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Jörg Hüttermann: Figurationsprozesse der Einwanderungs­gesellschaft

Rezensiert von Alexander Krahmer, 29.11.2018

Cover Jörg Hüttermann: Figurationsprozesse der Einwanderungs­gesellschaft ISBN 978-3-8376-3744-1

Jörg Hüttermann: Figurationsprozesse der Einwanderungsgesellschaft. Zum Wandel der Beziehungen zwischen Alteingesessenen und Migranten in deutschen Städten. transcript (Bielefeld) 2018. 356 Seiten. ISBN 978-3-8376-3744-1. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 36,80 sFr.
Reihe: Urban studies.

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Thema

Das Buch lässt sich einreihen in die seit dem „langen Sommer der Migration“ (2015) wieder stärker im Rampenlicht stehende Debatte um Integrationspotenziale und -prozesse (in) der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Aus diesem Diskursfeld sticht es gleichzeitig durch zwei durchaus bemerkenswerte Besonderheiten hervor. Einerseits nämlich präsentiert uns der Autor hier gleich mehrere, teils ungewohnte Perspektiven in die (post-)migrantische, deutsche Gesellschaft hinein, wobei die so gewonnenen Erkenntnisse – wenn die Forschungen z.T. auch etwas zurückliegen – kaum an Aktualität verloren haben. Als weitere Besonderheit kann der Versuch gelten, die versammelten Teilstudien hier nun gemeinsam unter einer übergeordneten theoretischen Gesamtperspektive – jener der Figurations- und Prozesssoziologie – zu vereinen.

Autor

Johannes Jörg Hüttermann studierte Soziologie und Geschichte in Wuppertal, Bielefeld, Bonn und Madrid. Der promovierte Soziologe war bereits an mehreren Projekten zur Beforschung lokaler „Figurationen“ und Konflikte beteiligt, die in aller Regel einen Schwerpunkt auf migrationsbezogene Diversität hatten. Die meisten führte er am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung durch, wo er seit 2017 (wieder) als Projektmitarbeiter beschäftigt ist. Davor arbeitete er am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und -ethnischer Gesellschaften (Göttingen) sowie am Institut für Islamische Theologie (Osnabrück). Zurzeit leitet Jörg Hüttermann zwei drittmittelfinanzierte Projekte zur sozialen Mobilität von Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen (Förderung durch die DFG) sowie zum Konnex von Salafismus und Gewalt im urbanen Raum (NRW), wobei er auch an der Forschung beteiligt ist.

Entstehungshintergrund

Der Autor versteht sein Buch als „Essenz aus fünf Forschungsprojekten“, an denen er (in verschiedenen Rollen) im Zeitraum von gut zwanzig Jahren (1996 – 2014) mitwirkte. Außer um eine Präsentation umfangreichen empirischen Materials, das den „Wandel der Beziehungen zwischen Alteingesessenen und Migranten in deutschen Städten“ facettenreich illustriert, handelt es sich um eine Art Summe seiner bisherigen Auseinandersetzungen mit klassischen sozialwissenschaftlichen Topoi und mit der Figurationssoziologie nach Norbert Elias, wobei Hüttermann gleichzeitig über diesen hinausgehen will.

Aufbau

Vorwort, Einleitung und die beiden letzten (9. und 10.) Kapitel bilden, vereinfacht gesagt, den einführenden und erklärenden sowie konzeptionellen Rahmen des gesamten Bandes, während die dazwischen angeordneten (2.- 8.) Kapitel das dafür benötigte empirische Material präsentieren. Aus Letzterem setzt Hüttermann seine „bottom-up Perspektive“ zusammen, worauf seine eigene Theorie sozialer Figurationen basiert.

Derweil stellt er im zweiten Kapitel eine – im Sinne von Elias/Scotson (The Established and the Outsiders. A Sociological Enquiry into Community Problems, London 1965) – ‚klassische‘ Figuration von „Etablierten und Außenseitern“ vor. Der Autor untersucht die Entwicklung der Beziehung von Alteingesessenen und Zugewanderten in einem sozial benachteiligtem Stadtviertel der Ruhrmetropole Duisburg. Schon hier steht jedoch eine für die deutsche Einwanderungsgesellschaft nicht untypische „Hierarchieumkehr“ im Zentrum, die Rang und Status beider Gruppen nachhaltig verändert.

Das dritte Kapitel betrachtet im Anschluss eine im selben Sozialraum eingebettete Figuration, wobei das Zusammenspiel der migrantisch geprägten Street Corner Society und der „Street Corner Police“ reflektiert wird.

Das vierte Kapitel argumentiert erneut historisch und konzentriert sich auf die sich wandelnden (Kon-)Figurationen von alteingesessenen „Platzanweisern“ und zugewanderten „Gästen“ in der vormaligen Bundesrepublik. Hüttermann wendet die daraus gewonnene Sequenzialisierung der zentralen Interaktionsbeziehungen anschließend auf verschiedene Moscheekonflikte an. Auch die Rolle Dritter („Dialogakteure“, „Anwälte“, „Intellektuelle“) wird kritisch reflektiert.

