Friedrich Schweitzer, Golde Wissner et al.: Jugend - Glaube - Religion
Rezensiert von Prof. Dr. Josef Freise, 20.09.2018
Friedrich Schweitzer, Golde Wissner, Annette Bohner, Rebecca Nowack, Matthias Gronover, Reinhold Boschki: Jugend - Glaube - Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2018.
284 Seiten.
ISBN 978-3-8309-3776-0.
24,90 EUR.
Reihe: Glaube, Wertebildung, Interreligiosität - Band 13.
Thema
Die von Friedrich Schweitzer, Golde Wissner, Annette Bohner, Rebecca Nowack, Matthias Gronover und Reinhold Boschki verantwortete Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht will dem Defizit bisheriger Jugendstudien (wie der Shell-Jugendstudien) entgegenwirken, das darin besteht, die religiöse Orientierung Jugendlicher nur am Rande zu thematisieren.
Weil den kleineren empirischen Studien zur Religiosität Jugendlicher die Repräsentativität fehle, will die Tübinger Studie ein differenziertes Bild religiöser Orientierungen Jugendlicher exemplarisch am Beispiel des Bundeslandes Baden-Württemberg geben. Bei den befragten Jugendlichen handelt es sich um Schüler/innen, die bei der ersten Befragung in den Klassen 11 und 12 bzw. im ersten Lehrjahr waren (Schweitzer, Wissner, Boschki, Gronover 2018, 15). In der quantitativen Befragung wurden in der ersten Runde per Fragebogen Daten von 7.246 Jugendlichen erhoben; anderthalb Jahre später von 3.001 Jugendlichen. In einer explorativen qualitativen Studie wurden insgesamt 35 Gruppeninterviews mit 151 Jugendlichen und anderthalb Jahre später wurden 35 Interviews mit 141 Schüler/innen durchgeführt (Bohner 2018, 185). Ziel der zweiten quantitativen und qualitativen Befragungsrunde war es, Veränderungen von Glaubenseinstellungen und vom Verhältnis zu Religion, Kirche und Glaube zu erheben. Eine dritte Befragungsrunde ist geplant. Es wurden immer dieselben Schulen angeschrieben. U.a. durch Lehrerwechsel antworteten aber nicht immer dieselben Gruppen.
Die Antworten der Schülerinnen und Schüler beziehen sich auf ihr Verhältnis zu Sinnfragen und zu religiösen Fragen generell, zum Verhältnis zu ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft (Kirche oder Moscheegemeinde) und zur Einschätzung des Religionsunterrichts bzw. Ethikunterrichts, den sie besuchen. Die Antworten wurden auch dahingehend ausgewertet, welchen Schultyp die Jugendlichen besuchen.
Aufbau und Inhalt
Die unter dem Titel „Jugend – Glaube – Religion“ herausgegebene empirische Repräsentativstudie beinhaltet eine Einführung, einen Grundsatzbeitrag von Friedrich Schweitzer zu Jugend, Religion und Religionsunterricht, die Darstellung der quantitativen Untersuchung durch Annette Bohner und Golde Wissner, die Darstellung der qualitativen Untersuchung durch Annette Bohner und Rebecca Nowack sowie einen Anhang mit Leitfaden, Fragebogen und einzelnen Untersuchungsergebnissen. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Die Studie unterscheidet drei Jugendlichen-Gruppen.
- Zum einen gibt es die Gruppe der nicht religiösen Jugendlichen, für die der transzendentale Bezug zu einer göttlichen Realität keinerlei Rolle spielt.
- Eine zweite Gruppe bilden die Jugendlichen, die sich als gläubig bezeichnen, aber nicht als religiös.
- Als dritte Gruppe werden in der Studie die explizit religiösen Jugendlichen bezeichnet, die eine Rückbindung an ihre jeweilige Religionsgemeinschaft haben und regelmäßig an den Gebeten und Gottesdiensten ihrer Religionsgemeinschaft teilnehmen. Diese dritte Gruppe der religiösen Jugendlichen findet sich nur noch in einer kleinen Minderheit der katholischen und evangelischen Jugendlichen. Am stärksten sind religiöse Jugendliche unter den christlich-orthodoxen Jugendlichen mit Migrationsbiografie beispielsweise aus Osteuropa sowie unter den evangelikalen Jugendlichen in den Freikirchen und unter den Muslimen.
70 % der Jugendlichen denken häufig über den Sinn des Lebens nach, aber die Frage nach Gott beschäftigt die Jugendlichen „deutlich weniger als die Frage nach dem Sinn des Lebens“ (Wissner 2018, 103). Zahlenmäßig kann dies für Baden-Württemberg so belegt werden:
- Nur 22 % der (baden-württembergischen) Jugendlichen bezeichnen sich selbst als religiös, aber 41 % bezeichnen sich als gläubig (Wissner 2018, 70). Über die Hälfte der befragten Jugendlichen sagt, dass ihr Glaube nichts mit der Kirche zu tun hat.
