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Thomas Hax–Schoppenhorst (Hrsg.): Das Einsamkeits-Buch

Rezensiert von Michael Mayer, 04.12.2018

Cover Thomas Hax–Schoppenhorst (Hrsg.): Das Einsamkeits-Buch ISBN 978-3-456-85793-0

Thomas Hax–Schoppenhorst (Hrsg.): Das Einsamkeits-Buch. Wie Gesundheitsberufe einsame Menschen verstehen, unterstützen und integrieren können. Hogrefe AG (Bern) 2018. 536 Seiten. ISBN 978-3-456-85793-0. 39,95 EUR. CH: 48,50 sFr.

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Thema

Kennen Sie jemanden, der einsam ist? Oder kennen Sie vielleicht sogar selbst das Gefühl von Einsamkeit? Immerhin 6–10 % der deutschen Bevölkerung kennen das schmerzhafte Gefühl des Ausgeschlossenseins und es ist wahrscheinlich, dass auch Sie jemanden kennen.

Aber in einer Gesellschaft voller Individualisten spricht man selten über Einsamkeit. Dabei liegen Individualität und Einsamkeit doch so nah beieinander. Der von Thomas Hax-Schoppenhorst zusammengestellte Sammelband betrachtet das Phänomen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Vom Nutzen des frei gewählten Alleinseins bis zur gesundheitsgefährdenden Einsamkeit. Von den gesellschaftlichen Bedingungen bis zu den Wegen aus der Einsamkeit. Und von denen, die Einsamkeit erleiden bis zu denen, die Hilfe anbieten.

Herausgeber

Der Herausgeber Thomas Hax-Schoppenhorst ist seit 1987 pädagogischer Mitarbeiter der LVR-Klinik Düren. Der erfahrene Autor hat sich in den letzten Jahren auch als Herausgeber betätigt und dabei wichtige Themen der Psychiatrie bearbeitet. Nach dem Angst-Buch (2014 gemeinsam mit Anja Kusserow) und dem Depressions-Buch (2016 mit Stefan Jünger) widmet er sich nun als alleiniger Herausgeber der Einsamkeit.

Aufbau und Inhalt

Das Einsamkeits-Buch vereint eine Vielzahl kurzer Aufsätze von Autoren aus psychosozialen Arbeitsfeldern sowie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Inhalte reichen von Studien, über theoretische Betrachtungen und praktische Erfahrungen bis zu ganz persönlichen Berichten. Die Beiträge gliedern sich in fünf Themen. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

1 Das Phänomen Einsamkeit. Die Beiträge im ersten Abschnitt nähern sich dem Phänomen. Ein Risikofaktor für Einsamkeit ist soziale Isolation, die der Soziologe und Sozialpädagoge Martin Hafen auf eine Exklusion oder „eingeschränkte Inklusionsfähigkeit“ in soziale Systeme zurückführt. Allerdings beschreibt Janosch Schobin auch, wie Einsamkeit die soziale Isolation sogar noch verstärken kann. Denn einsame Menschen machen nicht nur die Erfahrung einer sozialen Stigmatisierung, sie reagieren oft auch besonders misstrauisch gegenüber anderen Menschen und gesellschaftlichen Institutionen. Zudem können auch Bedingungen einer individualisierten Gesellschaft Einsamkeit begünstigen. Dabei kann Einsamkeit in jedem Alter auftreten. Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen können betroffen sein. Einsamkeit ist ein ernstes, langandauerndes Stressphänomen und so verwundert es nicht, dass sie, wie die Psychologin Marion Sonnenmoser darlegt, mit vielfältigen Gesundheitsrisiken verbunden ist.