Das fünfte Kapitel präsentiert in Form einer Kleinstadtstudie einen konkreten Moscheekonflikt, der sowohl die Ungleichzeitigkeit verschiedener räumlicher Entwicklungen in Deutschland illustriert als auch Bedingungen und (konstruktive) Effekte sozialer Konflikte thematisiert.

Daran schließt das sechste Kapitel mit einer weiteren Kleinstadtuntersuchung an, wiewohl Hüttermann hier eine nochmals komplexere, „triadische Figuration“ präsentiert. Ausgehend von einem gewaltsamen „Kristallisationsereignis“ im Jahr 2002 wird dessen Figurationsprozess im Anschluss anhand der deutschen Nachkriegsgeschichte im lokalen Kontext rekapituliert.

Das siebte Kapitel setzt schließlich mit einem interessanten Perspektivwechsel das dynamisch gedachte Figurationsmodell selbst in Bewegung. Das (gemeinsam mit Minas geschriebene) Kapitel konzentriert sich dafür auf Straßenbahnfahren als einer typisch(-großstädtisch)en Figuration. In kritischer Absetzung zu klassischen Positionen wird dabei die These vorbereitet und geprüft, ob selbst scheinbar anonyme Orte an der Rekonstruktion sozialer „Interdependenzketten“ (Elias) beteiligt sind.

Im achten Kapitel wartet Hüttermann mit einem eigenen Konzept, dem der „urbanen Marktgeselligkeit“ auf, die er als „Figuration im Modus des Vorübergehens“ begreift. Dabei zeigt die hier rekonstruierte Fallstudie über kurze Einblicke in den Alltag zweier deutscher Städte, dass auch das beiläufige, allzu alltägliche „Spiel“ urbaner Geselligkeit als Figuration wirksam wird, die gleichermaßen Unsicherheiten überbrücken und Konfliktpotenziale abbauen kann.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalt

Bevor ich exemplarisch auf vier Figurationen (aus den Kapiteln 3–5 sowie 7) eingehen möchte, soll zunächst die Figurationsanalyse selbst und der damit verbundene Begriffsapparat (v.a. anhand der Einleitung und des neunten Kapitels) erläutert werden.

Figurations- und Prozesssoziologie im Stadtraum

Schon das Ende des Vorworts macht deutlich, dass Hüttermann die Figurationsanalyse im Geiste Norbert Elias' (1897-1990) für die stadtsoziologische Forschung stark machen, sie aber auch für deren Kontexte aktualisieren bzw. für Fragen städtischer Integrationskonflikte adaptieren möchte. Insoweit (wie es Elias kurz vor Lebensende selbst noch einmal betonte) die Figurationsanalyse v.a. Prozesstheorie sein sollte, geht es Hüttermann außerdem um eine Dynamisierung von „Konfliktsoziologie“ (7f) und auch Migrationsforschung (18).

„Figurationen“ stehen schon in Elias' Hauptwerk (Über den Prozess der Zivilisation, Basel 1938; Neuauflage 1969) im Hintergrund des dort beobachteten Zivilisationsprozesses, wobei sie dort nicht allein aus Individuen bestehen, sondern auch aus (erworbenem) technisch-habituellem Handlungswissen, aus Methoden der Selbstkontrolle sowie entsprechenden „Manierbüchern“, womit sich eine gewisse Nähe zu Michel Foucaults Begriff des „Dispositif“ aufmachen lässt. [1] Zentrale Eigenschaften der Figurationsanalyse, die Hüttermann von Elias übernimmt (vgl. 13), sind eine Konzentration auf die „wechselseitige Abhängigkeit“ der Subjekte, der Prozesscharakter der Figuration sowie ihr ständig neues Hervorgehen aus menschlichen Einzelhandlungen, woraus auch übergeordnete gesellschaftliche Strukturen entstehen. [2] Hinzu kommt, dass Figurationen „Kraft- und Machtfelder aufspannen“, die aber selbst in die Machteffekte besagter (Makro-) Strukturen verwoben sind. Als fünftes, von Elias übernommenes Merkmal kann die besondere Berücksichtigung von Alltagshandlungen gelten, die Hüttermann später im Buch als „Ausweichinteraktionen“ operationalisiert (vgl. 266ff). Kurz zusammengefasst, versteht Hüttermann (mit Rekurs auf Elias) „Figurationen als sich wandelnde mehr oder weniger machtgeladene Beziehungsgeflechte der voneinander abhängigen leiblich-praktisch tätigen Menschen, die diese im Medium tagtäglicher Interaktion selbst hervorbringen und verändern.“ (13).

