünfte Kapitel zusammenfassend hält der Autor fest, dass sich Narrative des Strafens über die Zeit verändern, neue Narrative die alten aber nicht vollständig ersetzen, sondern diese an die Ränder drängen, überlagern oder dominieren. Es lassen sich vier Narrative im heutigen Strafvollzugsfeld rekonstruieren: das autoritär-disziplinierende Narrativ des 19. Jahrhunderts, das ausschliessliche Vergeltungsnarrativ, das pädagogisch-inklusive Narrativ (stärker im Jugendstrafvollzug sichtbar) und das aktuarisch-sicherheitsorientierte Narrativ (stärker in Bezug auf gewalttätige Sexualstraftäter sichtbar) (S. 178).
Im sechsten Kapitel werden anhand eines vom Autor bewusst ausgewählten, medial aufsehenerregenden Falles (Jean-Louis B., ein wegen Sexual- und Gewaltstraftaten verwahrter Mann, der während eines begleiteten Ausgangs flüchtete) narrative Figuren, die im medialen Diskurs wiederholt auftauchen, herausgearbeitet. Hierzu wurden Zeitungsartikel und Onlinekommentare analysiert. Young arbeitet drei Narrative heraus. Im exkludierend-populistischen Narrativ können vereinfachend gesagt «Verwahrte als die Bösewichte und unzählige naive, unfähige und übertrieben empathische Justizangestellte und besonders linke Politiker/​innen als deren Helfer identifiziert werden» (S. 215). Im ähnlich strukturierten exkludierend-staatsloyalen Narrativ wird ebenfalls eine klare Linie zwischen «Verwahrten und rechtsschaffender Bevölkerung» gezogen, Täter sind allerdings nicht essentiell böse, so Young. Im in der Stichprobe sich nur sehr marginal zeigenden kritisch-inklusive Narrativ sind die Helden «die zu Unrecht verwahrten, die um ihr Recht (…) kämpfen, unterstützt von einzelnen Juristinnen und Journalisten» (S. 216).
Die folgenden Kapitel sieben bis neun widmen sich der Frage, welche wiederkehrenden Narrative die narrative Identitätskonstruktion der Justizvollzugsmitarbeitenden strukturieren. In Anstaltsnarrative I konstruiert Young zwei narrative Figuren. In einer ersten Figur konstruieren Justizvollzugsmitarbeitende ihr Selbst in einer symmetrisch, «normalen» Beziehung zu den Gefangenen, die von Höflichkeit und gegenseitigem Respekt geprägt ist. In einer zweiten Figur konstruieren Justizvollzugsmitarbeitende ihr Selbst in einer asymmetrischen Beziehung, die auch von einer professionellen Distanz zu den Gefangenen geprägt ist. In Anstaltsnarrative II konstruiert Young die narrative Figur «des Vollzugs als Freizeit und Vergnügen, als Hotel oder ‘Ferienheim’ und als ‘weich und kuschelig’» sowie eine narrative Figur der Straftäter, denen man nicht vertrauen kann, deren wahren Absichten egoistisch, asozial und verbrecherisch sind (S. 294). In Anstaltsnarrative III erweist sich die medizinische Qualifikation als wichtigste narrative Ressource für die Identitätskonstruktion des therapeutischen Narrativs. «Therapeutisch tätige Mitarbeitende im Vollzug konstruieren sich als Fachperson für psychologische und psychiatrische Fragen, mit einer entsprechenden Ausbildung und mit fundiertem Wissen und Fähigkeiten» (S. 326). Am Beispiel von Feldnotizen, in denen sich zwei Mitarbeitende in Bezug auf Fragen ihrer gemeinsamen Alltagspraxis nicht einig waren, analysiert Young in einem Exkurs, was passiert, wenn konfligierende Narrative im Feld der Anstalt aufeinandertreffen. Er hält fest, dass sich die Anstalt-als-Feld «aus einer vielfachen Überlagerung verschiedener Interessen, Beziehungen und Narrative» ergibt (S. 339).
Im Fazit wird ein zusammenfassender Überblick über die rekonstruierten Narrative gegeben. Young resümiert, dass zwar keine fugenlose Kontinuität zwischen den Untersuchungsbereichen besteht und nicht genau dieselben Narrative in allen Bereichen rekonstruiert werden konnten, dass Bezüge zwischen den Narrativen in den unterschiedlichen Untersuchungsbereichen aber durchaus vorhanden sind (S. 342–343). Youngs Dissertation untersuchte die Wirkungsweise von medialen Diskursen und politischen Verlautbarungen auf Praktiken und soziale Felder, die von diesem Diskurs mitstrukturiert werden. Seine Analysen können als eine mögliche Antwort auf die soziologische Grundfrage nach dem Verhältnis von Individuum und Struktur betrachtet werden (S. 351).
Fazit und Diskussion
Mit Youngs Dissertation wird die Forschung über den Strafvollzug in der Schweiz aus verschiedenen Gründen sinnvoll ergänzt. Zum einen, weil gerade qualitative Studien in diesem Bereich rar sind und zum anderen, weil bisherige qualitative Forschung zu Gefängnis und Vollzugsmitarbeitenden häufiger die Lebenswelt der Gefangenen als die der Mitarbeitenden betrachteten (S. 26–39). Obwohl der Autor an manchen Stellen selbst kritisch anmerkt, dass nur ein Teil des vielfältigen Materials und seiner Analysen präsentiert werden konnten und dass sich bei der Auswahl des Materials Themen auch überschneiden, gelingt ihm die Auswahl und Verdichtung des Materials aus meiner Sicht überzeugend, die Argumentationen erscheinen plausibel und können gut nachvollzogen werden. Da es sich bei der Anstalt Thorberg um eine geschlossene Justizvollzugsanstalt für Männer handelt, wäre es in zukünftiger Forschung sicherlich spannend zu analysieren, welche Identitätsnarrative für Mitarbeitende in offenen Justizvollzugsanstalten, Justizvollzugsanstalten für Frauen oder im Jugendstrafvollzug konstruiert werden können. Aus methodischer Sicht wäre es ebenso interessant der Frage nachzugehen, ob sich die Identitätsnarrative der Mitarbeitenden anders rekonstruieren liessen, wenn sie nicht nur auf Interviewmaterial beruhten. Eine Lektüre des Buches dient ganz gewiss der Reflexion über eigne Sichtweisen auf die Strafvollzugspraxis. Ebenso zeigt es doch eindrücklich wie gerade die mediale Berichterstattung im Strafvollzug (bewusst oder unbewusst) zur Meinungs- bzw. Identitätsbildung beitragen kann.
Rezension von
Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger
Dozentin und Projektleiterin Institut für Sozialmanagement, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
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