Anja Schierbaum: Herausforderungen im Jugendalter
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Domes, 03.07.2019

Anja Schierbaum: Herausforderungen im Jugendalter. Wie sich Jugendliche biographischen und gesellschaftlichen Anforderungen zuwenden. Eine rekonstruktive Studie zu weiblicher Adoleszenz und Sozialisation. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2018. 357 Seiten. ISBN 978-3-7799-3480-6. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Die Publikationen ist die überarbeitete Fassung der Dissertationsschrift, die 2015 am Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim eingereicht wurde.
Die rekonstruktive Interviewstudie fokussiert den Prozess des Aufwachsens und Älterwerdens von Mädchen und deren Perspektiven auf die eigene Biografie – exemplarisch dargestellt an den Erzählungen zweier Mädchen. Diese entstanden im Rahmen des Programms „Wege finden – gestärkt erwachsen werden“ an der Universität Hildesheim. Die Autorin war wissenschaftliche Mitarbeiterin dieses Projekts. Sie greift in der vorliegenden Publikation auf das entsprechende Datenmaterial zurück.
Lt. Schierbaum (S. 11) folgt die Untersuchung den drei miteinander korrespondieren Fragen:
- Erzählen Mädchen über Herausforderungen?
- Wie wenden sie sich den (jugendspezifischen) Herausforderungen und Handlungsanforderungen zu?
- Wie gestalten sie als Jugendliche den Prozess des Aufwachsens und Älterwerdens?
Autorin
Dr. Anja Schierbaum ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich „Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne“ des Departements Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln. Ihre Schwerpunkte sind Familien-, Jugend- und Generationenforschung.
Aufbau
Die Publikation besteht aus vier Kapiteln, die durch eine Einleitung und ein umfassendes Literaturverzeichnis (31 Seiten) gerahmt werden.
Kapitel 1 Jugend als Zeit des Aufwachsens
- Konzeptionelle Ansätze zur Jugend
- Schlussfolgerungen
- Herausforderungen im Jugendalter
Kapitel 2 Der Zugang zur Interviewstudie
- Zugang zur Anlage der Studie
- Methodischer Zugang
Kapitel 3 Einzelfallstudien
- Lara Kaden, die Suchende
- Jule Meissner, die Planende
Kapitel 4 Schlussbetrachtung – vom Besonderen zum Allgemeinen
- Fallpraktische Konkretisierung
- Zusammenfassung: Herausforderungen im Jugendalter gestalten
Zu Kapitel 1
Kapitel 1 „Jugend als Zeit des Aufwachsens“ bildet die theoretische Grundlegung der Studie. Schierbaum charakterisiert Jugend als eine Phase im Lebensverlauf zwischen Kindheit und Erwachsenenalter verstanden als biografisches Projekt.
Zu Beginn erörtert sie verschiedene konzeptionelle Ansätze von Jugend (in der späten Moderne). Hierzu werden die Positionen von Schelsky, Tenbruck, Eisenstadt, Parsons, Mannheim, Erikson und Mead skizziert. Die Autorin verortet den deutschsprachigen Diskurs zwischen zwei zentralen Positionen: Jugend als eine Alters- und Lebensphase des Übergangs vom Nicht-mehr-Kind-Sein zum Erwachsenenstatus, als Pufferzone für psychische und soziale Veränderungen (im generativen Wechsel) sowie Jugend als biologischer Reifungs- und Entwicklungsprozess mit den zentralen Aufgabenfeldern Körper und Selbstfindung. Neben dem Jugendbegriff geht sie auch noch kurz auf den Adoleszenz-Begriff und die in den unterschiedlichen Ansätzen nicht klare Abgrenzung beider Begriffe ein.
In einem nächsten Schritt wendet sich die Autorin der Jugend als Gegenstand von Forschung zu. Jugendforschung wird als „ein sehr ausdifferenziertes und interdisziplinäres Forschungsfeld“ (S. 24) benannt. Auch hier finden sich lt. Schierbaum zwei unterschiedliche Vorstellungen von Jugend und Jugendlichen: Jugendliche als kreative und selbstbestimmte Akteure und Gestalter*innen ihres Entwicklungsverlaufs sowie Jugendliche in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft mit dem Fokus auf objektive Vorgaben und Anpassung.