2 Deutungen. Mit seinen Beiträgen aus Philosophie, Religion, Psychotherapie und Literatur nähert sich der zweite Teil des Buches dem Verstehen von Einsamkeit als menschliches Phänomen. So gehört Einsamkeit für den Krankenhausseelsorger Thomas Holtbernd ebenso notwendig zum Menschsein, wie für den Philosophen Joachim Kahl. Das Gefühl der Einsamkeit ist für uns Menschen genauso wichtig, wie Freundschaft oder Gemeinschaft. Am Kreuz erlebte sogar Jesus das Gefühl von Einsamkeit, wenn er ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34). Der Psychiater Arnd Barocka sieht daher jeden Menschen vor der Aufgabe, eine individuelle Balance zwischen Zugehörigkeit und Autonomie zu finden. Da die westlichen Gesellschaften den Wert der Individualität aber so sehr betonen, ist die Gefahr groß, dass viele Menschen ihre Balance verlieren und in die Einsamkeit fallen. Interessante Einblicke gibt es auch zur engen Wechselwirkung zwischen Scham und Einsamkeit (Caroline Bohn), zur einsamen Stille (Sr. Regina Grehl OSF) oder der Überwindung von Einsamkeit durch Schreiben (Friedericke Gösweiner). Letztlich, so formuliert es Annette Haußmann treffend, kann Einsamkeit sowohl schrecklich, als auch heilsam sein.

3 Betroffene. Der umfangreichste Abschnitt des Sammelbandes widmet sich den Betroffenen. Hier wird die Vielgestalt der Einsamkeit deutlich. Einsamkeit gibt es im Alter, im Kinderhospiz, bei Rettungssanitätern, bei Migranten oder im Kloster. Es gibt aber auch den einsamen Wolf Terrorist und Einsamkeit bei Nutzern von Social Media. Gerade bei Social Media wird aber auch deutlich, wie komplex die Zusammenhänge sind. Natürlich können soziale Medien die Einsamkeit verstärken, bei Jugendlichen kann aber auch der Verzicht auf soziale Medien zu Einsamkeit beitragen. Für die Ursache von Einsamkeit hält Klaus Deuber die sozialen Medien daher nicht. Andererseits stellt Florian Hartleb dar, dass Parallelwelten im Internet durchaus einen Nährboden für einsame Wolf-Terroristen wie André Breivik darstellen können.

Besonders gefährdet sind Menschen mit chronischen Erkrankungen. So kann chronischer Schmerz einsam machen und das nicht nur, weil der Schmerz die soziale Teilhabe behindert. Für Ursula Frede resultiert die Einsamkeit von Schmerzpatienten auch aus dem gesellschaftlichen Ideal der Schmerzfreiheit, das Schmerz zu einem Makel macht. Schmerz ist immer eine einsame Erfahrung, die für andere nicht spürbar ist. Es ist eine Erfahrung, die man letztlich nur allein bestehen kann. Einen interessanten Hinweis zu Einsamkeit bei chronischen Beeinträchtigungen gibt auch Michaela Abresch. So kann der Grundsatz „ambulant vor stationär“ in der Eingliederungshilfe die Vereinsamung von Menschen mit Handikaps begünstigen, vor allem wenn diese Schwierigkeiten haben, soziale Beziehungen zu gestalten.

4 Pflege, Sozialarbeit und Behandlung. Aus der Sicht professioneller Helfer werfen Kurt Schalek und Harald Stefan einen differenzierten pflegediagnostischen Blick auf das Phänomen Einsamkeit. Der psychiatrische Krankenpfleger Christoph Müller sieht Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders gefährdet. Die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und ein für andere oft schwer verständliches Verhalten begünstigen Einsamkeit. So kommt es, dass die professionellen Helfer manchmal die wichtigsten Bezugspersonen für die Betroffenen sind. In ganz ähnlicher Richtung argumentiert die Sozialarbeiterin Johanna Thoma, wenn sie auf die Notwendigkeit verweist, Einsamkeit in der sozialen Arbeit stärker zu beachten. Schließlich ist man in Berufsfeldern der Sozialen Arbeit häufig mit Risikogruppen für Einsamkeit konfrontiert. Abschließend stellt die Kunsttherapeutin Gundula Schneidewind Einsamkeit in einen anderen, kreativen Kontext. Für sie ist Einsamkeit auch ein Gefühl des Lebens, das in vielfältigen Farben und Klängen erscheinen kann. So verstanden kann Einsamkeit „immer auch eine positive Möglichkeit des Lebens sein“ (S. 444).