- Es gibt positive Wertschätzung für das Wirken der Kirchen, aber auch viel Kirchenkritik und nur wenig Bindung. Am stärksten vertreten ist diese Bindung unter den – in Schwaben stark vertretenen – freikirchlichen Jugendlichen, von denen 52 % einmal die Woche oder mehr zum Gottesdienst gehen (Wissner 2018, 98). Auch unter Muslimen, von denen ein Drittel täglich betet, gibt es eine starke Rückbindung an ihre Religionsgemeinschaft. Während sich 68 % der Muslime an die Regeln ihrer Religionsgemeinschaften zu halten versuchen, sagen dies von sich nur 23 % der übrigen Befragten (Wissner 2018, 152).
Viele junge Menschen haben und suchen „einen deutlichen Zugang zur religiösen Dimension der Wirklichkeit“. Jugendlichen ist ein z.T. sogar sehr stark ausgeprägtes „Interesse an Religion oder Glaube“ eigen, „das eng mit dem Lebenskontext, der Biografie und Erfahrungen verbunden ist“ (Schweitzer, Wissner, Boschki, Gronover 2018, 34). Aufschlussreich ist der Hinweis darauf, dass Schüler/innen aus ihren persönlichen multikulturellen Erfahrungskontexten heraus eine Haltung der Offenheit und Toleranz fordern und diese Haltung auch als Erwartung an den Religionsunterricht formulieren, einschließlich der Hoffnung auf Vermittlung von interkulturellen und -religiösen Kompetenzen (Anhang S. 233).
Jugendliche wollen sich mehrheitlich ihren Glauben selber bilden und die Befragten sagen zu 31 %, man solle sich aus jeder Religion das Passende heraussuchen (Wissner 2018, 111). Muslimischen Jugendlichen ist diese individuelle Glaubenssuche eher fremd (Wissner 2018, 148). 13 % halten ihren eigenen Glauben als den einzig wahren, während 67 % meinen, dass mehrere Religionen wahr sein können (Wissner 2018, 111). 74 % geben an, dass in ihrem Freundeskreis Menschen unterschiedlicher Religion vertreten seien. Besorgnis erregend sind die Daten zur Islamfeindlichkeit und zum Antisemitismus. Ein Viertel der Jugendlichen ist der Auffassung, es gäbe zu viele Muslime in Deutschland (Wissner 2018, 114). 6 % der Befragten sagen – und sie tun dies auf dem geschichtliche Hintergrund der Vertreibung und Ermordung jüdischer Menschen im Nationalsozialismus –, es gäbe zu viele Juden in Deutschland. Bei den muslimischen Befragten äußern dies sogar 14 % (Wissner 2018, 155). Antisemitismus und Islamfeindlichkeit finden sich als Feindbilder in den berufsbildenden Schulen stärker als in den Gymnasien.
Die Studie bestätigt einerseits die bereits in den Shell-Jugendstudien konstatierte Spaltung der Jugendlichen in religiöse und nichtreligiöse Gruppen und fördert weitere Differenzierungen zu Tage: Es gibt nichtreligiös-nichtgläubige Jugendliche, es gibt nichtreligiös – gläubige Jugendliche (d.h. ohne Bezug zu einer Religionsgemeinschaft), und es gibt gläubig – religiöse Jugendliche mit enger Bindung zu ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese letzte Gruppe ist am stärksten vertreten unter den muslimischen und den freikirchlich-christlichen Jugendlichen.
Alle Jugendliche verbindet die Frage nach dem Sinn des Lebens, der je nach persönlicher Ausrichtung aus säkularer, gläubiger oder religiöser Perspektive beantwortet wird. Zwischen den Gruppen der Jugendlichen gibt es fließende Übergänge.
Beim Religions- und Ethikunterricht gibt es den Wunsch der Jugendlichen, dass die Lehrer/innen konkret auf ihre Fragen und Bedürfnisse eingehen. Der Ethikunterricht stößt insgesamt auf größere Zustimmung bei den Teilnehmer/innen als der Religionsunterricht bei den dortigen Teilnehmer/innen. Muslimische und freikirchliche Jugendliche kommen in dem jeweiligen Unterricht nicht hinreichend auf ihre Kosten, finden sich dort nicht hinreichend mit ihren Fragen wieder. Für die Muslime spiegelt sich hier wider, dass der islamische Religionsunterricht zum Zeitpunkt der Befragung den Befragten noch nicht zur Verfügung steht.
