Werner Freigang, Barbara Bräutigam et al.: Gruppenpädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Marius Metzger, 11.01.2019

Werner Freigang, Barbara Bräutigam, Matthias Müller: Gruppenpädagogik. Eine Einführung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2019.
140 Seiten.
ISBN 978-3-7799-2685-6.
D: 16,95 EUR,
A: 17,50 EUR,
CH: 23,90 sFr.
Reihe: Basistexte Erziehungshilfen.
Thema
Das Buch widmet sich einem im Fachdiskurs der letzten Jahre vernachlässigten Thema, welches zunehmend wieder an praktischer Bedeutung gewinnt. Ausgehend von allgemeinem Wissen zu Gruppen und deren Merkmale, soll es spezifisches Wissen für die Praxis der Hilfen zur Erziehung mit Gruppen vermitteln. Die Autorenschaft versteht das Buch allerdings nicht als Anleitung für die erfolgreiche Arbeit mit Gruppen, sondern vielmehr als eine Strukturierungs- und Bewältigungshilfe: „Dieses Buch will und kann keinen Leitfaden vermitteln, wie man sich als Mitarbeiter*in im Gruppenalltag behaupten und durchsetzen kann, will aber helfen, den Alltag und spezifische Situationen und Phasen in Gruppen zu verstehen, und Hinweise geben, wie es möglicherweise gelingen kann, die Arbeit mit Gruppen zu strukturieren und besser zu bewältigen“ (S. 11).
Autoren und Autorin
- Prof. Dr. Werner Freigang ist Dekan an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung.
- Prof. Dr. Barbara Bräutigam ist Professorin für Psychologie, Beratung und Psychotherapie an der Hochschule Neubrandenburg.
- Prof. Dr. Matthias Müller ist Professor für Pädagogik, Sozialpädagogik und Hilfen zur Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg.
Aufbau und Inhalt
Ausgehend von einleitenden Überlegungen zur Notwendigkeit des vorgelegten Buches wird der Aufbau des Buches begründet. Anschließend finden sich in einem Glossar mit „Gruppe“, „Gruppenpädagogik“ und „Soziale Gruppenarbeit“ die wichtigsten in vorliegendem Buch verwendeten Begriffe geklärt. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Im ersten Kapitel werden mittels einer Zusammenfassung der Erkenntnisse aus der Kleingruppenforschung der letzten Jahrzehnte die folgenden, grundlegenden Eigenschaften und Merkmale von Gruppen beschrieben: Einstellungen und Vorurteile in Gruppen, Gruppendruck und Konformität sowie Leistungsbereitschaft in Gruppen inklusive des Phänomens der Deindividuation. Ergänzt wird diese zusammenfassende Darstellung der Eigenschaften und Merkmale von Gruppen, um Überlegungen zur Entwicklung von Gruppenzugehörigkeiten im Lebenslauf zu erwachsenen Bezugspersonen, Geschwistern und Peers. Zudem finden sich in diesem Kapitel auch Skizzen konkurrierender Gruppentheorien sowie Ausführungen zum Lernfeld „Gruppe“.
Das zweite Kapitel widmet sich der Beschreibung von Gruppen als Gegenstand von Pädagogik und Sozialer Arbeit. Gruppendynamik, Gruppenprozess sowie Gruppenstruktur sind hier mit verschiedenen Modellen, Konzepten und Techniken zu fassen versucht worden: Die Gruppendynamik mit dem Johari-Fenster sowie dem ILDIKO-Konzept, der Gruppenprozess mit dem Modell der themenzentrierten Interaktion sowie dem Development-Modell und die Gruppenstruktur mit dem Riemann-Thomann-Kreuz. Anschließend werden diese Modelle, Konzepte und Techniken für die Arbeit mit Gruppen fruchtbar zu machen versucht. Ergänzt wird das Kapitel um Ausführungen zu sozialen Rollen in Gruppen und Gruppentypen der Sozialen Gruppenarbeit.
Im dritten Kapitel werden Geschichte und Konzepte der Sozialen Gruppenarbeit und der Gruppenpädagogik nachgezeichnet. Das Kapitel endet mit einem Kurzbeschrieb aktueller und populärer gruppenpädagogischer Konzepte. Dieses dritte Kapitel folgt dabei ganz bewusst erst nach dem ersten und zweiten Kapitel. Die Autorenschaft begründet dies wie folgt: „Gewöhnlich erwartet man die Geschichte eines Arbeitsfeldes zu Beginn eines Bandes. Bei dieser Thematik erscheint es uns allerdings so, dass die Rückbezüge zu den Wurzeln aktueller Ansätze so stark ausgeprägt ist, dass sich der unmittelbare Zusammenhang zwischen historischen und aktuellen Ansätzen auch in der Gliederung wiederfinden sollte“ (S. 13).
Das vierte Kapitel fokussiert auf die Arbeit mit Gruppen in den Hilfen zur Erziehung. Hierzu werden eingangs Besonderheiten von Gruppen in den Hilfen zur Erziehung dargestellt, die sich aus strukturellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen ergeben, wie beispielsweise das Paradoxon, dass die Gruppenunfähigkeit eines jungen Menschen sowohl Anlass für die Aufnahme in einer Gruppe wie auch für deren Ausschluss darstellen kann. Anschließend wird eine Differenzierung von Gruppenpädagogik in den Hilfen zur Erziehung zu entwickeln versucht, um abschließend aktuelle Konzepte der Gruppenpädagogik in den Hilfen zur Erziehung zu integrieren.