Somit führt Hüttermann also Elias' auf Räume und auch auf die Zeit im allgemeinen gerichteten Figurationsanalysen fort (Elias/Scotson 1965; Elias 2004), stützt sich aber auf eigene ethnografische Beobachtungen im urbanen Raum, auf Interviews sowie auf Szenarien sozialer Konflikte. Dafür übernimmt er auch Elias' Macht-Begriff. Letzterer anerkennt (14f) nicht nur eine „Herrschaft über…“, sondern auch Möglichkeiten des Widerstands und alltäglicher Gegenkräfte, wie sie aus routinierten Gewohnheiten und deren plötzlicher Unterbrechung entstehen können. Mag sich darüber zwischen den Akteur*innen eine „wechselseitige Abhängigkeit“ aufbauen, bedeutet diese dennoch keine symmetrische Verteilung der Mittel der Machtausübung. [3]

Um seinen eigenen „figurationssoziologischen Konfliktanalysen“ ein Fundament zu geben, greift Hüttermann auch auf konflikttheoretische Bestimmungen zurück und gibt dem Konfliktbegriff eine deutlichere Perspektive auf Alltagshandeln und auf räumliche Dynamiken. Denn anders als in den von ihm kritisierten klassischen Theorien, spielt gerade der „geographische Nahbereich“, das „Dickicht des urbanen Alltagshandelns“ eine besondere Rolle, um lokale Konfliktepisoden zu verstehen (9f). Auch das „Flüchtige“ (vgl. 248ff) besitzt eine zentrale Bedeutung für das Begreifen des sozialen Wandels. Den Figurationstheoretiker interessieren dabei nicht nur sichtbare „Eskalationen“, sondern auch latente Konflikte, die über einen längeren Zeitraum schwelen können, bevor sie sich eventuell zuspitzen und manifestieren (dazu 4. und 6. Kapitel). Hier setzt er sich auch vom linguistischen Konfliktverständnis als „Widerspruchskommunikation“ (291) sowie von einem (wie er es nennt) „quantitativem“ (290) Konfliktverstehen. Beide haben Schwierigkeiten, ihre konfliktsoziologische Erkenntnis auf die konkrete Alltagsebene herunterzubrechen. Der Autor favorisiert dagegen einen Begriff des Konflikts, der dessen Eigensinn und Eigendynamik (auch buchstäblich) mehr Raum gibt, z.B. indem er konflikthaltige Auseinandersetzungen mit sog. „Ausweichinteraktionen“ in Verbindung bringt (v.a. 266ff). Das, „was ‚unten‘ scheint“, so Hüttermann mit Blick auf den sozialen Alltag, hat oft „eine eigene Wirkmacht“ (13), die es erst zu entschlüsseln heißt.

Häufig leidet auch das Verständnis der Stadt unter einer zu oberflächlichen Behandlung (generell 257ff) wie Hüttermann besonders im achten Kapitel – erneut in Distanz zu Engels, Simmel, aber auch anderen – herausarbeitet. Dem gegenüber versteht er „Stadtgesellschaft“ als äußerst komplexen „fait social“ (Durkheim), dessen „Figurationen“ und „Interdependenzketten“ (16) sowohl aus kooperativen wie konflikthaften Handlungen bestehen. Ego und Alter Ego sind in der Stadt in einem stets „gemeinsam geteilten urbanen Raum“ verortet, der materielle wie sinnhafte, aber auch infrastrukturelle und symbolische Eigenschaften besitzt. Da wir uns hier in aller Regel gemeinsam bewegen, kommt es ständig zu (ephemeren oder dauerhaften) Grenzziehungen materialer oder symbolischer Art (z.B. beim Kontakt in der Straßenbahn), aber auch zur permanenten (Re-)Etablierung „identitätsaffirmativer Räume“. Stadtnutzer*innen sind im Prinzip „immer schon am Rande verletzbarer symbolischer Grenzen und realer Konflikte“ (293f). Auch wenn sich die beteiligten Personengruppen der potentiell konfliktgenerierenden Kraft ihrer Alltagsbegegnungen nicht bewusst sind, sind für Hüttermann gerade die mikrosozialen Einzelereignisse wichtig, um das Entstehung konfliktträchtiger „Kristallisationsereignisse“ und sozialen Wandel zu verstehen.

Um die Wirkungen von Machtbeziehungen im Stadtraum weiter zu kategorisieren, arbeitet er v.a. im neunten Kapitel die „korporealen“ und „korporativen“ Soziologiken der Stadtgesellschaft heraus (s. Diskussion).

