Gunter Geiger, Daniela Schily: Krieg und Menschenrechte
Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 29.03.2019

Gunter Geiger, Daniela Schily: Krieg und Menschenrechte. Perspektiven aus Völkerrecht, Erinnerungskultur und Bildung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. 228 Seiten. ISBN 978-3-8474-2166-5. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
Die Friedensdividende, wenn es diese jemals gegeben hat, ist aufgebraucht. Die Münchner Sicherheitskonferenz von 2019 hat gezeigt, wie rau das Klima geworden ist, wenn es um Krieg oder Frieden, Bündnisverpflichtungen oder Abrüstung geht. Gewissheiten der letzten Jahrzehnte stehen auf dem Prüfstand. Umso wichtiger scheint es, die sicherheitspolitische Debatte nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in der gesellschaftlichen Breite zu führen. Einen Beitrag hierfür liefert der vorliegende Band aus der Akademie des Bistums Fulda, der sich vorrangig mit den Menschenrechten in bewaffneten Konflikten befasst.
Herausgeber
Gunter Geiger ist Direktor der Katholischen Akademie Fulda. Daniela Schily ist Generalsekretärin des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Berlin.
Entstehungshintergrund
Der Band verdankt sich einer Veranstaltungsreihe des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. mit der Katholischen Akademie Fulda, dem Bonifatiushaus – unter dem gleichnamigen Jahresthema des Volksbundes von 2017: Krieg und Menschenrechte. Die Publikation richtet sich vorrangig an Lehrer und Pädagogen in außerschulischen Kontexten, die im Bereich Friedenspädagogik und Menschenrechtsbildung engagiert sind.
Aufbau
Der Band besteht aus drei Hauptteilen, die sich in pädagogischer Hinsicht mit didaktischer Sachanalyse, Vertiefung und Anwendung wiedergeben lassen:
Teil I beleuchtet aktuelle Einzelfragen zum gegenwärtigen Verhältnis von Krieg und Menschenrecht aus Perspektive der Zeitgeschichte und der politischen Praxis.
Teil II thematisiert eigens das Thema Schutzverantwortung („Responsibility to protect“), das in der aktuellen Diskussion um die Durchsetzung der Menschenrechte innerhalb bewaffneter Konflikte eine zentrale Rolle spielt.
Teil III widmet sich Fragen der pädagogischen Anwendung: in pädagogischen Leitbilddebatten, in der historischen Bildung, in der Erinnerungsarbeit und – dem Kontext des Bandes geschuldet – speziell innerhalb der Bildungsarbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
Den Band eröffnet ein Vorwort der Herausgeber, das in die drei Hauptteilen kurz einführt.
Zu I: Zeitgeschichte und politische Praxis
Felix Boor, promovierter Jurist sowie Akademischer Rat a. Z. an der Universität Hamburg, zeichnet die historische Entwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit zur Ahndung schwerster Menschenrechtsverstöße nach. Diese ordnet er in drei Stufen: 1. von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen bis zum Ende des Kaltes Krieges; 2. die Zeit der Ad-hoc-Tribunale für das Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens und Ruanda; 3. die Phase seit Gründung eines Ständigen Internationalen Gerichtshofes am 1. Juli 2002. In der ersten Phase wurden der Straftatbestand des Kriegsverbrechens erweitert um die Straftatbestände Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit. In der zweiten Phase sollten die Genfer Konventionen, die zunächst nur für zwischenstaatliche Konflikte galten, über Völkergewohnheitsrecht auch auf nichtinternationale Konflikte ausgedehnt werden. In der dritten Phase besteht die Hoffnung, eine Art Weltrechtsprinzip durch Institutionalisierung einer internationalen Gerichtsbarkeit zu implementieren. Der Autor würdigt die damit verbundenen Erfolge, gibt aber zu bedenken, dass die internationale Strafgerichtsbarkeit in der Regel nur bei zentralen Hauptkriegsverbrechern greift und den Opferschutz nur sehr ungenügend berücksichtigt.
Anna Würth beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Frage, welcher Auftrag Nationalen Menschenrechtsinstitutionen nach Gewaltkonflikten zufällt. Die am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin – der für Deutschland zuständigen Nationalen Menschenrechtsinstitution – tätige Islamwissenschaftlerin würdigt deren Arbeit grundsätzlich positiv, gibt aber zu bedenken, dass in Post-Konflikt-Situationen auch diese korrumpiert sein könnten; für diesen Fall schlägt sie die Etablierung einer Art Übergangsjustiz vor.