Sie stellt kursorisch die (historische) Entwicklung der qualitativen Jugendforschung dar, deren Fokus heute vermehrt auf den Jugendlichen als Akteure in ihren Lebenswelten und auf ihren spezifischen Erlebens- und Sichtweisen liegt. Hierbei nimmt sie wiederum Bezug auf den veränderten Jugendbegriff – Jugend verstanden als „eigenständige Lebensphase in der generationalen Ordnung moderner Gesellschaften“ und „eigenständige Lebenskultur und Ausdrucksform“ (S. 31).
Es folgen Ausführungen zur (historischen) Entwicklung der Mädchenforschung als Teil der Jugendforschung, die lange Zeit ein Schattendasein führte, heute aber zunehmend in den Fokus rückt. Schierbaum konstatiert, „dass die Lebenslagen und Bedingungen des Aufwachsens von Mädchen zunehmend differenziert betrachtet werden“ (S. 37).
Der nächste Abschnitt nimmt Jugend als „biografisches Projekt“ in den Blick. Jugend verstanden in diesem Sinne erschließt lt. der Autorin Veränderungen „und damit Entwicklungsverläufe, die zur Selbstbestimmung sozialer Praxen und der Passung zwischen Selbst und Welt führen“ (S. 39). Hierzu erläutert sie ihr Verständnis von Entwicklung und Entwicklungsverläufen. Entwicklung wird verstanden als ein Prozess der Entfaltung in einem dynamischen Wechselspiel zwischen individuellen Dispositionen und gesellschaftlichen Anforderungen.
Jugend als biografisches Projekt zu begreifen, macht nach Schierbaum dreierlei deutlich: Wie aus jungen Menschen handlungsfähige und am gesellschaftlichen Leben teilhabende Subjeket werden, welche Motive, die in der Gestaltung spezifischer Herausforderungen eine Rolle spielen, sie entfalten und wie sie sich den vielfältigen Anforderungen zuwenden.
Die Autorin zieht im folgenden erste Schlussfolgerungen ihrer Ausführungen für den weiteren Gang der Untersuchung. Sie betont nochmals den Fokus auf adoleszente Suchbewegungen und Verselbstständigungen rahmende Prozesse des Aufwachsens und Älterwerdens. Insofern konzentriert sich die Studie auf „die Selbstäußerungen von Mädchen, die als aktive handelnde Akteurinnen ihre Biographie selbsttätig (mit-)gestalten“ (S. 46). Hierbei dienen die theoretischen Annahmen als Kontextwissen, ohne (vorab) konkrete Antworten liefern zu können.
Zudem weist Schierbaum darauf hin, dass Geschlechterdifferenzierungen und der Einfluss von Geschlecht auf den Prozess des Aufwachsens als dimensionierende Kategorie in der Untersuchung nicht diskutiert werden.
In nächsten Abschnitt stehen die Herausforderungen im Jugendalter im Mittelpunkt. Die Autorin beschreibt den Prozess des Aufwachsens und Älterwerdens als Wechselwirkungsverhältnis zwischen innerer und äußerer Realität. Durch dieses ergeben sich entsprechende Herausforderungen, die gestaltet und bearbeitet werden müssen, um ein reflektiertes Selbstbild und Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Im Folgenden systematisiert Schierbaum die Perspektiven des Aufwachsens. Sie versteht Aufwachsen als Bewältigungs- wie Gestaltungsprozess. Auch wenn das (normative) Konzept der Entwicklungsaufgaben durchaus im Widerspruch zu den Lebensverhältnissen unserer heutigen Gesellschaft steht, „bietet (es) noch immer ein hilfreiches Orientierungsraster zur Analyse von Veränderungen (…)“ (S. 57). Die Autorin ergänzt das Konzept der Entwicklungsaufgaben um eine stärker handlungstheoretische Dimension in Anlehnung an Dreher & Dreher.Diese betontdie Bedeutung der Gestaltung unterschiedlicher Anforderungen im Prozess des Aufwachsens: Arbeit am Körper, Biographisierung von Geschlecht, soziale Beziehungen, familiale Abgrenzung, Ziele und Zukunftsorientierung sowie Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung.