Polizeialltag zwischen Etablierten und Außenseitern

Eine interessante, sich alltäglich reproduzierende konfliktgeladene Figuration stellt das dritte Kapitel vor. Wie in der im zweiten Kapitel dargelegten Figuration von „Etablierten und Außenseitern“, steht auch hier der Sozialraum Duisburg-Marxlohes im Vordergrund: Nur wird jetzt gewissermaßen auf eine eingebettete Figuration geschaut, wenn es um die „wechselseitige Abhängigkeit“ zwischen lokaler Street Corner Society („Eckensteher-Gesellschaft“) und einer Polizeiuntereinheit, der „street corner police“ geht. Hüttermann weist (wie schon in seiner Darstellung des „Eckensteher-Milieus“ im zweiten Kapitel; 37ff) einerseits auf die Spezifik der „Charakterkämpfe“ hin, in die sich „Eckensteher“ (es sind ausschließlich Männer) bei der Verteilung knapper Güter (Ehre, Macht und Anerkennung) miteinander begeben. Aufschlussreich ist aber insbesondere, dass Vergleichbares auch beim ordnungspolitischem Counterpart des scheinbar normabweichenden „Milieus“ zu beobachten ist. Denn auch die Polizeieinheit ist, außer in die Auseinandersetzung mit der ‚Straße‘, in analoge interne Wettkämpfe verwickelt. Dabei passt sie sich z.B. durch Sprachduktus und Körperhaltung („Gesichts- und Stimmenpanzer“, 54) in ihrer „Habitusarbeit“ (51) auch an den Sozialraum an. Diese „binnenwirksame“ Seite ist dabei, so Hüttermann, nicht nur als Anpassungsprozess, sondern auch als eine Art Training mit dem „polizeilichen Gegenüber“ (57) zu verstehen. Derber Spott, eigener Kleidungsstil und selbst der Machismus sowie die Pflege eines „Abräumer-Ethos“ sind gewissermaßen ebenso Vorbereitungen für erwartbare Konfrontationen mit der anderen Seite. So motiviert sich die polizeiinterne „in-group“ auch „für den Umgang mit der Street Corner-Society“. Hüttermann macht ein nicht unerhebliches Deeskalationspotenzial daran fest, dass die „impliziten Spielregeln des Charakterkampfes“ (62f) von der Polizei anerkannt werden. Ein schlagfertiger Polizist tritt insofern auch als eine Art „autoritärer Sozialarbeiter“ auf (64f), der zwar nichts gegen die ungleiche Ausgangslage unternimmt, die den ‚Milieu‘-Angehörigen andere Wege in die Gesellschaft verschließen. Er vermag es aber zumindest deren Auswirkungen teilweise in konfliktdämmender Weise zu kanalisieren (63). Eine kritische Polizeiforschung, so Hüttermann, sollte (neben aller berechtigten Kritik am Polizeiverhalten) auch diese Funktionalität der „Habitusarbeit“ berücksichtigen (vgl. 65f).

Moscheekonflikte im Figurationsprozess

Zoomt das dritte Kapitel somit in die wechselseitige Abhängigkeit der Gruppen direkt hinein, so tritt das folgende wieder zwei Schritte zurück und präsentiert Moscheekonflikte an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Reflektiert wird vor deren Hintergrund der gesamtgesellschaftliche Figurationsprozess der (west-)deutschen Einwanderungsgesellschaft an sich historisch abwechselnden Interaktionsrollen. Letztere zeigt sich dabei nicht als statisch, denn vielmehr in Bewegung durch anhaltende Rangordnungskonflikte. Hüttermann untersucht sie in vier Sequenzen eines gemeinsamen Figurationswandels (vgl. den Überblick S. 330). Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auch auf Dritte, die eine wichtige vermittelnde, wenn auch ambivalente Rolle (als „Transmissionsakteure“, „Anwälte“, aber auch Kritiker) übernehmen.

Hüttermann kann insbesondere an den Moscheekonflikten (vgl. 83ff) deutlich machen, dass gerade die dritte Sequenz des besagten Prozesses (ungefähr ab den 1990ern) entscheidend, aber auch besonders konfliktgeladen ist. Die ‚Gäste‘ steigen hierin zu „avancierten Fremden“ auf, womit besagte Gastrolle nun auch öffentlich negiert wird und aus ‚Fremden‘ Mitbürger*innen werden, die nicht länger sprachlos sind, sondern eigene Interessen vertreten (71). Dabei widmet sich der Autor auch der unrühmlichen Rolle einiger deutscher Intellektueller (mit und ohne Migrationshintergrund), die sich ähnlich einem Teil der Massenmedien daran beteiligen, der Verfremdung und insbesondere „Kulturalisierung“ jener ‚Fremden‘ den Boden zu bereiten. Die „am universalistischen Gehalt des demokratischen Rechtsstaates verzweifelnden alteingesessenen Eliten“ übernehmen in der vierten Sequenz eine Schlüsselrolle, indem sie die avancierten Fremden durch rassistische Topoi wie den (anderen) ‚Kulturkreis‘ (vgl. 77), aber auch durch „Wurzeldiskurse“ (Erol Yildiz) diffamieren und so zugleich deren soziale Mobilität in Schach halten. Der eigentlich sozialen Konflikt (durch unterschiedliche räumliche Ausgangsbedingungen, aber auch einsetzbares verfügbares ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) wird so in einen ethnisierten und weiter ethnisierenden „Entweder-Oder-Konflikt“ verwandelt (79). Dennoch bleibt Hüttermann (etwa mit Blick auf den Kölner Moscheekonflikt) optimistisch. „Der weitere Verlauf der Entwicklung“ trug bisher eher zur einer auch „faktischen Widerlegung der Argumente der Moscheegegner bei.“ (93)