5 Wege aus der Einsamkeit. Im abschließenden fünften Teil zeigen die Autoren Möglichkeiten, wie Menschen ihrer qualvollen Einsamkeit entkommen können. Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa leitet den letzten Abschnitt mit Überlegungen zur Sehnsucht des Menschen nach Resonanz ein. Weitere Beiträge stellen innovative Projekte vor. So lernt der Leser wöchentliche Videokonferenzen für ältere, mehrfach erkrankte Menschen (Stefan Schmidt), Besuchsprojekte des Vereins „Tausend Taten e.V. Jena“ (Anke Bebber, Sindy Meinhardt und Dorothea Petrich), die Beratung von betroffenen Familien durch ein Kinderhospiz (Christine Bronner) oder Wohlfühlanrufe bei älteren Menschen (Ronja Schüttken) kennen. Daneben gibt es sehr persönliche Erfahrungen (Ekkehard Höhl) und am Ende ein eindrückliches Textfragment, das die Autorin Helga Levend aufgrund ihres frühen Todes nicht mehr fertigstellen konnte.

Diskussion

Einsamkeit, das wird in diesem Sammelband deutlich, ist kein einfaches Phänomen. Es ist ein zutiefst menschliches Gefühl, mit vielen Facetten, denen man sich aus unterschiedlichen Richtungen nähern kann. Das wird in dem Sammelband sehr schön deutlich.

Vor allem in den Deutungen im zweiten Teil wird immer wieder auf die notwendige Balance von Einsamkeit und Gemeinschaft verwiesen. Einige Autoren sehen Erfahrungen der Einsamkeit als eine Notwendigkeit des Menschseins, aber nicht alle trennen dabei deutlich zwischen einer erlittenen Einsamkeit und dem frei gewählten Alleinsein. Naturgemäß kommt es in einem solchen Sammelband auch zu redundanten Inhalten. So liest man in fast jedem Beitrag eine Definition von Einsamkeit oder sozialer Isolation. Dennoch gibt es auch hier für interessierte Leser bemerkenswerte Variationen. Und gerade hier liegt auch eine der Stärken des Sammelbandes. Die Variation, mit der die verschiedenen Autoren das Thema Einsamkeit betrachten, ermöglicht es dem Leser dieses komplexe Phänomen nach und nach besser zu verstehen.

Fazit

Mit dem Einsamkeits-Buch gelingt es Thomas Hax-Schoppenhorst, unterschiedliche Autoren zu einem Thema zu vereinen. Mit dem Sammelband lässt sich das Phänomen Einsamkeit daher aus unterschiedlichen Blickwinkeln erkunden. So kann man über den Sinn von Einsamkeit für den Menschen nachdenken und eine Vielzahl gefährdeter Gruppen kennenlernen. Man sieht wie unterschiedliche Professionen sich dem Thema nähern und erhält Ideen für Wege aus der Einsamkeit. Dass die Beiträge dabei von unterschiedlicher Qualität sind, ist bei der Vielfalt wohl nicht zu vermeiden. Ein interessierter Leser findet in dem Band aber die eine oder andere Perle und kann sein Verständnis von Einsamkeit in verschiedene Richtungen vertiefen. Für alle, die in psychosozialen Arbeitsfeldern tätig sind, ist es ein rundum empfehlenswertes Buch.

Rezension von
Michael Mayer
M. A. soziale Verhaltenswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Philosophie, Supervisor, Krankenpfleger für Psychiatrie, Leitung Akademie der Bezirkskliniken Schwaben.
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Es gibt 12 Rezensionen von Michael Mayer.

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ISSN 2190-9245