Im nächsten Abschnitt Spielräume des Aufwachsens zwischen Anpassung und Gestaltung kommt die Autorin nochmals auf das Konzept der Entwicklungsaufgaben (nach Havighurst) zurück. Sie skizziert entsprechende Kritikpunkte anhand verschiedener Theoretiker. Hierzu stellt sie das Konzept von Entwicklung als Handlung nach Lenz vor. Dieser bündelt die jugendspezifischen Herausforderungen in fünf zentrale Handlungsaufgaben: Umstrukturierung sozialer Netzwerke, Bildung einer Geschlechtsidentität, Erwerb von Qualifikationen, Entwicklung einer Zukunftsperspektive und Ausformung eines Selbstkonzepts. Sodann folgen Ausführungen zu Kordes, der ebenfalls die Handlungen der Jugendlichen und die Einbettung sozialer Erwartungen in die Biografie betont. Die Autorin schließt diesen Abschnitt mit den sozialisationstheoretischen Überlegungen von Hurrelmann und KollegInnen, die „qualifizieren, binden, konsumieren und partizipieren“ als komplexe Handlungsanforderungen an Jugendliche identifizieren.
Schierbaum beendet ihre theoretische Kontextuierung mit Skizzierungen zu biographischen und gesellschaftlichen Anforderungen an das Jugendalter. Sie gibt nochmals einen Überblick über die Herausforderungen, mit denen Jugendliche konfrontiert sind. Die Innenperspektive bilden der Körper und die Konstruktion von Geschlecht sowie das „reflexive Selbst“. Die Außenperspektive umfasst die Konstruktion eines Lebensentwurfs sowie Partizipation. Jede Teildimension wird dabei über weitergehende Ausführungen noch entsprechend konkretisiert.
Zu Kapitel 2
Im zweiten Kapitel erläutert die Autorin den „Zugang zur Interviewstudie“.
Die Studie baut auf einer bereits erfolgten qualitativen Studie an der Universität Hildesheim im Rahmen des Programms „Wege finden – gestärkt erwachsen werden“ auf. Schierbaum greift in ihrem Zugang zur Anlage der Studie auf das bereits erhobene Datenmaterial zurück, um ihren Fokus auf die Entwicklungsgeschichten der Mädchen zu richten. Bei der Auswahl der Fälle, die sich am Theoretical Sampling nach Glaser & Strauss orientiert, waren für sie fünf Kriterien entscheidend: Der Fokus richtete sich auf weibliche Biographie, ohne die Differenz zu Entwicklungsverläufen von Jungen zu reflektieren. Die Forschungsfrage wurde longitudinal untersucht. Die ausgewählten Entwicklungsgeschichten sollten möglichst umfassend sein. Die Auswahl erfolgte nach dem Prinzip der Altershomogenität. Der zweite Fall sollte zum ersten maximal kontrastierend sein.
Da es um die Deutung des Einzelfalls als soziale Einheit ging, erfolgte eine Begrenzung auf zwei Einzelfallstudien. Die Lebenswelten wurden gemäß dem interpretativen Paradigma aus der Binnenperspektive der Mädchen erschlossen, stellvertretend gedeutet und entsprechend der Problemstellung reflektiert.
Im Folgenden führt die Autorin zentrale Längsschnittuntersuchungen in der Jugendforschung auf und erläutert nochmals den Stellenwert einer Longitudinalperspektive in Verbindung mit ihren spezifischen Forschungsannahmen bezogen auf die ausgewählten Fallgeschichten.
Im nächsten Abschnitt erläutert und begründet Schierbaum den methodischen Zugang ihrer Untersuchung. Sie möchte die Erzählungen der Mädchen durch ihre „Interpretation im Sinne des methodisch kontrollierten Fremdverstehens“ (S. 101) aufschließen. Dies erfolgt in drei Schritten: Fallportraits, Genogrammarbeit und materiale Analyse. Über einen inhaltsanalytischen und rekonstruktiven Zugang sowie ein verstehendes Forschungsverständnis möchte die Autorin Antworten auf ihre Forschungsfrage(n) finden, „denn, das empirische Material spricht nicht selbst, es muss zum Sprechen gebracht werden“ (S. 106).