Konflikt um islamische Symbole als modernes Inkorporationsritual

Gegenüber dieser figurationssoziologischen Gesamtschau, die dem Autor teils selbst zu schematisch erscheint, stellt das fünfte Kapitel einen konkreten Moscheekonflikt einer Kleinstadt ins Zentrum, der zugleich anschaulich die in städtischen Räumen immer wieder anzutreffende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen illustriert. Die präsentierte Analyse der Konfliktfiguration um einen Minarettanbau zeigt aber auch inwiefern Makro- und Mikroebenenprozesse nicht zusammenfallen müssen und das Eigengewicht von Alltagskonflikten. In der Auseinandersetzung, die Hüttermann auch in einer separaten Publikation (Das Minarett, Weinheim 2006) bespricht, stehen sich ein türkisch-islamischer Kulturverein und dessen unmittelbare Nachbarschaft gegenüber. Die Irritation Letzterer wegen der geplanten Moscheeerweiterung kann insoweit als unzeitgemäß gelten als der Kulturverein sich mit seinem Bauvorhaben unbestreitbar auf dem Boden des Grundgesetzes (Artikel 3, Abs. 3) bewegt, das (auch im Baurecht) alle Glaubensrichtungen gleich behandelt. Dagegen beruft sich die Nachbarschaft auf ihr Gewohnheitsrecht, die „lebensweltlich sedimentierten Handlungsroutinen und Selbstverständlichkeiten“ (99). Für sie gelten Muslim*innen immer noch als Gäste, die zwar nach Regeln der Reziprozität behandelt werden, aber sich eben deshalb auch informellen Vorschriften und Erwartungen der ‚Gastgeber*innen‘ fügen sollen (100f). Während der Kulturverein erst auf Nummer sicher ging und sich das verbriefte Recht gar per Gutachten bestätigen ließ, wird erkennbar wie er bei Zuspitzung des Konflikts seine Strategie verändert. Er rückt von seiner nur formalrechtlich gegebenen Überlegenheit ab und bringt sich infolge selbst in der „Rolle des Gastes“ ein, der im Grunde „bescheiden“ sei und „nicht stören“ will (100).

Hüttermann zeigt hier an einem konkreten Beispiel wie ein universeller Anspruch und damit die juridischer Makroebene bei Kontakt mit dem lokalen Kontext „nur in lebensweltlich gebrochener Form zur Geltung“ kommt. Die Kleinstadtbewohner*innen können sich noch immer auf ihr althergebrachtes Wissen und eigene Gewohnheiten berufen. Dabei kommt ihnen zusätzlich der Bürgermeister zu Hilfe, der von Anfang an eine zwielichtige Rolle als scheinbarer Moderator übernimmt. In Wahrheit ist er jedoch in versteckter Mission für die Alteingesessenen unterwegs (110f, 303ff). In seiner an Details reichen, an eine „Mikrophysik der Macht“ (Foucault) erinnernden Darstellung des Kleinstadtkonflikts zeigt Hüttermann somit eine durch und durch asymmetrisch verlaufende „Konfliktzeremonie“, die aber dennoch in Form eines „modernen Inkorporationsrituals“ wirksam wird. So scheitert die eigentliche Konfliktaustragung zwar – weil sie nicht auf der Höhe des prädominierenden Rechtsstaates und mithilfe unlauterer Mittel geführt wird –, sie kann aber trotzdem als ein Teilerfolg gelten, da sie „immerhin eines zuwege [brachte]: Aus randständigen muslimischen Fremden wurden auf lokaler Ebene zum ersten Mal sicht- und vernehmbare korporative Akteure der lokalen Öffentlichkeit“ (113). Während die Zukunft dieser vorläufigen Integration, wie Hüttermann betont, alles andere als sicher ist, wird dennoch deutlich, dass auf beiden Seiten – bei den Moscheevertreter*innen z.B. sichtbar daran, dass sie sich nun offensiver um „Vertrauen und Anerkennung“ (112) in der Stadtgesellschaft bemühen – ein Umdenken stattgefunden hat.

Zur Figuration urbaner Gruppen in der Straßenbahn

Während sich das siebte Kapitel anfänglich mit der Kritik eines klassisch-soziologischen Gemeinplatzes beschäftigt, mit einem angeblich generellem Desinteresse großstädtischer Subjekte füreinander (wieder mit Rekurs auf Simmel und Engels), stellt Hüttermann dem im weiteren Verlauf als Gegenbeweis eine Ethnografie alltäglicher Begegnungen und Kontakte im öffentlichen Nahverkehr gegenüber. Die zuerst bei Engels prominent anzutreffende, nahezu trübselige Beobachtung, dass im großstädtischen Raum die menschliche Gemeinschaft offenbar in „Monaden und Massen“ auseinanderfalle, kontert Hüttermann mit Beobachtungs- und Interviewmaterial aus dem „Figurationsfeld des Straßenbahnfahrens“ (201). Seine Verteidigung der dabei sichtbaren sekundären gesellschaftlichen Kontakte basiert auf dem Nachweis einer eigenen „strukturbildenden Kraft“ und sogar „lokalen Besonderheit“ der in der Straßenbahn sichtbar werdenden „flüchtigen Alltagsinteraktionen“ (198f).