Diskussion
Die Tübinger Studie hilft, eine wissenschaftliche Lücke zu schließen, indem explizit die Religiosität der Jugendlichen in Deutschland am Beispiel von Schüler/innen Baden-Württembergs analysiert wird. Gerade auch wegen des Zuzugs Jugendlicher aus Osteuropa, dem Nahen Osten und der Türkei brauchen Jugendliche heute eine respektvolle Haltung gegenüber unterschiedlicher Religiosität und sie brauchen eine Förderung in der Entwicklung einer eigenen werteorientierten Haltung – unabhängig davon, ob diese religiös oder humanistisch geprägt ist. Anders als in der Eltern- und Großelterngeneration sind werteorientierte Angebote religiöser und weltanschaulicher Herkunft nicht mehr eindeutig. Von einer Gruppe unter den muslimischen Jugendlichen abgesehen „basteln“ sich Jugendliche ihren Glauben und ihre Weltauffassung eigenständig zusammen. Die erhobenen Feindbilder des Antisemitismus und der Islamfeindlichkeit bei einer nicht unbeträchtlichen Minderheit Jugendlicher stellen Pädagog/innen vor große Herausforderungen. Der Religionsunterricht und Ethikunterricht haben hier die Funktion, das eigene Weltbild zu stärken und zugleich Vorurteile und Feindbilder gegenüber anderen Weltbildern und religiösen Auffassungen abzuwehren.
Wie effektiv der jeweilige Unterricht ist, hängt stark von der Lehrperson ab und davon, ob diese die Schüler/innen nach deren Meinung fragt und deren Interessen einbezieht.
Dem Team um Friedrich Schweitzer gelingt es, mit der Tübinger Studie Anschluss an internationale Forschungsstandards herzustellen. Seinem Forschungsteam sind zugleich die Grenzen des regional und zeitlich begrenzten Forschungsprojekts bewusst. Es bräuchte eine Langzeitstudie, um die Wirkungen des Religions- und Ethikunterrichts zu erforschen. Die Zahl der muslimischen Teilnehmenden an der qualitativen Studie war zu schmal. Bei insgesamt nur neun in den qualitativen Interviews befragten muslimischen Schüler/innen wird das auch unter jungen Muslimen sehr heterogene Erscheinungsbild nicht widergespiegelt. In Bezug auf Muslime hat die quantitative Befragung Schwachstellen da, wo nach der Beziehung der Schüler/innen zur Kirche (und nicht zur Moscheegemeinde) gefragt wurde. Wünschenswert wäre auch, wenn im Forschungsteam eine Fachkraft aus der islamischen Religionspädagogik vertreten wäre.
Fazit und Ausblick
Insgesamt gesehen stellt die Tübinger Studie einen großen Schritt nach vorne in der Erforschung weltanschaulicher und religiöser Einstellungen Jugendlicher dar, gerade auch deshalb, weil die Ergebnisse neuen Forschungsbedarf deutlich machen. Die Frage nach dem bekenntnisorientierten Religionsunterricht müsste auf der Basis der Ergebnisse neu diskutiert werden: Jugendliche brauchen auf der einen Seite Unterstützung bei der Suche nach einer eigenen weltanschaulichen und religiösen Identität. Das spricht für einen diversifizierten nicht rein auf Wissensvermittlung ausgerichteten bekenntnisorientierten Religions- und Ethikunterricht. Zugleich brauchen Jugendliche Stärkung in Religionssensibilität und im respektvollen Umgang mit Menschen unterschiedlicher weltanschaulicher Orientierung – das spricht für einen gemeinsamen Ethik- und Religionsunterricht für alle. Der kooperative Religions- und Ethikunterricht, bei dem Religionsunterricht und Ethikunterricht in „Bekenntnisgruppen“ und gemeinsamer Unterricht für alle Schüler/innen miteinander verzahnt werden, versucht, beide Anliegen zu koppeln. Ob ein solches kooperatives Modell gelingt, ist nicht normativ zu klären, sondern müsste durch wissenschaftliche Praxisbegleitung und weitere empirische Studien untersucht werden.
Die Studie setzt für einen zukünftigen Religions- und Ethikunterricht äußerst aufschlussreiche und richtungsweisende Impulse. Die Studie kann als Plädoyer verstanden werden, möglichst viele Räume der Begegnung zu ermöglichen, im Sinne des aus der Studie resultierenden Auftrags an Religions- und Ethikunterricht, „einen Beitrag zur Identitätsfindung und Dialogfähigkeit“ zu leisten und die Chance zu erkennen, die in der unmittelbaren Begegnung von Schüler/innen in heterogener Zusammensetzung liegt (Schweitzer, Wissner, Boschki, Gronover 2018, 35).
Rezension von
Prof. Dr. Josef Freise
Professor im Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen in Köln
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Es gibt 15 Rezensionen von Josef Freise.
Zitiervorschlag
Josef Freise. Rezension vom 20.09.2018 zu:
Friedrich Schweitzer, Golde Wissner, Annette Bohner, Rebecca Nowack, Matthias Gronover, Reinhold Boschki: Jugend - Glaube - Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2018.
ISBN 978-3-8309-3776-0.
Reihe: Glaube, Wertebildung, Interreligiosität - Band 13.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24720.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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