Christian Neuhäuser: Reichtum als moralisches Problem
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.08.2018

Christian Neuhäuser: Reichtum als moralisches Problem.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2018.
281 Seiten.
ISBN 978-3-518-29849-7.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 28,90 sFr.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2249.
Man kann nicht nur reich sein – man darf es auch sein!
Diese landläufige, kapitalistische und neoliberale, viele sagen sogar „natürliche“ Auffassung hat in der Welt, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, Konjunktur; oder man kann auch feststellen: Machtstruktur! Zwar wird seit langem, in der Theorie und Praxis der Kapitalismuskritik dagegen gehalten, dass eine gerechtere, gleichberechtigtere und menschenwürdigere Welt möglich sei (vgl. z.B. dazu die Annotationen: Jos Schnurer, Ist Geld die Quelle allen Übels – oder hat Geld immer recht?, 22.11.13, www.socialnet.de/materialien/168.php). Als die Statistiker der internationalen Nichtregierungsorganisation Oxfam beim Weltwirtschaftsforum im Januar 2017 in Davos die Liste der reichsten Menschen auf der Erde vorlegte, beschränkten sie sich in ihrer Aufstellung darauf, lediglich die Multimilliardäre aufzuführen – sonst wäre die Liste viel zu lange geworden. Das Ergebnis: 85 der Superreichen besitzen mehr Vermögen als die halbe Menschheit. Acht von ihnen wären so reich wie 3,6 Milliarden Menschen zusammen genommen. Gewissermaßen als Gag erwähnten sie dabei, dass einer dieser Superreichen, den sie im oberen Drittel der Liste platzierten, in einer Stunde rund drei Millionen US-Dollar verdiene (Meinhard Creydt, Wie der Kapitalismus unnötig werden kann, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22312.php). Valentin Beck, Philosoph an der FU Berlin, nimmt die verantwortungslose und menschenunwürdige Fehlentwicklung der Menschheit auf, indem er mit seiner „Theorie der globalen Verantwortung“ dafür plädiert, „im Angesicht der materiellen Lage eines Teils der Weltbevölkerung eine Korrektur und Ergänzung einiger gewöhnlicher Moralvorstellungen“ vorzunehmen (Valentin Beck, Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21228.php).
Autor
Der Philosoph von der TU Dortmund, Christian Neuhäuser, sieht in der wachsenden sozialen Ungleichheit in der Welt nicht nur ein moralisch-ethisches Problem, sondern zeigt auch auf, dass „das gesellschaftliche Streben nach immer mehr ein Zusammenleben in Würde gefährdet“, und somit die humanen Ordnungsprinzipien, die für ein friedliches, gerechtes und gleichberechtigtes Leben aller Menschen auf der Erde existentiell notwendig sind, aus den Angeln heben. Neuhäusers Essay will kein „to do“ als Ratgeber sein; vielmehr benutzt er praktisch-philosophische Argumente und Fakten, um für einen Perspektivenwechsel einzutreten: „Reichtum ist nicht nur gut, sondern auch ein moralisches Problem“. Der wissenschaftlich ausgewiesene, angemessene und präzise Diskussionsverlauf verlangt vom Leser politische Präsenz und Mitdenken. Er knüpft damit an die philosophische, anthropologische, aristotelische Erkenntnis an, dass der Mensch ein „zôon politikon“ sein muss, wenn er nicht nur vegetieren, sondern als Individuum und Gemeinschaftslebewesen human leben will.
Aufbau und Inhalt
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
- Im ersten Kapitel werden die wissenschaftlichen, theoretischen und praktischen Auffassungen und Konzepte zu „Reichtum, Gerechtigkeit und Anständigkeit“ diskutiert.
- Im zweiten geht es um „Geld, reiche Akteure und Selbstachtung“.
- Im dritten um „Reichtumsmaßstäbe, Macht und Status“.
- Im vierten um den Komplex „Reichtum und Kritik“.
- Im fünften thematisiert Neuhäuser die Kontroverse „Reichtum als Problem anständiger Gesellschaften“.
- Im sechsten setzt er sich mit „Reichtum als Problem für eine anständige Welt“ auseinander.
- Im siebten lässt er sich ein auf die Kontroversen „Zur Verteidigung des Reichtums“; und
- im achten Kapitel bringt er Lösungsvorschläge zur „Überwindung schädlichen Reichtums“ ein.
Der Diskurs darüber, dass Reichtum ein moralisches Problem darstelle, wird mit zahlreichen Beispielen aus der Menschheitsgeschichte und der aktuellen Lage der Welt untermauert. Es sind die menschengemachten Entwicklungen, die die Probleme der ungerechten Verteilung des Wohlstands in der Welt erzeugen und in der wissenschaftlichen Diskussion mit Theorien verifiziert und falsifiziert werden. Es ist der „Geldreichtum“, der sich gegen die Wohlhabenheit und Gutheit des Menschseins richtet: „Akteure sind reich, wenn sie viel Geld haben“. Gegen diese Explikation setzt Neuhäuser die „Selbstachtung“, indem er mit seinen theoretischen Konstruktionen – X, M und G – aufzeigt, dass „Menschen ( ) über Selbstachtung verfügen (müssen), um in Würde leben zu können“. Denn die natürliche, unbedingte und nicht relativierbare Würde eines jeden Menschen ist es, die ein humanes Dasein ermöglicht. Weil Reichtum immer auch Macht und Status schafft und ermöglicht, kommt es darauf an, die in der Kapitalismuskritik bekannten Argumentationen auf die Gerechtigkeitswaagschale zu legen. Im Brechtschen Vorwurf – „Wärst du nicht reich, wär' ich nicht arm“ – steckt ja genau die kategorische Entgegnung der Würdeverletzung: „Menschen sind reich, wenn sie über deutlich mehr Geld verfügen, als sie für ein Leben in Würde benötigen“. Es sind die Differenzierungen (und Ausreden), wenn im Diskurs um Reichtum und Armut von „relativem“, und „absolutem“ Reichtum und Armut, die den Blick auf die grundsätzliche, humane Forderung verstellen, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, wie dies in der Präambel der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, postuliert wird.