Zu Kapitel 3
Das dritte Kapitel, das vom Umfang her ca. zwei Drittel der Publikation ausmacht, beinhaltet die beiden Einzelfallstudien „Lara Kaden, die Suchende“ und „Jule Meissner, die Planende“. Beide Studien folgen dem gleichen Aufbau.
Es beginnt mit einer kurzen Beschreibung des Feldzugangs. Daran schließen sich drei Fallporträts, die sich auf die Interviews zu den unterschiedlichen Studienzeitpunkten beziehen, an. In diesen werden die je spezifischen Herausforderungen des Jugendalters herausgearbeitet. Am Ende steht eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse für die weitere empirische Untersuchung.
Der folgende Teil widmet sich der Familie als einem Ort der Bildungs- und Individuierungsgeschichte. Diese wird differenziert über Genogrammarbeit erschlossen und dargestellt. Eine Zusammenfassung bündelt erste Hypothesen und Schlussfolgerungen.
Die materiale Analyse fokussiert die Deutung der Selbstrepräsentationen der Jugendlichen. Über einen rekonstruktiven Zugang wird der Frage nachgegangen, wie sich den biografischen und gesellschaftlichen Anforderungen (Veränderungsprozesse sowie Herstellung von Passungsverhältnissen zu Familie, Schule, Freunden und Peers) zugewendet wird. Die Analyse erfolgt ausführlich anhand der Kategorien Körper und die Konstruktion von Geschlecht, Entfaltung eines reflexiven Selbst und Konstruktion eines Lebensentwurfs, sowie in einer der beiden Studien zusätzlich anhand der Kategorie Partizipation und Ehrenamt.
Ein Resümee bildet den Abschluss der jeweiligen Einzelfallstudie. In diesem werden thesenartig die zentralen Befunde und Ergebnisse zusammengefasst und die Forschungsfrage reflektiert.
Zu Kapitel 4
In Kapitel 4 erfolgt durch „eine fallpraktische Konkretisierung der habituellen Ausdrucksformen und deren Gegenüberstellung“ (S. 308) die „Schlussbetrachtung – vom Besonderen zum Allgemeinen“.
Die Forschungsfrage wird hierzu in einem ersten Schritt mit dem Habitus-Konzept von Bourdieu kontextualisiert. Daran schließen sich die fallpraktischen Konkretisierungen von Lara Kaden, die Suchende, und Jule Meissner, die Planende, an. Diese orientieren sich an den Kategorien der materialen Analyse. Diese wiederum werden jeweils strukturiert über: Biographische und gesellschaftliche Herausforderungen, inhaltliche Bestimmung, Handlungsanforderungen sowie Praxisformen und Repräsentationen. Ein Fallvergleich schließt diesen Teil ab.
Das Kapitel bzw. die Publikation endet mit einer Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse der rekonstruktiven Studie.
Diskussion
Anja Schierbaum schreibt in einer kurzen Vorbemerkung ihrer Publikation, der überarbeiteten Fassung ihrer Dissertationsschrift: „Ein Dissertationsprojekt ist ebenso eine qualifizierende wie emotionale Herausforderung, an der ich mich abgearbeitet habe und noch immer abarbeite (…).“ Diese Herausforderungen (und die damit verbundenen Anstrengungen) werden durchaus beim Lesen spürbar.
Die theoretischen Ausführungen sind differenziert und mitunter sehr dicht, was mit einer ebenfalls sehr verdichteten Sprache korrespondiert und das Lesen nicht immer „einfach“ macht, wie auch Schierbaum feststellt: Die Art der Darstellung wird „(…) aber Lesenden an der einen oder anderen Textstelle einiges an Mühen abverlangen“ (S. 15). Zugleich entspricht dies natürlich den wissenschaftlichen Anforderungen (an eine Dissertation) bzw. ist häufig so vorzufinden und soll deshalb auch nicht als Kritik verstanden werden.
