Rehzi Malzahn: Strafe und Gefängnis
Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Kury, 15.02.2019
Rehzi Malzahn: Strafe und Gefängnis. Theorie, Kritik, Alternativen. Eine Einführung. Schmetterling Verlag GmbH (Stuttgart) 2018. ISBN 978-3-89657-088-8. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
Die Frage des Umgangs mit (schweren) Straftätern, was getan werden sollte, um Kriminalität möglichst wirksam zu verhindern und die Bevölkerung zu schützen, ist nicht neu. Nachdem in Deutschland 1949 die Todesstrafe abgeschafft wurde, wurde die Freiheitsstrafe zur härtesten Sanktion. Wie das 1977 in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz in § 2 betont, ist Ziel des Strafvollzuges den Gefangenen zu befähigen, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel)“.
Immer wieder wurde von kritischen Kriminologen/Sozialwissenschaftlern und Juristen in Frage gestellt, wieweit es überhaupt gelingen könne, in Unfreiheit auf ein rechtstreues Leben in Freiheit vorzubereiten, wieweit eine Exklusion der Täter ihre Inklusion in die Gesellschaft überhaupt fördern könne, ob nicht alternative Sanktionen, wie Mediation oder Täter-Opfer-Ausgleich (Restorative Justice) mehr Möglichkeiten böten, Straftäter hinsichtlich eines gesetzestreuen Lebens in Freiheit zu unterstützen. Im Rahmen des Abolitionismus der 1960er/1970er Jahre wurde in diesem Kontext etwa die Abschaffung der Gefängnisse gefordert.
In den letzten Jahren hat sich die Einstellung in der Öffentlichkeit vor dem Hintergrund wachsender erlebter und von den Medien vielfach immer wieder breit dargestellter gesellschaftlicher Probleme und einer breiten Diskussion in der Öffentlichkeit, etwa zu der Frage der Einwanderung, hin zu einer wachsenden Punitivität entwickelt. In diesem Kontext ist die Bereitschaft zu liberalen Reformen auf politischer Seite eher reduziert. Vor diesem Hintergrund gibt der von Rehzi Malzahn herausgegebene Sammelband und die hier zusammengetragenen Beiträge zu „Strafe und Gefängnis“ wesentliche Anregungen zu der komplexen Thematik, greift vor allem auch die alte Frage nach den „Alternativen“ kritisch auf.
Aufbau und Einleitung
Der Sammelband enthält neben einer „Einleitung“ der Herausgeberin insgesamt 16 Beiträge, die in drei Kapitel untergliedert sind und mit einem „Epilog“ abschließen.
Die 15 nationalen und internationalen Autoren kommen aus unterschiedlichen Wissenschafts- und Arbeitsfeldern, neben der (Kritischen) Kriminologie etwa der Politologie, Philosophie, Physik, dem Medienbereich und der Geschichtswissenschaft. Ein Beitrag wurde von einem langjährig Inhaftierten verfasst.
Die Herausgeberin hat wie angegeben (S. 262), „als linke Aktivistin … jahrelang an den Anti-Knast-Demonstrationen zu Silvester in Köln mitgewirkt. Unzufriedenheit über Konfliktaustragung in linken Kontexten brachte sie in Kontakt mit Gewaltfreier Kommunikation, Mediation und schließlich Restorative Justice. Sie arbeitet heute in verschiedenen Kontexten zu diesem Thema, bringt sich aber auch weiterhin in die linke Bewegung ein“.
Die Autoren geben einen breiten und vor allem kritischen Überblick zu der komplexen Thematik „Strafe und Gefängnis“.
- Das erste Kapitel beinhaltet unter dem Thema „Strafe & Kriminologie“ vier Beiträge, die eine Einführung in das Strafen, die Wurzeln des Strafrechts, die Konstruktion von Kriminalität und die Zusammenhänge zwischen Armut und Strafe geben.
- Kapitel 2 rückt das „Gefängnis“ als totaler Institution in den Mittelpunkt und umfasst sechs Beiträge, die sich etwa mit Foucault und seiner Genealogie des Gefängnisses, mit dem Prinzip der Gefängnisstrafe und der Erhaltung von Ordnung, der „Beraubung der Zeit“, sozialen versus politischen Gefangenen und Ausführungen zu Schuld und Gefängnis etwa bei Nietzsche oder Adorno beschäftigen.
- Kapitel 3 beinhaltet unter dem Stichwort „Abschaffung und Alternativen“ fünf Beiträge, die andere Umgangsformen mit Abweichung diskutieren und auf Fragen eingehen, wie „Alternativen und Utopie“, Konzepte und Praktiken der Strafkritik, wie mit den „Dangerous View“ umgegangen werden kann, Restorative Justice als anderer Form von Unrechtsbewältigung sowie Restorative bzw. Transformative Justice im Umgang mit sexualisierter und Beziehungsgewalt.
Ein Epilog zu „Strafe in der Erziehung“, in welchem sich die Erziehungswissenschaftlerin und Philosophin M. Gronemeyer kritisch mit dem gängigen Verständnis von Strafe beschäftigt, schließt den inhaltlichen Teil des Bandes ab.
