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Brigitte Boothe, Eckhard Frick: Spiritual Care

Rezensiert von Helmwart Hierdeis, 08.08.2018

Cover Brigitte Boothe, Eckhard Frick: Spiritual Care ISBN 978-3-280-05623-3

Brigitte Boothe, Eckhard Frick: Spiritual Care. Über das Leben und Sterben. Orell Füssli Verlag (Zürich) 2017. 188 Seiten. ISBN 978-3-280-05623-3. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.

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Thema

Die Züricher Klinische Psychologin und Psychoanalytikerin Brigitte Boothe legt zusammen mit dem Münchner Psychiater, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker und Katholischen Priester Eckhard Frick unter dem Titel „Spiritual Care“ ein Buch „Über das Leben und Sterben“ (Untertitel) vor. Beide begegnen in ihrer Praxis nicht nur zahllosen Facetten unerfüllten Lebens, sondern stets auch Menschen, die, über konkrete Nöte im Augenblick hinaus, unter dem Eindruck der Sinnlosigkeit des Lebens, zerstörten Hoffnungen und Zukunftsängsten leiden – besonders dann, wenn das Lebensende naht. Leben angesichts der Sterblichkeit, Sterben mit Blick auf das gelebte Leben und als Teil dieses Lebens: der Untertitel verweist auf den unauflöslichen Konnex.

Aufbau und Inhalt

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Die Annäherung an das Thema erfolgt von fünf Seiten her, indem die Autoren

  1. die Bedeutung des Erzählens für das psychische und körperliche Befinden hervorheben,
  2. die Bindungsbedürfnisse des Menschen und notwendige Beziehungsantworten darauf in den Vordergrund rücken,
  3. in Abschiedsbriefen von Menschen, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt haben, den Wünschen nach Grenzüberschreitung und Lebensbilanz nachgehen,
  4. ihr Verständnis von Spiritual Care theoretisch begründen und
  5. in Dialogform Möglichkeiten erörtern, wie in der Begleitung Sterbender deren Sehnsucht nach Sinnfindung, Entlastung und Unendlichkeit zur Sprache gebracht und mitgetragen werden kann.

Zu 1. Das Thema „Erzählen“ erwächst aus einer kleinen Phänomenologie der „Seele“. Einer ersten Bestimmung als „Empfänglichkeit“ in der Spannung zwischen Sein und Vergehen (27) folgt – unter Berufung auf Helmuth Plessner – eine Präzisierung im Sinne des identitätsbildenden Vermögens, Grenzen zu ziehen, anzunehmen und zu überwinden (30), das dazu befähigt, mit anderen im Geiste „der Versöhnung und des Entgegenkommens“ zusammenzuleben (29). Im Erzählen sehen Boothe und Frick die Möglichkeit schlechthin, eine solche Haltung zu praktizieren, denn in ihr vertraut sich die erzählende Person anderen an und bietet zugleich Resonanz für deren Erzählungen. Wer erzählt, wird im „narrativen Gestaltungsspiel der Lebenswirklichkeit“ (55) Teil einer Gemeinschaft, von der und in der die Seele leben kann. Das gilt generell, besonders aber für den älteren Menschen, der im Erzählen sichtbar macht, dass er in eine neue Entwicklungsphase eingetreten ist (37).

Zu 2. Die Seele als „Empfänglichkeit und Resonanzbereitschaft, Beziehungs- und Erfahrungsoffenheit“, als „Fähigkeit, […] sich selbstvergessen vertiefen und sich überlassen zu können“ (11), ist das mögliche Ergebnis von gelungenen Beziehungen. Boothe und Frick erinnern daran, dass Lebenssicherheit (Vertrauen in sich selbst und in die Welt) nur über Bindung und Mentalisierung von Anfang an zu gewinnen ist. Das Angewiesensein des Menschen auf angemessene Beziehungen ist so umfasssend, dass an vielen späteren körperlichen Beschwerden und Krankheiten die frühen Beziehungsschicksale abgelesen werden können (65). Wie erschüttertes Vertrauen selbst im Alter und angesichts des Todes noch einmal kreativ gewendet werden kann, verdeutlichen die Autoren an Beispielen aus ihren Therapien, in denen die Patienten die Erfahrung machen dürfen, dass sie empathisch, verstehend und sichernd begleitet werden.

Zu 3. Unter „Suizid“ verstehen Boothe und Frick mit James Hillman den „Versuch, […] von der Ebene des Werdens zur Ebene des Seins zu gelangen“ (113) und damit die Erfüllung einer Ursehnsucht der menschlichen Seele selbst in die Hand zu nehmen. In der Analyse von Abschiedsbriefen, von Menschen verfasst, die ihrem Leben ein Ende gesetzt haben, tritt ihnen das Phänomen des Grenzbewusstseins deutlich entgegen: das Bisherige hinter sich zu lassen, sich der Lebensgeschichte, wie sie im Augenblick erscheint, zu vergewissern, deren Deutung unwidersprochen anderen zu vermitteln und sich eine Zukunft vorzustellen (auch wenn die Imagination nur ein Nein zur Gegenwart enthält), sowie die Erwartung, eine ungeahnte Wandlung zu erleben. Aber: „Nicht alle Suizidanten wollen sterben“ (114). Oft sei der bekundete Todeswunsch auch ein verdecktes Bekenntnis zum Leben. Die wichtigste Form der Suizidprophylaxe sei es (noch einmal mit Hillman) nicht, „den Tod zu verhindern“, sondern nach Wegen zu suchen, die „das Leben ermöglichen“ (115). „Dazu gehört, dass er (der Therapeut, H. H.) mit der Angst des Patienten und mit der eigenen Angst vor dem Suizid des Patienten umgehen kann“ (115).