Der Frage nach dem Umgang mit den Opfern von Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschheit und deren Entschädigung geht Günter Saathoff nach. Der Politologe, Soziologe und Pädagoge hat bis 2017 im Vorstand der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mitgearbeitet. Zu deren Auftrag zählt nicht zuletzt die Abwicklung von Auszahlungsprogrammen zur Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter. Der Verfasser stellt zunächst die deutschen Situation in Deutschland dar und vergleicht diese dann mit Erfahrungen aus anderen Ländern. In den Nürnberger Prozessen spielten Entschädigungsfragen historisch noch keine Rolle. In den Fünfzigerjahren nach dem Zweiten Weltkrieg schuf die Bundesrepublik den politischen Begriff des „typischen NS-Unrechts“, für das man aus moralischen Gründen Entschädigungen vorsah; eine völkerrechtliche Verpflichtung oder ein Antragsrecht vor deutschen Behörden lehnte man allerdings ab. Im Hintergrund stand nicht zuletzt der Reparationsaufschub des Londoner Schuldenabkommens. Heute gibt es eine Erinnerungs- und Entschädigungskultur, die im Wesentlichen vier Elemente enthält: Anerkennung und Entschädigung der Opfer durch den Bundespräsidenten; Beteiligung von Opferverbänden; Aufsicht über die vertragliche Umsetzung internationaler Vereinbarungen zur Entschädigung durch ein international besetztes Kuratorium; dauerhafte Übernahme von Verantwortung für die Opfer.
Ulla Kux, Leiterin des Referates „Demokratie leben!“ beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, erinnert an Raphael Lemkin, der vornehmlicher Wegbereiter der 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes war.
Marco Bonacker, stellvertretender Leiter der Abteilung Erwachsenenbildung im Bistum Fulda, widmet sich in seinem Beitrag dem Zusammenhang zwischen Gewalt und Christentum. Er zeichnet nach, vor welcher Vorgeschichte die Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg zur Anerkennung der Menschenrechte und einer dezidierten Friedensethik gefunden habe. Das Christentum kenne eine „Gewaltgeschichte“, aber gleichfalls eine „Friedensgeschichte“ – unter Bezug auf René Girard erklärt er: „Vom Zentrum der christlichen Botschaft, von Jesus Christus und seinem Kreuz her, ist Gewalt und ihre Struktur und Logik unüberbietbar desavouiert worden“ (S. 101).
Zum Ende des ersten Teils ordnet Günter Wolf Menschenrechtsverstöße, die gezielt als Kriegsinstrument eingesetzt werden, dem Bereich ausdrücklicher Kriegsverbrechen zu. Der Autor amtiert seit 2012 als Präsident der Internationalen Offiziers- und Soldatengesellschaft.
Zu II: Schutzverantwortung
Sven Bernhard Gareis vom George C. Marshall European Center for Security Studies in Garmisch-Partenkirchen diskutiert in seinem Beitrag zum Auftakt des zweiten Teils Chancen und Grenzen einer „Responsibility to protect“. Diese sei ein inzwischen akzeptiertes Referenzprinzip der internationalen Gemeinschaft. Ihre Wirksamkeit in der Zukunft hänge aber nicht zuletzt davon ab, wie sich das Klima der Zusammenarbeit innerhalb des UN-Sicherheitsrates weiter entwickeln werde.
Anja Seiffert, Projektbereichsleiterin Einsatzbegleitung und -dokumentation im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, setzt sich mit der Spannung zwischen dem Schutz- und Kampfauftrag von Soldaten auseinander. Mit dieser umzugehen, benötigten Soldaten eine ethische Orientierungskompetenz. Die Autorin gibt zu bedenken, dass die genannte Spannung nicht mit dem Einsatz automatisch zu Ende gehe. Die Sprachlosigkeit zwischen Soldaten und Gesellschaft, die vielfach zu beobachten sei, stelle die geforderte ethische Orientierungskompetenz auf die Probe, was nicht zu unterschätzen sei.
Marco Schrage, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theologie und Frieden in Hamburg, beschäftigt sich mit den ethischen Problemen militärischer Interventionen, die immer auch Dritte in Mitleidenschaft zögen. Er unternimmt zunächst einen historischen Durchgang durch die katholische Friedensethik und diskutiert die dabei zu Tage tretenden Verhaltensmaßstäbe in Gestalt von acht Kriterien am Beispiel Libyen – diese lauten: 1. Zuständige Autorität; 2. Schwere Verbrechen gegen Leib und Leben; 3. Rechte Absicht, 4. Ausschöpfung friedlicher Mittel; 5. Mildestes, sicheres Mittel; 6. Verhältnismäßigkeit; 7. Lindern humanitärer Notlagen; 8. Angestrebte Friedensordnung als Verbesserung zur Vorkrisensituation.