Bei der Auswertung der Beobachtungen und qualitativen Interviews kommen die Autoren (Hüttermann und Minas) deshalb zu dem Befund, dass die „Begegnung in der Straßenbahn (…) für die Entwicklung lokaler Intergruppen-Beziehungen von großer Bedeutung ist“. Und zwar v.a. aus dem Grund, dass das „Straßenbahnfahren () den Mitreisenden [lehrt], welche sozialen Grenzen und Rangordnungen das Intergruppenleben im öffentlichen Raum der Straße aufweist und welche sozialräumlichen Bezüge die einzelnen Gruppen in der Stadt haben.“ (199) Es handelt sich somit um ein für Stadtbewohner*innen bedeutsames Figurationsfeld, worin sich diese über die zahlreichen Intergruppenbeziehungen der Stadt (z.B. auch die erwähnte Eckensteher-Gesellschaft) informieren. Somit entsteht eine Art „Lernort“ (206), in dem alle Mitfahrenden ihre Alltagskategorisierungen und lebensweltlichen Theorien (re-)aktualisieren (ebd.). Damit ist die Straßenbahn für den Soziologen ein „epistemisches Vehikel“ (214), vergleichbar mit der Passage für den darin Anfang des 19. Jahrhunderts wandelnden Flaneur.

Diskussion

Hüttermanns Abhandlung über Figurationsprozesse im urbanen Raum der (westdeutschen) Einwanderungsgesellschaft ist ein kluges Buch. Man findet eine ganze Reihe interessanter und kenntnisreich geschriebener Studien, verbunden mit vielen innovativen Überlegungen, aber auch spannende ethnografische Beobachtungen und Exkurse in die urbane Nachkriegsgeschichte. Der Autor zeigt, dass es ihm leicht von der Hand geht politische, ökonomische und sozialräumliche Entwicklungsprozesse zusammen zudenken, die sich zum Teil auf der Makroebene migrationsbezogener Veränderungen, aber eben auch auf Ebene des Alltags urbaner Akteursgruppen abspielen. In den Teilstudien verknüpft er beides souverän. Außerdem gelingt es ihm in überzeugender Weise darzulegen, welchen eigenen Beitrag alltägliche Handlungen – „Ausweichinteraktionen“ – haben können, ohne diese gleichzeitig überzubewerten. So weist er im Fazit darauf hin, dass seine bewusst eingenommene „bottom-up Perspektive“ nun um die entsprechenden „top-down Analysen“ zu makroökonomischen, kulturellen und sozialräumlichen Veränderungen ergänzt werden müsse. Die Vielschichtigkeit der deutschen Migrationsgeschichte wird hier in einer Differenziertheit präsentiert wie sie sonst in der Integrationsdebatte selten zu Wort kommt (wo zudem der eigene Beitrag der Migrant*innen zur deutschen Einwanderungsgesellschaft oft zu wenig beachtet wird).

Während der Band durch seine Materialfülle und einen etwas behäbigen Stil (mit vielen verschlungenen Sätzen und mancher zu lang geratenen Reihung soziologischer wie eigenkreierter Fachtermini) nicht immer leicht zu lesen ist, kann es dennoch als sein großer Verdienst gelten, in die Mehrdimensionalität der durch Zuwanderung ausgelösten Wandlungsprozesse einzuführen und deren „grundlegende Mechanismen“ (320) offen gelegt zu haben. Gelegentlich wird der wissenschaftliche Duktus zudem durch Einblicke in das Forschertagebuch, Interviewausschnitte sowie grafisch-tabellarische Zusammenfassungen aufgelockert. Als weiteres Verdienst des Buches kann die Auseinandersetzung mit vielen klassischen Gemeinplätzen der (Stadt-)Soziologie gelten, wobei einige theoretische Schnellschüsse (von Klassikern wie Engels, Simmel, Weber, aber auch Vertretern der Chicago School), die noch immer Bestandteil der Lehre und sogar von Forschungsanträgen sind, kritisch kommentiert und korrigiert werden.

Der Anschlussversuch und die Erweiterung der Figurations- und Prozesssoziologie können als überaus gelungen gelten und empfehlen sich als exemplarische Form für weitere empirische oder theoretische Forschungen zum bzw. im urbanen Raum (ob mit oder ohne Migrationsbezug). Nützlich für das Studium der dabei beobachtbaren Vorgänge ist v.a. die Konzentration auf ihre Wechselseitigkeit (was schon Simmels formale Soziologie andachte) sowie der Einsatz einer dynamischen Perspektive, die den historischen wie alltäglichen Wandel mitdenkt, wozu noch die Beachtung der Mehrebenenverbundenheit der Machtverhältnisse zu ergänzen ist. Seine besondere Betonung der Eigensinnigkeit von Mikro- oder Alltagsprozessen erscheint darüber hinaus brauchbar für eine wiederholt begonnene, doch nicht zum Ziel gebrachte Debatte über Unterschiede von (Konfliktkonstellationen in) groß- und kleinstädtischen Kontexten. Hierfür lohnt allemal auch eine tiefere Auseinandersetzung mit dem im konzeptionellen (neunten) Kapitel präsentiertem Begriffsapparat der „figurationssoziologischen Konfliktanalyse“, aber auch mit den Fallstudien im fünften und sechsten Kapitel.