In den Einzelfallstudien werden die Ausführungen deutlich „lesefreundlicher“, wenngleich sich in den Fallportraits die theoretische Kontextualisierung auch wiederum in der Sprache niederschlägt. Dagegen wird in der materialen Analyse den eigentlichen Erzählungen von Lara und Jule deutlich mehr Raum eröffnet und gelassen, was beim Lesen bei mir zur Folge hatte, dass ich mich auch besser auf die jeweiligen Erzählungen einlassen und ihnen „zuhören“ konnte. Hier gelingt es Schierbaum sehr gut, „das textförmig aus den Interviews erhobene Material zum Sprechen zu bringen“ (S. 102). Ich hätte nichts dagegen gehabt, noch mehr O-Töne der beiden Heranwachsenden zu lesen; vielleicht auch in diesen Teilen „zu Lasten“ der jeweiligen theoretischen Bezüge und Reflexionen, die an den anderen Stellen der Publikation aus meiner Sicht ausreichend Raum finden.
Die theoretische Rahmung, Begründung und Reflexion ist insgesamt gelungen und ermöglicht einen guten Überblick über die aktuellen Diskurse, auch wenn es zum Teil wiederholt inhaltliche Redundanzen gibt. Dies ist sicherlich aber der Arbeit als Dissertationsschrift geschuldet.
Trotzdem an dieser Stelle einige Anmerkungen bzw. Anregungen, die (zum Teil) sicherlich auch mit meiner disziplinären wie professionellen Verortung in der Sozialen Arbeit zu tun haben:
Bei der Darstellung der konzeptionellen Ansätze zur Jugend hätte ich es als hilfreich erachtet, der Problematisierung des Jugendbegriffs mehr Raum zu geben, also stärker – auch theoretisch – Jugend als Jugenden zu diskutieren, Jugend „nicht mehr im Singular, sondern im Plural zu denken und sich von pauschalisierten Jugendbildern zu verabschieden“ (Thole 2017: 39; vgl. hierzu z.B. auch Winkler 2015, Scherr 2009), gerade auch weil Schierbaum in ihrer Studie den individuellen Prozess des Aufwachsens und Älterwerdens sowie die Perspektiven der Heranwachsenden auf ihre eigene Biografie fokussiert.
Eine ähnliche Anmerkung habe ich bzgl. der Ausführungen zum Konzept der Entwicklungsaufgaben. Vorab: Schierbaum stellt Weiterentwicklungen des Konzepts von Havighurst dar und geht auch auf entsprechende Kritikpunkte ein. Hier wäre meines Erachtens eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der „emerging adulthood“ (Vgl. z.B. Arnett 2004, Seiffge-Krenke 2015) und wiederum entsprechender Kritiker (Stichwort „forgotten half“, Bynners 2005) für den Gang der Untersuchung (im Sinne einer Öffnung starrer Phasenmodelle) anregend gewesen.
Schierbaum resümiert am Ende ihrer Publikation, dass „Heranwachsende beginnen (…) einen eigenwilligen Selbst- und Normalitätsentwurf zu gestalten“ und „versuchen sich in einer Gesellschaft sich auflösender Normalbiographien zu behaupten und sich an biographischen und gesellschaftlichen Anforderungen (…) abzuarbeiten, auch wenn sie dafür recht eigensinnige Wege einschlagen“ (S. 326). Die Perspektive, Jugendliche als „eigensinnige, kreative biografische AkteurInnen“ (Stauber & Walther 2004: 63) zu sehen und anzuerkennen, erachte ich als sehr relevant, auch für eine sich daran orientierende pädagogische Praxis. Diese Perspektive zieht sich auch quer durch die Publikation, zumindest in meiner Lesart. In diesem Kontext hätte ich mir, intensiver als dies geschehen ist, theoretische Ausführungen zu subjektorientierten Ansätzen (z.B. von Winkler) gewünscht, um der Frage nachzugehen, „(…) wie junge Menschen als Subjekte ihres Entwicklungs- und Lernprozesses sowie als Akteure ihrer – in einem emphatischen Sinne des Ausdrucks – Bildung die sozialen und kulturellen Bedingungen bewältigen und aneignen, mit welchen sie konfrontiert werden“ (Winkler 2015: 37).