Was aber ist eine „anständige“ Gesellschaft, in der sozial, moralisch und rechtlich darauf geachtet wird, dass ungerechter Reichtum nicht zum Sprengsatz in der lokalen und globalen Gemeinschaft wird? Dazu ist der lokale und der globale Blick notwendig. „Nur wenn reiche Gesellschaften ihre Reichtumsorientierung einschränken und zugleich den relativen Wohlstand ihrer Bevölkerung schützen, können sie ihre Verantwortung absolut armer Menschen gegenüber gerecht werden, weil sie nur durch diesen strukturellen Wandel zugleich bereit sind und befähigt werden, für arme Länder vorteilhafte Wirtschaftsstrukturen zu schaffen und absolut armen Menschen angemessen zu helfen“. Da haben wir zum einen den karitativen, zum zweiten den altruistischen (William MacAskill, Gutes besser tun. Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20648.php), zum dritten den menschenrechtlichen Ansatz (Alberto Acosta, Buen vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20598.php), und schließlich den globalen Appell zum Perspektivenwechsel, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 formuliert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“.
Es wäre freilich zu plump und zudem menschenunwürdig, würde man Wohlstand und Reichtum per se als verdammungswürdig deklarieren. Vielmehr kommt es darauf an, sich philosophisch adäquat und stimmig mit den zahlreichen Argumenten für ein „Immer-mehr für Wenige“ auseinanderzusetzen, etwa, dass Reichtum von wenigen auch Wohlstand für viele ermögliche; mit dem Verweis auf das Grundrecht auf Eigentum, das durch eine Reichtumsbegrenzung eingeschränkt würde; mit dem Hinweis, dass Reichtum ein Verdienst sei, um etwa das Märchen vom Tellerwäscher zum Millionär zu bemühen; oder dem verlockenden Versprechen, dass Reichtum ein Wirtschaftsmotor wäre. Hier einfach ein JA oder ein NEIN zu setzen, würde weder dem Ziel, für eine gerechtere (Eine?) Welt einzutreten, gerecht werden, noch den moralischen Anspruch befördern, eine soziale Gerechtigkeit herzustellen. Denn es sind die deutlichen Anzeichen und für viele Menschen existentiell bedrohlichen Imponderabilien, wie z.B. die Folgen des Klimawandels, der Fragilität der Märkte und die „Geiz-ist-geil“ – Einstellungen, die nach Reichtumsbegrenzungen, -regulierungen und -verboten Ausschau halten lassen. Neuhäuser schätzt die Möglichkeiten, ad hoc ein „Reichtumsverbot“ einzuführen, als unrealistisch und für die Zielsetzungen einer gerechten Gesellschaft auch unbrauchbar ein. „Die allmähliche Abschaffung eines moralisch problematischen Reichtums kann als realistische Utopie in dem Sinne verstanden werden, dass die Umsetzung der Reformen der Steuergesetze und die zentralen Umbaumaßnahmen des Wirtschaftssystems, die nötig sind, um einen Prozess in Gang zu setzen, als praktisch durchführbar erscheinen“.
Fazit
Reichtum ist ein moralisches Problem; nicht Wohlstand, der es jeden Menschen ermöglichen soll, ein gutes, gerechtes und gelingendes Leben als Individuum und Gemeinschaftswesen zu führen. Um unangemessenen Reichtum – und als Konsequenz daraus, menschenunwürdige Armut zu akzeptieren – braucht es gesellschafts- und sozialpolitische Regulatoren, z.B. ein „ganz anderes, gerechtes Steuersystem, das tatsächlich für mehr Gerechtigkeit sorgt“, und ein „anderes Wirtschaftssystem, das damit kompatibel ist“. Es braucht Aufklärung und Bildung (Jos Schnurer, Die Menschen motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen! In: Pädagogische Rundschau, 3/2018, S. 363 – 373), damit in Deutschland, in Europa und in der Welt Reichtum als ein moralisches Problem verstanden wird, wenn es zu ungerechten und menschenunwürdigen, lokal- und globalgesellschaftlichen Entwicklungen führt. Dort, wo unangemessener Reichtum entsteht, zeigt er sich als ein strukturelles Problem, das nur mit einer politischen Ethik behoben werden kann.
So bleibt dem Rezensenten einerseits die Hoffnung, dass die von Christian Neuhäuser diskutierten Aufdeckungen, dass Reichtum in seiner moralisch problematischen Form keinen Platz in einer demokratischen, auf den Menschenrechten basierenden Gesellschaft haben darf; zum anderen ist die Hoffnung keine Fata Morgana, weil der Anspruch auf Gerechtigkeit mittlerweile doch engagiert diskutiert wird (vgl. dazu z.B. auch: Hans Lenk, Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/23859.php). Gegen egoistischen Reichtum braucht es Demokratie!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 20.08.2018 zu:
Christian Neuhäuser: Reichtum als moralisches Problem. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2018.
ISBN 978-3-518-29849-7.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2249.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24726.php, Datum des Zugriffs 21.03.2023.
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