Einige wenige kritische Bemerkungen können abschließend gemacht werden. Die vorgebrachte Kritik an der ‚Raumvergessenheit der Sozialwissenschaften‘ ist in der Sache wohl richtig, aber dort überspitzt und auch falsch, wo sie Autoren verschiedenster theoretischer Provenienz über einen Kamm schert und in eine „fortschrittsfixierte Soziologie“ (257) hineinzupressen versucht. Nicht nur sind die – weitestgehend in den Fußnoten – kritisierten Autoren (vgl. 257ff), wie etwa Peter Saunders, wohl kaum „fortschrittsfixiert“ zu nennen, noch sind andere so eindeutig ‚raumvergessen‘ (geblieben), wie die hier aufgestellten ‚Pappkameraden‘ (vgl. für den kritisierten Armin Nassehi etwa das „Kursbuch“ 190/2017 oder den kurzen Essayband „Gesellschaft verstehen. Soziologische Exkursionen“ von 2011 und für Michel Foucault schon den Vortrag „Heterotopien“ von 1967). Im Fall von David Harvey, einem weiteren kritisierten Autoren, müsste eigentlich kaum darauf hingewiesen werden, dass sein Konzept der „time-space-contraction“ (aus The Condition of Postmodernity, London 1990) auch dem Raum einen wichtigen Stellenwert einräumt, wiewohl es für den Geographen wichtiger ist, diesen nicht naiv in einem natürlichen So-und-nicht-anders-Sein vorauszusetzen, sondern in seiner Relationalität zu denken. Überdies ist es u.a. Harveys Re-Lektüre von Marx (v.a. von „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“ sowie der sogenannten „Grundrisse“ und auch dem mit Engels gemeinsam geschriebenen „Das kommunistischen Manifest“) zu verdanken, dass der Raum in der heutigen neomarxistischen Diskussion eine eigenständige und vielschichtige Bedeutung besitzt (dazu etwa David Harvey, Spaces of Hope, London 2000).

Selbst wohlmeinende Leser*innen der Analysen und ihrer Auswertungen werden beim Mit- und Nachdenken unterdessen immer wieder durch weit ausholende Exkurse (in die Geschichte oder Theorie) herausgefordert, wobei den Verständigungsprozess zum Teil auch erschwert, dass dennoch nicht alles zu Konflikten und Figurationen in den Einzelstudien Gesagte, im konzeptionellen Teil wieder aufgegriffen wird. Das ist deshalb misslich, weil es den Versuch behindert, die vorgestellte, innovative Perspektive leicht auf sich anschließende Nachfragen zu prüfen und sie in andere Kontexte zu übertragen. Beispielsweise ist – obwohl Hüttermann von der „urbanen Konfliktnormalität“ (257, 288) spricht – die Verbindung von Figurationswandel und (selbst latenten) Konflikten auch hier keine zwingende: u.a. weil der mit Änderung von Figurationen verbundene Rang- und Machtwechsel ja ebenso unbemerkt und geräuschlos erfolgen kann oder weil konfliktdämmende Institutionen wie die im achten Kapitel dargelegte „urbane Marktgeselligkeit“ vorhanden sind. Wie Konflikte mit der figurativen Dynamik verbunden sind, wann sie latent, wann manifest werden, aber auch was ihre Bedeutung für den Sozialraum generell ist und wieso sie letztlich alle „Ressourcenkonflikte“ sein (35, 229) sollen und auf sozialer Ungleichheit, nicht auf kultureller Differenz aufbauen sollen (93ff) – all das hat Hüttermann trotz seiner Systematisierung zu verstreut über das Buch (und seine Fußnoten) behandelt als dass seinen Leser*innen hier eine definitive Antwort leicht fiele. Für solche Nachfragen wären sicher Querverweise zwischen den Studien, ein Index oder ein Glossar eine gute Idee gewesen. Mitunter sind Begrifflichkeiten aber auch irreführend (für „Machtbalance“ vgl. die 3. Fußnote), etwa diejenige der „urbanen Ausweichinteraktionen“. Für Hüttermann sind damit im Wesentlichen „flüchtige Begegnungen“ angesprochen, die, obwohl von der herkömmlichen Soziologie bisher wenig beachtet, dennoch die Reproduktion sozialer Ordnung auf der urbanen Alltagsebene erklären können. In den „Beiläufigkeitsströmungen des Alltagshandelns“ (267) weichen sich nämlich ständig unterschiedliche Gruppen in mikrosituativen Begegnungen aus und reproduzieren – wenn auch oft unbewusst – dabei die in der Stadt bestehenden Machtverhältnisse. Außer dass Hüttermann das Konzept viel zu wenig in den Teilstudien zur Anwendung bringt, ist es teilweise auch kontraintuitiv, etwa wenn er vom „offensiven Ausweichhandeln“ (272) spricht und damit gerade keine Vermeidungstaktiken, sondern direkte Konfrontationen meint, also ein Nicht-länger-Ausweichen(-Wollen).

