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Gerald Hüther, Uli Hauser: Würde. Was uns stark macht - als Einzelne und als Gesellschaft

Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 15.08.2018

Cover Gerald Hüther, Uli Hauser: Würde. Was uns stark macht - als Einzelne und als Gesellschaft ISBN 978-3-8135-0783-6

Gerald Hüther, Uli Hauser: Würde. Was uns stark macht - als Einzelne und als Gesellschaft. Albrecht Knaus Verlag (München) 2018. 188 Seiten. ISBN 978-3-8135-0783-6. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.

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Anlass und Thema

Dieses persönlich gehaltene Buch von Gerald Hüther ist kein wissenschaftliches Werk, sondern entstand aus seiner langjährigen Beobachtung und Wahrnehmung der Entwicklung von Welt und Menschen. Ob es sich auf das Verhalten gegenüber anderen Menschen oder der Umwelt bezieht – Hüther spürt in diesem Buch der These nach: verletzt nicht jeder, der die Würde eines anderen Menschen verletzt, in Wirklichkeit seine eigene Würde?

Autor

Gerald Hüther, geb. 1951, zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland. Er ist wissenschaftlich national wie international renommiert, schreibt außerdem Sachbücher, hält viele Vorträge und ist als Berater tätig. Er war Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen.

Aufbau

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalt

Ein kurzes Vorwort skizziert anhand von ein paar Zeitdiagnosen die Ausgangssituation, in der wir uns befinden, wohlwissend, dass für die (nahe) Zukunft dringend Lösungen her müssen, gleichwohl aber alles so weiterläuft. Es bedarf eines „inneren Kompasses“ (S. 19) für jeden Menschen, damit im Bewusstsein, Verhalten und Handeln eine Ordnung von dem entsteht, was den einzelnen Menschen und ihn im Zusammenleben mit anderen Menschen auf diesem Planeten ausmacht: „Für diese Orientierung bietende, vor jeder Art von Durcheinander im Heim schützende und deshalb den Energieverbrauch dauerhaft reduzierende Vorstellung gibt es im Deutschen einen wunderbaren, wenngleich schon fast vergessenen Namen: ‚Würde‘“ (S. 20). Und weiter: „Wer sich seiner eigenen Würde bewusst wird, ist nicht mehr verführbar“ (S. 21). Anders als viele andere Publikationen zu dem Thema will Hüther das Thema nicht aus geisteswissenschaftlicher, sondern aus naturwissenschaftlicher Perspektive beleuchten.

Das 1. Kapitel zeichnet die Ausgangslage nach, die Hüther auf die Formel „würdelos“ bringt. Er beschreibt, wie seine Liebe und Faszination für die Natur entstanden ist, was ihn u.a. zum Biologiestudium brachte. Außerdem stellt er fest, dass in seinem Wohnumfeld heute viele Insekten (z.B. Bienen) und (Wild-) Pflanzen nicht mehr vorhanden sind aufgrund des massiven Einsatzes von Pestiziden. Er benennt weiter die riesige (soziale) Ungerechtigkeit auf der Welt, die entfesselten Ambitionen einiger Neurobiologen (Klonen), die Digitalisierung als neue Akkordarbeit und der Evaluierungswahn, des Primat der Wirtschaftlichkeit in einer Gesundheitsindustrie, das Internet als Forum für Demütigungen und Mobbing, die Manipulation durch Werbung, Schule und Lernen, wo bekanntlich alle Erkenntnisse zu Lernumgebung und Lernen als Prozess beharrlich ignoriert werden, die Phantasien zur Perfektionierung des Menschen (Transhumanisten) und die anhaltenden Zustände in der Umweltzerstörung trotz neuer Gesetze, Regeln und Verabredungen. „Was also müsste einem Menschen wiederfahren, der dabei ist, die Vielfalt des Lebens auf dieser Erde zu zerstören oder das im Lebendigen, also auch in jedem Menschen angelegte Entwicklungspotenzial zu unterdrücken? Er müsste Gelegenheit bekommen, sich zu fragen, ob das, was er tut und wie er lebt, dem entspricht, was er als seine Würde betrachtet“ (S. 44). Und zwar auf den Ebenen Denken, Handeln und Fühlen.

