Nicole Hoffmann: Dokumentenanalyse in der Bildungs- und Sozialforschung
Rezensiert von PD Dr. phil. Ulf Sauerbrey, 21.08.2018

Nicole Hoffmann: Dokumentenanalyse in der Bildungs- und Sozialforschung. Überblick und Einführung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2018. 224 Seiten. ISBN 978-3-7799-3800-2. D: 16,95 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 23,90 sFr.
Thema
Durch den „säkularen Trend zur Verrechtlichung und Organisierung aller Lebensbereiche, insbesondere aber der Entwicklung der modernen Verwaltung, die sich wesentlich durch das Prinzip der Aktenförmigkeit auszeichnet“ (Wolff 2008, S. 502, Hervorhebung im Original), leben wir heute in industrialisierten (post-)modernen Gesellschaften mehr denn je in einer „dokumentarische[n] Wirklichkeit“ (ebd.). Kurz gesagt: Informationen von und über uns werden verschriftlich – ob klassisch auf dem Papier oder digital auf spezifischen Datenträgern, die zum Großteil über das Internet zugänglich sind. Für wissenschaftliche Forschung bietet dieser Umstand einen Fundus an Daten und dementsprechend ist die Dokumentenanalyse im engeren Bereich der Erziehungswissenschaft ebenso wie in bildungs- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen insgesamt ein durchaus gefragtes und vielfach verwendetes ‚Verfahren‘. Eigenartigerweise wird dieses in seiner jeweils spezifischen methodologischen Gestalt bislang jedoch eher selten angemessen begründet.
Dieses Desiderat wird in der Monografie von Nicole Hoffmann zum Anlass genommen, einen grundlegenden Überblick mit vielfältigen Studienbeispielen zu geben, die zeigen, was eine Dokumentenanalyse im Kern kennzeichnet, aber auch wie sie in heterogenen bildungs- und sozialwissenschaftlichen Forschungskontexten umgesetzt werden kann. Im deutschsprachigen Publikationsraum ist ein solches Werk bislang einzigartig!
Autorin
Nicole Hoffmann hat seit 2009 die Professur für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Weiterbildung und Genderforschung am Institut für Pädagogik der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz) inne.
Entstehungshintergrund
Das Buch baut zum Teil auf Vorarbeiten der Autorin zur Dokumentenanalyse aus dem Bereich der qualitativen Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung auf (vgl. Hoffmann 2012), führt diese jedoch für die bildungs- und sozialwissenschaftliche Forschung deutlich weiter und vertieft die methodologische Auseinandersetzung mit dem Thema. Als einen Anlass für die Notwendigkeit des Werkes, das als Überblick und Einführung konzipiert ist, führt Nicole Hoffmann Erfahrungen mit Studierenden an, die sich in Forschungskolloquien bzw. bei der Erstellung wissenschaftlicher Arbeiten zunächst nicht selten irritiert darüber zeigen, dass für ihre Qualifikationsstudien gar nicht zwingend neue Daten erhoben werden müssen, sondern dass auch bereits vorliegende ‚Texte‘ (verstanden in einem weiten Sinn, sodass neben verschriftlichen Dokumenten durchaus auch Filme, Bilder und andere Artefakte darunter fallen) verwendet werden können. Solche Irritationen Studierender scheinen dabei in den bildungs- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen durchaus ‚hausgemacht‘ zu sein, denn einschlägige Methodenhandbücher – dies bildet einen weiteren Anlass für Hoffmanns Buch – verweisen bislang noch zu selten (und wenn dann eher selektiv) auf die Dokumentenanalyse in ihrer spezifischen Zugangsweise zur Wirklichkeit bzw. als Forschungsverfahren.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sechs Kapitel unterteilt:
- „Überraschung, Unmut, Faszination … Zu Anlass, Absicht und Aufbau dieses Buchs“ (S. 7)
- „Varianten, Gesichter, Lesarten … Ein Überblick über Dokumentenanalysen in der Bildungs- und Sozialforschung anhand verschiedener Zielsetzungen“ (S. 14)
- „Spuren, Quellen, Medien … Über Merkmale und Besonderheiten von Dokumenten in wissenschaftlicher Verwendung“ (S. 99)
- „Pfade, Stationen, Schleifen … Zu Aufbau und Ablauf von Dokumentenanalysen in der Bildungs- und Sozialforschung“ (S. 140)
- „Chancen, Risiken, Nebenwirkungen … Ein resümierender Blick auf Potenziale und Grenzen von Dokumentenanalysen in der Bildungs- und Sozialforschung“ (S. 163)
- „Inspiration, Service, Support … Materialzugänge, Software und Lektüren“ (S. 181)
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis samt Teil- bzw. Unterkapiteln.