Eine offene Frage ist nach dem Lesen bei mir geblieben: Schierbaum weist auf Seite 46 darauf hin, dass Geschlechterdifferenzierungen und der Einfluss von Geschlecht auf den Prozess des Aufwachsens als dimensionierende Kategorie in der Untersuchung nicht diskutiert werden, auch wenn dies der Untertitel der Studie nahelegt. Der Grund hierfür hat sich mir nicht in Gänze erschlossen. Hier wäre eine etwas ausführlichere Erläuterung, zumindest in einer Fußnote, vielleicht hilfreich gewesen.
Fazit
Trotz der Anmerkungen ist die Publikation von Anja Schierbaum ein gelungener Beitrag, der exemplarisch den Prozess des Aufwachsens und Älterwerdens zweier Heranwachsender kontrastierend in den Blick nimmt. Insbesondere die ausführliche Darstellung der beiden Einzelfallstudien über die Fallportraits, die Genogrammarbeit und die materiale Analyse sowie die jeweils zugehörigen tabellarischen Übersichten bieten eine Fülle an Anknüpfungs- und Diskussionsmöglichkeiten und erschließen, wie Lara und Jule „einen eigenwilligen biographischen Entwurf ihres Selbst“ (S. 322) gestalten und die vielfältigen Herausforderungen im Jugendalter individuell bewältigen.
Über die eigene Auseinandersetzung mit den Erzählungen können die Leser*innen – neben der vorgeschlagenen Lesart – auch zu eigenen und anderen Deutungen kommen, zum Beispiel in einem Seminarkontext mit Studierenden. Die Publikation von Schierbaum lädt dazu ein, das „Material“ auch selbst zum Sprechen zu bringen, so habe ich zumindest die Subbotschaft des Textes interpretiert. Dies kann auch bedeuten, vielleicht erst einmal nur auf „die Worte“ von Lara und Jule zu hören, „tatsächlich zu hören/hören zu wollen, sich auch überraschen zu lassen von deren Sichtweisen und Einschätzungen“ (Maurer 2017: 165).
Literatur
- Arnett, J. (2004): Emerging adulthood: The winding road from the late teens through the twenties, New York: Oxford University Press.
- Bynner, J. (2005): Rethinking the youth phase of the life course: The case of emerging adulthood? In: Journal of Youth Studies 8, Nr. 4, S. 367–384.
- Maurer, S. (2017): Der Beitrag von biographischen Rekonstruktionen für eine gelingende Jugendhilfe. In: Redmann, B. & Gintzel, U. (Hrsg.): Von Löweneltern und Heimkindern. Lebensgeschichten von Jugendlichen und Eltern mit Erfahrungen in der Erziehungshilfe, Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 162–168.
- Scherr, A. (2009): Jugendsoziologie. Einführung in Grundlagen und Theorien, 9., erweit. Und umfassend überarb. Aufl., Wiesbaden: Springer VS.
- Seiffge-Krenke, I. (2015): Emerging Adulthood. Forschungsbefunde zu objektiven Markern, Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsrisiken. In: Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 63 (3), S. 165–173.
- Stauber, B. & Walther, A. (2004): Übergangsforschung aus soziologischer Perspektive. In: Schumacher, E. (Hrsg.): Übergänge in Bildung und Ausbildung. Gesellschaftliche, subjektive und pädagogische Relevanzen, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 47–67.
- Thole, W. (2017): Die „Wiederentdeckung“ der Jugend. Leseeindrücke vom 15. Kinder- und Jugendbericht. In: Sozial Extra (2017), Nr. 3, S. 38- 40.
- Winkler, M. (2015): Jugend – Wiederkehr eines vergessenen Themas. In: Fischer, J. & Lutz, R. (Hrsg.): Jugend im Blick. Gesellschaftliche Konstruktionen und pädagogische Zugänge, Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 32–67.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Domes
Diplom-Sozialpädagoge, Professor für Theorien und Handlungslehre in der Sozialen Arbeit, TH Nürnberg Georg Simon Ohm
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