Im 2. Kapitel macht Hüther einem par-force-Ritt durch die Geschichte, womit er einerseits zeigt, dass der Begriff der Würde eher aus der Neuzeit stammt, während ähnliche Begriffe der Antike zwar als Annährung verstanden werden könnten, aber der Begriff für sich nicht existierte. Außerdem waren es meistens Zuschreibungen an Personen (Status, Ämter etc.), die verlangten, dass sich andere Personen (Abhängige, Untertarnen usw.) in einer bestimmten Art und Weise zu ihnen verhalten. Würde als Begriff, der an die jeweilige Person gebunden ist, taucht erstmalig ausführlicher beschrieben bei Kant auf. Spätestens mit der Erklärung der Menschenrechte (1948) ist Würde als Begriff auch in die Politik eingezogen, was sich in Deutschland auch in dem Verfassungen der Bundesländer und dem Grundgesetz niedergeschlagen hat.

Die Plastizität des Gehirns als Potenzial, lebenslang zu lernen und sich vielen veränderten Bedingungen anzupassen, ist eine besondere Fähigkeit der Spezies Mensch. Außerdem ist er ein soziales Wesen und lernt durch die Begegnungen mit anderen Menschen (Kapitel 3). Keine wie auch immer geartete Ideologie (Religion, Politik, Totalitarismus) hat es vermacht, Menschen dauerhaft in eine bestimmte Richtung zu lenken und zu formen. Daher bleibt es wichtig, das in uns zu entdecken, was uns Menschen ausmacht: „Die einzige, alle Menschen in all ihrer Verschiedenheit verbindende Vorstellung kann nur die von ihnen selbst gemachte Erfahrungen ihrer eigenen Würde als Mensch zum Ausdruck bringen. Das zutiefst Menschliche in uns selbst zu entdecken, wird somit zur wichtigsten Aufgabe im 21. Jahrhundert (S. 83)“. „Unsere Vorstellung von der Würde des Menschen ist also der in einem Begriff fassbare und bewusst erkennbare Ausdruck einer uns Menschen eigenen, in der inneren Organisation und Arbeitsweise unseres Gehirns verankerten Anlage“ (S. 87). Leider bedarf es manchmal auch Krisen und ähnlich einschneidender Ereignisse anderen Ende oder zu deren Bewältigung eine Rückbesinnung auf Würde als zentrales Moment des Mensch-Seins führt.

Das menschliche Gehirn, so Hüther im 4. Kapitel, ist eigentlich darauf angelegt, möglichst wenig Energie einzusetzen, um das eigene Überleben zu sichern. Das führt auf der einen Seite zu Komplexitätsreduktionen (und Mechanismen wie Verdrängung, Leugnen etc.) und auf der anderen Seite zur Herausbildung von Automatismen, die wir verrichten, ohne erneut darüber nachzudenken (z.B. Laufen). Das gilt auch für Haltungen und Einstellungen, denn jeder strebt eine größtmögliche Form von Kohärenz an. Das kann nur gelingen, wenn jeder ein stabiles Selbst entwickelt und eine sinnstiftende Identität besitzt. Dazu gehören auch andere Personen, an denen wir uns orientieren und lernen, unser Zusammenleben zu gestalten. „Wenn es uns gelingt, diese Vorstellung mit der Vorstellung unserer jeweiligen Identität zu verknüpfen, entsteht in unserem Hirn dieses besondere Metakonzept, dieses innere Bild, das wir mit dem Begriff und der Vorstellung unserer Würde verbinden“ (S. 103).