In Kap. 1 klärt Nicole Hoffmann neben den oben bereits skizzierten Anlässen zur Veröffentlichung des Buches auch die zentrale Absicht: Das Werk ist nicht als Methodenbuch intendiert, vielmehr soll es dazu dienen, bereits durchgeführte Dokumentenanalysen als Konzepte sowie in ihrer Umsetzung vorzustellen und Verweise zur weiteren Recherche und Vertiefung zu liefern. Somit ist es eher als „Studienbuch“ bzw. „wie ein ‚kartographisches Länderverzeichnis‘ oder ein ‚archivarisches Findbuch‘“ (S. 12) angelegt.
Mit Kap. 2 folgt eine grundlegende Einführung in bislang von der Forschung konzipierte und durchgeführte Dokumentenanalysen. Dabei zeigt sich, dass die Dokumentenanalyse nicht neben den gängigen Verfahren – v.a. qualitativer, teils aber auch quantitativer – Sozialforschung einzuordnen ist, sondern vielmehr quer zu diesen Wirklichkeitszugängen liegt. Dokumentenanalysen lassen sich dementsprechend u.a. im Rahmen der „sozialwissenschaftlich geprägte[n] Hermeneutik“ S. 42), der „Dokumentarische[n] Methode“ (S. 56), der „Ethnografische[n] Feldforschung“ (S. 63) oder der „Diskursanalyse“ (S. 75) durchführen. Diese und weitere Verfahren der Datenauswertung auf Basis von Dokumenten werden im Buch jeweils mit Beispielen aus der Forschungspraxis versehen.
Nach dieser Skizze des möglichen ‚Wie‘, also den verschiedenen methodischen Ansätzen und Paradigmen einer Dokumentenanalyse, folgt in Kap. 3 die notwendige Frage nach dem ‚Was‘, also im Falle der Dokumentenanalyse nach dem Material, den Quellen und Medien, die als Dokumente bildungs- und sozialwissenschaftlicher Forschung fungieren können. Dabei werden neben prinzipiellen auch systematische Fragen behandelt. Zudem wird auch auf die Herausforderungen der Analyse von Texten, Bildern und Feldmaterialen eingegangen – ein Aspekt, der in Kap. 5 erneut aufgegriffen und vertieft wird.
Kap. 4 bildet gewissermaßen den systematischen Teil des Werkes. Nicole Hoffmann skizziert dabei Möglichkeiten des Aufbaus und des Ablaufs von Dokumentenanalysen jeweils ausgehend vom Gegenstand der Forschung, vom Feld, in dem geforscht wird, von einer theoretischen Perspektive, von einer Methode und von einem Interesse. Jeder Zugang wird als Szenario beschrieben und mit Fallbeispielen unterlegt.
In Kap. 5 wird schließlich auf die Grenzen und Herausforderungen, die Dokumentenanalysen mit sich bringen, eingegangen. U.a. hinsichtlich ethischer Fragen, die sich auch und gerade bei der Verwendung von öffentlich zugänglichen Dokumenten sowie bei der Publikation von auf solchen Dokumenten basierenden Forschungsergebnissen stellen, zeigt sich laut Hoffmann „ein hoher methodologischer wie methodenpraktischer Entwicklungs- und Reflexionsbedarf“ (S. 180).
In Kap. 6 führt die Autorin Datenbanken, Sammlungen und Archive auf, die bestimmte thematische Schwerpunkte verfolgen und in denen für bildungs- und sozialwissenschaftliche Forschung relevante Dokumente zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus gibt sie einen knappen Überblick über die meistgenutzten Softwareprodukte zur qualitativen Datenanalyse, darunter ATLAS.ti und MAXQDA, aber auch andere (z.T. kostenfreie) Produkte. Ein umfangreiches Verzeichnis mit „Literaturquellen zur Dokumentenanalyse und ihrem Umfeld“ (S. 204) schließt das Buch ab.