Im fünften und letzten Kapitel ziehen die Autoren das folgende Fazit: „Ob der Aufenthalt in einer Heim- oder Tagesgruppe als Chance für die Betroffenen zu bewerten ist oder als etwas, das es irgendwie zu überstehen gilt, hängt nicht zuletzt von der Qualität der Gruppenpädagogik ab“ (S. 159). Um diese Qualität sicherzustellen, müssen günstige Voraussetzungen sowohl auf Ebene der Institution wie auch auf Ebene der Mitarbeitenden gegeben sein, wozu die Autorenschaft auch Vorschläge macht: So soll etwa die Kontinuität der Gruppenzusammensetzung mit einer Veränderung des Finanzierungssystems geändert werden, indem für die einzelnen Gruppenmitgliedern Jahressätze statt Tagessätze ausgerichtet werden.
Diskussion
Die Notwendigkeit für das vorgelegte Buch wird nachvollziehbar mit der irritierenden Tatsache begründet, dass das Thema Gruppenpädagogik im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit in den letzten Jahren kaum aufgegriffen wurde, obwohl die Gruppenpädagogik zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Autorenschaft vermutet nach Sichtung der seltenen Fachbeiträge der letzten Jahre zu ebendiesem Thema, dass sich die Grundlagen der gruppenpädagogischen Methodik möglicherweise so erfolgreich und selbstverständlich etabliert haben, dass sie nicht mehr eigens thematisiert werden.
Dieser Selbstverständlichkeit mit der Vertrautheit der Grundlagen gruppenpädagogischer Methodik begegnet die fachlich versierte Leserschaft dann insbesondere im zweiten Kapitel, in welchem sie etwa mit dem Johari-Fenster oder dem Riemann-Thomann-Kreuz alten Bekannten gegenübersteht. In diesem zweiten Kapitel werden zum ersten Kapitel Bezüge gemacht, in welchem relevantes Wissen aus der Kleingruppenforschung zusammenfassend wiedergegeben ist. Hier erweist sich insbesondere die Thematisierung von lebenslaufabhängigen Veränderungen in den Bedürfnissen der Gruppenzugehörigkeit als interessant, wenngleich die Bezugnahme auf die Maslowsche Bedürfnispyramide als Rahmenmodell veraltet erscheint. Beim Einbezug der Maslowschen Bedürfnispyramide scheint es sich allerdings um eine bewusste Entscheidung der Autorenschaft zu handeln: „Wir lassen hier außer Acht, dass dieses Modell heute unter Motivationspsycholog*innen als zu wenig differenziert gilt, da es für unsere Fragestellung völlig ausreicht“ (S. 43). Diese Argumentation erscheint aus pragmatischer Perspektive durchaus plausibel, wenngleich es auch alternative Modelle wie etwa das Konsistenzmodell von Klaus Grawe gegeben hätte, welche sich meines Erachtens auch unter einer pragmatischen Perspektive als für das Buch geeignet erwiesen hätten.
Besonders positiv hervorzuheben sind das hervorragende dritte und vierte Kapitel zur Geschichte der Gruppenpädagogik und Sozialen Gruppenarbeit respektive zur Relevanz von Gruppenpädagogik und Sozialer Gruppenarbeit in den Hilfen zur Erziehung. Hier sind die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre ausgezeichnet und prägnant aufbereitet. Kritikpunkte lassen sich in diesen zwei Kapitel nicht wirklich ausmachen, außer vielleicht eine Detailkritik zur nicht ganz plausiblen Einreihung von Lothar Kannenbergs Gruppenangebot „Durchboxen im Leben“ in fachlich etablierte gruppenpädagogische Konzepte. Es stellt sich hier die im Buch nicht beantwortete Frage, inwiefern es sich bei Lothar Kannenbergs Gruppenangebot überhaupt um ein gruppenpädagogisches Konzept handelt? Also, um ein Handlungsmodell im Geisslerschen Sinn, in welchem Ziele, Inhalte, Methoden und Verfahren in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht sind. Zudem stellt sich auch die Frage, inwiefern Lothar Kannenbergs Gruppenangebot im Gegensatz zu gruppenpädagogischen Konzepten wie etwa jenes der gerechten Gemeinschaften außerhalb Deutschland überhaupt wahrgenommen worden ist.
Fazit
Das Buch „Gruppenpädagogik. Eine Einführung“ hält, was es verspricht: Es handelt sich um eine gelungene und verdichtete Einführung in die Gruppenpädagogik. Wichtigste Erkenntnisse aus der Kleingruppenforschung werden hier genauso wiedergegeben, wie auch bekannte Möglichkeiten zur Darstellung des Gruppengeschehens. Die Geschichte der Gruppenpädagogik und Sozialen Gruppenarbeit ist prägnant dargestellt und aktuelle Bezüge zur Gruppenpädagogik und Sozialer Gruppenarbeit in den Hilfen zur Erziehung runden das Buch ab.
Rezension von
Prof. Dr. Marius Metzger
Verantwortlicher Kompetenzzentrum Erziehung, Bildung und Betreuung in Lebensphasen am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
Website
Mailformular
Es gibt 17 Rezensionen von Marius Metzger.