Viele andere Konzepte und Begrifflichkeiten sind jedoch für die Stadtforschung sehr hilfreich. So etwa die teils auf Norbert Elias und Walter Benjamin zurückgehenden, für Mikrostudien tauglichen „Sozialtypen“ (vgl. bes. das zweite und das achte Kapitel) oder auch die nützliche Differenzierung von „korporealen“ und „korporativen“ Stadtgesellschaften, die gleichzeitig auf ein Defizit der Forschung hinweist, die Machtasymmetrien in der Stadt nämlich häufig bloß an leibhaftig präsenten Akteur*innen und dem von ihnen eingesetzten (z.B. ökonomischem oder kulturellem) Kapitel (277) untersucht. Eine ungleiche Machtverteilung aufgrund ungleicher Grade der Organisation und Mitgliedschaften (z.B. in Migrant*innenselbsthilfe-Organisationen) wird immer noch zu wenig als eigenständige Wirkung bzw. „Soziologik“ (ebd.) beachtet. Die Differenz von korporealer und korporativer Stadtgesellschaft ist aber auch nützlich, um Unterschiede zwischen Migrant*innen verschiedener Zuwanderungsetappen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft zu entdecken. [4] In diesem Zusammenhang ist auch Hüttermanns Hinweis auf diverse Formen von Grenzziehungen, Abgrenzungen und ebenso symbolischen Demarkationslinien im Stadtraum sehr nützlich. Hier schließt sich die Erkenntnis an, dass Dynamiken von Figurationsprozessen besonders gut an ihren (beweglichen) Grenzen sichtbar gemacht werden können.

Abschließend kann ich nur die von Hüttermann selbst konstatierten Forschungsdefizite in der Stadtforschung ergänzen: Es bleibt zu hoffen, dass Nachfolgestudien auch stadträumliche „Figurationen“ der allerneusten Zuwanderungsetappe untersuchen, die nun eben auch ostdeutsche Städte (stärker) betrifft.

Fazit

Jörg Hüttermann liefert in seinem Buch empirisches Material aus knapp zwei Jahrzehnten und fünf Forschungsprojekten, woran er einen umfassenden und spannenden Einblick in gut fünfzig Jahre (west-)deutsche urbane Einwanderungsgeschichte gibt. Viele der hier präsentierten soziologischen Erkenntnisse sind bis heute von größter Aktualität und bieten der Stadt- und Migrationsforschung, aber auch der Konflikttheorie zahlreiche Möglichkeiten der Anknüpfung. Während das konzeptionelle (vorletzte) Kapitel, das die eigenen theoretischen Überlegungen zu einer „figurationssoziologischen Konfliktanalyse“ zusammenschnüren will, kleinere Schwächen aufweist und nicht immer in ausreichendem Maße mit den dargebotenen Teilstudien verknüpft scheint, ist das Buch dennoch ein gelungener Beitrag zur Revitalisierung der Figurations- und Prozessanalyse im Geiste Norbert Elias' für die stadtsoziologische Forschung.


[1] Insofern sich selbst in Elias' Fassung der Figuration gelegentlich eine ‚Gestalt‘ abzuzeichnen beginnt, eine bewegliche, zumindest teil-unabhängige soziale Struktur, die nur der Soziologe auf ihre Bedingungen hin durchschaut, ließe sich auch eine geistige Nähe zu Siegfried Kracauers Ornament behaupten (vgl. ders., „Das Ornament der Masse“, 1927).

[2] Elias setzt sich hier v.a. von einer Soziologie ab, die entweder die Gesellschaft in Einzelhandlungen von Individuen auflöst oder aber umgekehrt diese tendenziell holistisch gedachten Totalitäten unterordnet.

[3] Das legt Hüttermann jedoch mitunter selbst nahe, wenn er bei Machtverhältnissen des Öfteren (ohne es weiter zu begründen) von „Machtbalancen“ spricht (z.B. 272f oder 186).

[4] In der „Gesamtbilanz“ seines Fazits macht Hüttermann darauf aufmerksam, dass sich „die Zugewanderten (..) oft erst langsam nach ihrer ursprünglichen Ansiedlung und mit beträchtlicher zeitlicher Verzögerung zu korporativen Akteuren“ entwickeln (332). Die Zeit und auch räumliche Nischen dafür waren für Angehörige der letzten, noch nicht abgeschlossenen Zuwanderung nach Deutschland noch gar nicht vorhanden, da kippte schon ein erstes Mal ihre nicht zuletzt stark medial geprägte Wahrnehmung (v.a. nach dem „Kristallisationsereignis“ der Silvesternacht 2015/16 in Köln). Eine permanente Aufmerksamkeit für die heterogene Gruppe der ‚Geflüchteten‘ verhindert, dass sie in andere Interaktionsrollen (s. viertes Kapitel) gelangen, wie z.B. die des „peripheren Fremden“ oder „als ethnisch und religiös unmarkierte oder gar indifferente Bürger in einem Meer urbaner Indifferenz navigieren“ können. Das macht es unwahrscheinlich, dass sich der an den ‚Gastarbeiter*innen‘ beobachtete Figurationswandel so in ihrem Fall wiederholen wird (331f).

Rezension von
Alexander Krahmer
M.A., Stadtsoziologe am Department für Stadt- und Umweltsoziologie des Helmholtz Zentrums für Umweltforschung Leipzig
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Es gibt 6 Rezensionen von Alexander Krahmer.

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