Diskussion
Nicole Hoffmanns Monografie gibt erstmals in der deutschsprachigen Forschung einen grundlegenden Überblick über die verschiedenen unter dem Flaggschiff der Dokumentenanalyse segelnden Ansätze (vgl. etwa Ballstaedt 1982; Prior 2003; Wolff 2008; Glaser 2013). Je nach AutorIn zeigen sich diese Ansätze durchaus different, besonders deutlich wird dies etwa in der Diskussion um die Hinzuziehung kontextrelevanter Informationen zur Analyse eines Dokuments, die Stephan Wolff (vgl. 2008) in seiner konversationsanalytisch angelegten Dokumentenanalyse eher vermeidet, während solche Informationen bei den historisch angelegten Dokumentenanalysen im Sinne Edith Glasers (vgl. 2013) zwingend notwendig sind (vgl. Hoffmann 2012). Das nun vorliegende Überblickswerk von Nicole Hoffmann wird bei solchen spezifischen (weil vom Forschungsgegenstand, der verwendeten Theorie bzw. dem Paradigma oder den verwendeten Dokumentensorten abhägngigen) Verfahrensdifferenzen seinem Anspruch gerecht, indem es diese differenziert abbildet und in ihren Eigenheiten skizziert, sich jedoch einer abschließenden Empfehlung enthält. Auf diese Weise bleibt auch die Offenheit des Forschungsprozesses insbesondere verschiedener qualitativer Dokumentenanalysen erhalten. Das Buch lässt sowohl für Studierende als auch für ausgewiesene ForscherInnen deutlich werden, was eine Dokumentenanalyse im Kern ist und wie sie in unterschiedlichen Forschungskontexten – auch unter Einbezug bekannter qualitativer Verfahren – ausgestaltet werden kann. In Bezug auf die Umsetzung einer Dokumentenanalyse sind neben den verschiedenen Szenarien dokumentenanalytischer Forschungsprozesse in Kap. 4 auch die methodenkritischen Anmerkungen in Kap. 5 besonders gelungen.
Im letzten Kapitel der Monografie – dem Serviceteil – könnten bei künftigen Auflagen auch die für die Historische Bildungsforschung relevanten Digitalisate und Transkriptionen, die auf der Online-Präsenz der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF (BBF/DIPF) zugänglich sind, angeführt werden.
Die in bildungs- und sozialwissenschaftlichen Studien bislang zu selten vorgenommene methodologische Herleitung und Begründung einer Dokumentenanalyse lässt sich darüber hinaus durchaus auch für den ‚sozialwissenschaftlichen Arm‘ der medizinischen Versorgungsforschung feststellen. Dort wird in vielen Studien und methodologischen Beiträgen zwar bereits explizit auf die Dokumentenanalyse als relevantes Forschungsverfahren verwiesen, jedoch sind diese bisher kaum mit Verweisen auf einschlägige Methodenliteratur versehen (vgl. exemplarisch etwa Meyer, Flick 2017). Auch in diesem (noch jungen) wissenschaftlichen Forschungsbereich bleibt auf somit auf eine Rezeption des Buches von Nicole Hoffmann zu hoffen.
Fazit
Das Werk ist bietet einen umfangreichen und hervorragend recherchierten Fundus an method(olog)ischen Einsichten und differenzierten Klärungen zu den Merkmalen sowie zu spezifischen Verfahrensweisen einer Dokumentenanalyse und kann aufgrund seiner übersichtlichen Gliederung auch als Nachschlagewerk fungieren. Fazit: Äußerst relevant für alle unmittelbar sozialwissenschaftlich arbeitenden Disziplinen, aber auch für ForscherInnen, die sich in anderen Disziplinen mittelbar sozialwissenschaftlicher Forschungszugänge bedienen.
Literatur
- Ballstaedt, S.P. (1982): Dokumentenanalyse, in: Huber, G.L., Mandl, H. (Hrsg.): Verbale Daten. Einführung in die Grundlagen und Methoden der Erhebung und Auswertung, Weinheim, Basel: Beltz, S. 165–176.
- Glaser, E. (2013): Dokumentenanalyse und Quellenkritik, in: Friebertshäuser, B., Langer, A., Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim, München: Juventa, S. 365–375.
- Hoffmann, N. (2012): Dokumentenanalyse, in: Dörner, O., Schäffer, B. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung, Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 395–406.
- Prior, L. (2003): Using Documents in Social Research. New Delhi, India: SAGE.
- Meyer, T., Flick, U. (2017): Methoden der qualitativen Forschung, in: Pfaff, H., Neugebauer, E., Glaeske, G., Schrappe, M. (Hrsg.): Lehrbuch Versorgungsforschung. Systematik – Methodik – Anwendung. 2., vollständig überarbeitete Auflage, Stuttgart: Schattauer, S. 77–83.
- Wolff, S. (2008): Dokumenten- und Aktenanalyse, in: von Kardorff, E., Steinke, I., Flick, U. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 502–513.
Rezension von
PD Dr. phil. Ulf Sauerbrey
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Jena und Privatdozent an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Es gibt 20 Rezensionen von Ulf Sauerbrey.
Zitiervorschlag
Ulf Sauerbrey. Rezension vom 21.08.2018 zu:
Nicole Hoffmann: Dokumentenanalyse in der Bildungs- und Sozialforschung. Überblick und Einführung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2018.
ISBN 978-3-7799-3800-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24713.php, Datum des Zugriffs 05.10.2023.
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