Zu 4. Die durch den Suizid bei den Hinterbliebenen ausgelöste Sinnfrage sehen Boothe und Frick als „spirituelle Krise“ an (136). Damit schlagen sie einen Bogen zu ihrem Zentralthema, das auch alle anderen Kapitel durchzieht. Unter „Spiritual Care“ verstehen sie einerseits ein ganzheitliches Handlungskonzept, das physische, psychosoziale und spirituelle Elemente einschließt und auf religions- und weltanschauungsübergreifenden „Sinnentwürfen“ (139) beruht. Es zielt darauf ab, „Ausdrucksformen des seelischen Lebens zu eröffnen und ihm Gestaltungsraum in der Beziehung zu geben“ (139). „Spiritual Care“ ist andererseits eine Haltung der Präsenz, des Zuhörens und der Achtsamkeit, die sensibel macht für die spirituellen Bedürfnisse von Kranken und Sterbenden, zum Beispiel für ihre auf Unendliches bezogenen Sehnsüchte (150). Bei den betreuenden und pflegenden Personen setzt „Spiritual Care“ – in Anlehnung an Michel Foucault – die Bereitschaft und Fähigkeit zur „Selbstsorge“ voraus (144).

Zu 5. Im letzten Kapitel gehen Boothe und Frick von der Abhandlung in den Dialog über, um auf diese persönliche Weise ihre beiderseitigen Erfahrungen in „Spirital Care“ und „Palliative Care“ zum Thema „Die Seele zwischen Leben und Tod“ zu vermitteln. Mit Sigmund Freud gehen sie dem Vermögen der Psyche nach, real Verlorenes durch Symbolisierung zu bewahren (156), und mit C.G. Jung bedenken sie die Möglichkeit, den Tod nicht nur als „Endpunkt“, sondern auch als „Zielpunkt“ zu begreifen (159). In ihren Gesprächen mit Heimbewohnern treten ihnen zwei konträre Einstellungen zum Leben in einer solchen Exclave entgegen: Niedergeschlagenheit und das Gefühl, ständig auf den Tod hingewiesen zu werden, und die Entdeckung bisher ungeahnter Integrationsfähigkeiten. Ihre eigenen begleitenden Interventionen sind von der Absicht geleitet, die verborgenen Sehnsüchte nach dem Unendlichen zur Sprache bringen zu lassen, in welcher Form auch immer sie erkennbar werden.

Diskussion

Es macht einen erheblichen Unterschied aus, ob die Frage nach der Spiritualität in Form von theologischen oder philosophischen Abstraktionen diskutiert wird oder ob sie sich in der Begegnung mit Menschen stellt, die in Lebenskrisen stecken oder den Tod vor Augen haben. Wissenschaft braucht und will begriffliche Eindeutigkeit; aber das Leben kann nicht einfach auf den Begriff gebracht werden.

Brigitte Boothe und Eckhard Frick kennen, wie sie immer wieder zeigen, die einschlägigen Diskurse. Die Erfahrungen, Gefühle, Leiden und Bedürfnisse der Menschen vor Augen, die sie begleiten, wägen sie die Fruchtbarkeit der Theorien und deren normative Implikationen nüchtern ab, beziehen Erfahrungen aus anderen Kulturen mit ein und greifen immer wieder auf den schier unerschöpflichen Reichtum an spirituellem Wissen in Märchen und Dichtung zurück, um sich vor Augen zu führen, was der Kern der Sorge für das Seelenleben anderer zu sein hat: Resonanz, Verstehen, Mitfühlen, Entlasten, Ermutigung, zur Sprache verhelfen, in Beziehung halten. Dabei bedienen sie sich einer Sprache, die ihre Herkunft aus Wissenschaft und Klinik nicht verleugnet, die aber über die Profession hinaus verständlich ist. Sie verrät: Ihnen geht es nicht um etwas, sondern um leibhaftige Menschen.

Zwei Aspekte hätten für meine Bedürfnisse deutlicher angesprochen werden sollen:

  1. Welche Rolle spielt bei der Begleitung von Menschen, die dem Tod entgegengehen, dass sie uns unser eigenes Sterben vorleben?
  2. Was geschieht, wenn wir in unseren Bemühungen um Spiritual bzw. Palliative Care scheitern, weil die Betroffenen sich unserem Beziehungsangebot verweigern?

Für beide Themen wäre im Gespräch zwischen den beiden Protagonisten Raum gewesen.

Fazit

Brigitte Boothe und Eckhard Frick ist es gelungen, eine weit über Medizin, Pflege und Therapie hinausreichende Leserschaft anzusprechen. Was sie als „Spiritual Care“ beschreiben und reflektieren, ist nicht nur eine Hilfe für Professionelle, sondern bietet jedermann die Chance, sein Seelenleben und seine Beziehungen zu anderen deutlicher zu sehen – von der Ermutigung zur Veränderung ganz abgesehen.

Rezension von
Helmwart Hierdeis
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Es gibt 21 Rezensionen von Helmwart Hierdeis.

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ISSN 2190-9245