Im Gegensatz zu Tieren, Hüther erläutert das am Beispiel von Pfaden im 5. Kapitel, hat der Mensch kein vorprogrammiertes Hirn, was bei Geburt durch ein Bedürfnis aktiviert wird und dann steuernd und lenkend abläuft. Der Säugling besitzt pränatale Vorerfahrungen (z.B. Annahme oder Ablehnung durch die Mutter), muss er ansonsten alles von den Menschen lernen. Dieses gelernte, besonders in der frühen Kindheit, prägt sich in das Gehirn ein und ist Grundlage für späteres Verhalten: wer misshandelt wurde, neigt später auch leicht dazu, andere zu misshandeln.

Zwei Grunderfahrungen sind pränatal prägend auf der ganzen Welt: die Erfahrung engster Verbundenheit mit anderen Menschen und die Erfahrung des eigenen Wachstums. Selbst Säuglinge wissen schon (und fordern ein), was sie neben der Befriedigung von Hunger, Durst und Schlaf benötigen: Anerkennung, Zuwendung (Kapitel 6). Die dabei gemachten Erfahrungen werden als Prägung im Gehirn verankert. Das wird ergänzt durch das Erleben der eigenen Subjektfertigkeit: das Erleben von sich im Kontext von Gemeinschaft. Werden eher Erfahrungen gemacht, die darin bestehen, eigene Vorteile zu sichern, so ist es eine Prägung für das Leben auf Kosten anderer. Wer selber als Objekt betrachtet wurde, erlebt seine Kindheit als Schmerz und dem wird vorenthalten, was das Mensch-Sein ausmacht: das zutiefst menschliche Grundbedürfnis: Zugehörigkeit und Verbundenheit als auch nach Autonomie und Freiheit (vgl. S 123). Die heutige Ellbogengesellschaft führt zu getriebenen Menschen, die sich nur durch Vorteile für sich gegenüber anderen selbst definieren und behaupten. Menschen, die sich ihrer Würde bewusst sind, müssen andere Menschen nicht zu Objekten machen oder sich durch besondere Produkte einen bestimmten Status verschaffen.

Das Bewusstsein über die eigene Würde ist prinzipiell im Gehirn angelegt und wird durch positive Erfahrungen in das Bewusstsein gehoben oder kann durch negative Erlebnisse verborgen bleiben (Kapitel 7). Spätere positive Erfahrungen ermöglichen das Abrufen der Strukturen von Würde, die, je bewusster sie einem selber ist, desto prägnanter ausgebildet wird. Allerdings, so Hüther, verschieben sich oft die Maßstäbe bei der Beurteilung der Würde anderer (z.B. Straftäter, korrupte Menschen etc.). Hüther stellt die provokante Frage, wieviel Strafe notwendig ist, damit ein geschädigter Mensch seine Würde wieder erlangt. Er zeigt auf, dass das eine sinnlose Diskussion ist: „Seine Würde als Mensch kann man nur selbst verletzen“ (S. 141).

Im 8. Kapitel stellt Hüther fest, dass unser ganzes Bildungssystem einerseits auf Anpassung und andererseits auf Leistung angelegt ist, also nicht dazu beiträgt, dass sich ein Mensch in seiner Individualität und dem Bewusstsein seiner Würde entwickelt: „Heranwachsende können unter diesen Bedingungen nur genauso würdelos werden wie diejenigen, die maßgeblich für das sind, was in diesen Bildungseinrichtungen geschieht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie später, als Erwachsene, dem so entstandenen Mangel eines Bewusstseins ihrer Würde in ihrem Denken und Handeln zum Anspruch bringen, auch dann, wenn sie ihre Ausbildung mit Bestnoten abgeschlossen haben und in Führungspositionen gelandet sind“ (S. 156). Er plädiert daher für eine Zeitenwende: Menschen, die sich ihrer Würde bewusst sind, sollen öffentlich Stellung beziehen und darauf aufmerksam machen.