Zu III: Bildung im Gespräch
Thomas Koch, Studienleiter für Jugendarbeit im Amt für kirchliche Dienste in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und tätig in der Öffentlichkeits- sowie Gedenkstättenarbeit, zeigt in seinem Beitrag auf, wie das ethische Leitbild eines „Gerechten Friedens“, das heute in der Friedensethik beider Kirchen vorherrscht, als pädagogisches Leitbild aufgegriffen werden kann: „Ziel ist es, gegenwärtige und zukünftige friedenspolitische Probleme in ihrem Zusammenhang mit Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe sowie in ihrer globalen Abhängigkeit für Jugendliche erkennbar zu machen und ihnen Wege eines empathischen und politischen Handelns zu eröffnen“ (S. 193).
Der Geschichtsdidaktiker Martin Lücke von der Freien Universität Berlin ist überzeugt, dass sich historisches Lernen und Menschenrechtsbildung miteinander verknüpfen lassen: Beide stimulieren seiner Meinung nach ein Bewusstsein von Wandel. Die Jugendlichen lernten, den Wandel in der Vergangenheit zu erzählen, und sie lernten, sich für einen Wandel in der Gegenwart stark zu machen, der die Menschenrechte weiter befördert. Gleichzeitig sei es aber auch wichtig, dass die Jugendlichen die Historizität beider Vorgänge mitbedenken lernten.
Rolf Wernstedt, ehemaliger Kultusminister und Landtagspräsident in Niedersachsen, hebt in seinem Beitrag die Notwendigkeit jeder Erinnerungsarbeit – auch und gerade für die Menschenrechtsbildung – hervor: „Es kann keinen Völkerfrieden geben, wenn man sich nicht erinnert, und ohne Menschenrechte schon gar nicht“ (S. 216).
Die Projektbeauftragte und Bildungsreferentin des Hamburger Landesverbandes des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Nele Fahnenbruck, verdeutlich im nachfolgenden und abschließenden Beitrag, wie sich beide Anliegen in der Bildungsarbeit ihres Verbandes konkret realisieren. Dabei, so hebt sie am Ende hervor, sollten den Jugendlichen auch aktuelle Gefährdungen der Demokratie verdeutlicht werden.
Diskussion und Fazit
Der Band beschäftigt sich mit einem äußerst sensiblen Bereich der Menschenrechte: Wie können diese in bewaffneten Konflikten geschützt werden? Dabei bietet der Band einen auch für „Nichtfachleute“ leicht verständlichen Überblick zu diesem Themenfeld – mit zwei Stoßrichtungen: Zum einen wird die aktuelle Debatte um eine „Responsibility to protect“ aufgegriffen. Zum anderen wird aufgezeigt, wie das Thema in der Erinnerungsarbeit, Menschenrechtsbildung und Gedenkstättenpädagogik pädagogisch aufgegriffen werden kann.
Die letztgenannte Perspektive macht den Band für alle lesenswert, die in der schulischen oder außerschulischen Bildungsarbeit mit diesen Themen befasst sind. Was der Band an dieser Stelle allerdings nicht leistet, ist noch einmal ein kritischer Blick auf die damit verbundenen oder implizit vorausgesetzten bildungstheoretischen Konzepte. Bildung kann Handlungsfähigkeiten fördern, aber keine Handlungsbereitschaften steuern. Letztere bleiben eine Frage der Erziehung. Aus diesem Grund wäre bei den einzelnen Beiträgen, vor allem im dritten Teil, noch einmal zu fragen, inwiefern es hier um Erinnerung als gesellschaftliche Bildungsaufgabe oder um Erinnerung als gemeinschaftliche Erziehungsaufgabe geht. Aus der Erinnerungs- oder Menschenrechtsarbeit lassen sich nicht einfach partikulare politische Positionen ableiten. Welche parteipolitischen Schlüsse die Jugendlichen aus der Auseinandersetzung mit Krieg, Frieden und Menschenrechten ziehen, müssen die Einzelnen selbst entscheiden – dies kann und darf die Pädagogik nicht vorgeben, wenn diese nicht in Manipulation und Überwältigung umschlagen soll.
Fazit: Der vorliegende Band enttäuscht nicht, sondern entspricht der Qualität an Tagungsdokumentationen, für welche die Katholische Akademie in Fulda bekannt ist: fundiert, gut lesbar und leicht verständlich – ein guter Einstieg für alle, die sich einen ersten Überblick zum Thema verschaffen wollen.
Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Website
Mailformular
Es gibt 72 Rezensionen von Axel Bernd Kunze.