Angesichts des Zustands der Welt und der technologischen Entwicklungen kann der Mensch es sich nicht mehr leisten, die Welt nach seinen Bedingungen zu ändern/anzupassen, sondern wir müssen uns selbst verändern, um die Welt zu erhalten und lebenswerter zu machen (Kapitel 9). Am Beispiel des ehemaligen Ostblocks weist Hüther auf umwälzende Veränderungen hin, zeigt aber auch auf, dass Menschen in diesem Prozess nicht Objekte bleiben (müssen), sondern als Subjekte angesehen werden, damit sie ihr Potenzial und ihre Würde entfalten können: „Würdevolle Menschen erleben sich aus sich selbst heraus als Wertvoll und bedeutend“ (S. 174). Anders als Pflanzen und Tiere sind Menschen in der Lage Vorstellungen zu entwickeln, worauf es in ihrem Leben und ihrem Zusammenleben ankommt (vgl. S. 177), dazu gehört auch Raum für Insekten und Pflanzen, die durch agrotechnische Bewirtschaftung vielfach verschwunden sind (s. den Anfang dieser Rezension).

Das letzte Kapitel 10 ist ein Appell, anders (freundlicher, zugewandter) auf andere Menschen zuzugehen und zu überlegen, wo man selber sein Leben im Sinne eigener würde ändern kann. Hüther stellt die provokante Frage: „Wie wäre es, in Würde zu leben, bevor wir in Würde sterben?“ (S. 179).

Diskussion und Fazit

Wieder ein Buch von Gerald Hüther, das uns mahnt und aufruft, unser Zusammenleben zu überdenken und anders zu gestalten. Es hat viele Bezüge zu seinem Buch Kommunale Intelligenz (www.socialnet.de/rezensionen/23596.php), wenngleich die Schwerpunkte jeweils andere sind, aber als Grundtenor schwingt die Frage des künftigen Zusammenlebens und des Miteinanders mit. Dass diese Frage berücksichtigt und dringend notwendig ist, ist unbestritten, dafür ließen sich viele Belege anführen.

Die Argumentationen in dem Buch sind einleuchtend. Als medizinischer Laie vermag ich nicht zu beurteilen, ob die prinzipielle neurophysiologische Verankerung tatsächlich so vorhanden ist, wie Hüther es darstellt. Aus Sicht eines lehrenden Sozialpädagogen wurde dieses weitläufig unter Erziehung/Bildung/Sozialstation den Studierenden vermittelt, allerdings ohne Bezug zur Neurophysiologie. Als langjähriger Pflegevater wirft sich mir die Frage auf, warum es nur sehr schwer gelingt, frühkindliche negative Manifestationen sich selbst und/oder Anderen gegenüber abzulegen trotz langjähriger positiver Erfahrungen mit guter Bindung in der Pflegefamilie.

Man kann Hüther vorwerfen, er macht es sich zu leicht. Globalisierung, weiter zunehmende Kapitalisierung, Digitalisierung in allen Lebensbereichen sowie fatale anthropologische Entwürfe (Flüchtlingsdebatte) haben eine Eigendynamik erreicht, die kaum noch einholbar ist. Das hat sicherlich seine Berechtigung, aber sich in Fatalismus ergeben ist auch keine Lösung. Dafür ist das Buch gut: Wenn es als Anlass genommen wird, miteinander in Diskussion zu treten, nicht nur auf Andere zu verweisen, sondern sich auch selber meinen, wenn daraus ein anderes Bewusstsein und letztendlich Verhalten entsteht, wenn das sogar als Multiplikator wirken kann, dann ist ein Anfang gemacht. Es ist dem gut lesbarem Buch zu wünschen, dass es eine breite, rezipierende Leserschaft findet und auch als eher unakademisches Buch in den Fachschulen und Hochschulen eine wichtige Diskussionsgrundlage wird.

Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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Es gibt 97 Rezensionen von Stefan Müller-Teusler.

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ISSN 2190-9245