Die Herausgeberin zitiert in der „Einleitung“ (S. 8) des Bandes M. Rosenberg mit „Bestrafung ist die Wurzel der Gewalt auf unserem Planeten“ und C. Baker (S. 9) mit „Strafe ist nutzlos und gefährlich“, womit der Tenor des Bandes vorgegeben wird. Strafe sei Gewalt, sei stets hierarchisch. Nach Friedrich Nietzsche sei der Sinn der Strafe „nicht abzuschrecken, sondern in der gesellschaftlichen Ordnung jemanden niedriger zu setzen: Er gehört nicht mehr zu den uns Gleichen“ (S. 8). Das Buch solle vor allem zu einer Veränderung beitragen, dass „Kritik an Strafe und strafendem Verhalten“ nicht weiter „ein marginales Thema in linken Kreisen“ bleibt, dass es zu einer Überwindung der „Spaltung in politische und soziale Gefangene“ komme. „Ich möchte dazu anregen, sich mit der Frage zu befassen, und Wege aufzuzeigen, die aus dem Teufelskreislauf der Bestrafung herausführen“ (S. 11). Die Herausgeberin schließt ihre einführenden Überlegungen mit der Vorstellung, dass Strafe nicht von heute auf morgen abgeschafft werden könne, „aber es wäre wünschenswert, dass das Strafen immer mehr zur Ausnahme wird, dass wir Dialog, Empathie, Verantwortung, Heilung und Wiedergutmachung ins Zentrum rücken…“. Gleichzeitig betont sie allerdings auch, dass wir „damit umgehen (müssen), dass auch eine freiere Gesellschaft kein Paradies mit lauter sich wohlverhaltenden Menschen sein wird, es mitunter also Mechanismen des Schutzes bedarf…“ (S. 12).
Zu Kapitel 1
Im ersten Kapitel des Bandes stellt zunächst C. Willms „Einführendes über das Strafen“ dar (S. 16 ff.). Obwohl kaum jemand mit Strafe etwas Positives verbinde, scheine eine Welt ohne Strafe nicht möglich oder nicht erstrebenswert zu sein (S. 16). Der Autor unterteilt in staatliche, soziale und religiöse Strafen, konzentriert sich auf das staatliche Strafen (S. 17). Das Thema Strafen beschäftige seit Gedenkzeiten zahlreiche Wissenschaften, wobei unterschiedliche Antworten gegeben würden. Der Autor stellt sich schwerpunktmäßig die Fragen, was unter Strafe zu verstehen sei, wie sie sich entwickelt habe, was damit erreicht werden solle, ob sie das versprochene Ziel erreicht habe und ob sie die wirksamste Reaktion sei bzw. welche Alternativen es gebe. Was die „Entwicklung des staatlichen Strafens“ betrifft (S. 20 ff.) führt der Autor aus, dass die Menschen die längste Zeit des Zivilisationsprozesses in herrschaftsfreien, Gesellschaften gelebt und Konflikte selbst gelöst hätten. Mit dem Aufbau des heutigen Justizsystems habe sich der Umgang mit den nun strafrechtlich definierten Konflikten deutlich verändert, der Konflikt werde nun zu einem Rechtskonflikt und mit der Anzeige an die Justiz abgegeben (S. 20). Staatliches Strafen habe „nicht die Funktion der Konfliktregelung übernommen und eine Lücke hinterlassen. Es dient vielmehr zur Darstellung von Ordnung und der Demonstration von Herrschaft“ (S. 23). Die Grundpositionen der „relativen“ und „absoluten“ Straftheorien, die bis heute Bedeutung haben, werden stichwortartig dargestellt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts seien die relativen Straftheorien mehr und mehr in den Vordergrund getreten, Strafe solle vor allem weitere Kriminalität verhindern. In Deutschland seien ab den 1990er Jahren Strafverschärfungen festzustellen, die vor allem mit dem Schutz der Bevölkerung begründet würden. Das Strafrecht sei in heutiger Zeit überfordert, veränderte sich von einem „Instrument der Verbrechenskontrolle zu einem globalen Steuerungssystem“ (S. 31). Was die Wirkung des Strafens betrifft, seien die Belege zur Abschreckungswirkung von Sanktionen „mager“ (S. 32). Das Sanktionsbedürfnis in der Öffentlichkeit sei vielfach moderat, Alternativen zu Freiheitsstrafen würden oft bevorzugt. Zu der Frage, ob Strafe sein müsse, führt der Autor aus, um nach einer schweren Abweichung von einer Norm, die das gesellschaftliche Zusammenleben in Frieden und Freiheit schützt, „deren weitere Geltung zu bekräftigen und den sozialen Frieden sowie den Rechtsfrieden zu sichern bzw. wiederherzustellen, sind in einigen Fällen durchaus soziale Interventionen oder gar Strafe notwendig. Verstehen wir Strafe – zunächst unabhängig von ihrer Gestalt und ihrer Qualität – als eine reaktive Missbilligung auf den Normverstoß, lautet die Antwort auf die Frage, ob diese sein muss: ja“ (S. 33 f.). Das geltende Strafrechtssystem erfülle allerdings die eigenen präventiven Ansprüche kaum, es eigne sich nicht „zur Lösung der originären Konflikte zwischen den Beteiligten oder zur Linderung des entstandenen Leids“. Mediation und Restorative Justice, die nach wie vor in der Justizpraxis ein „Schattendasein“ fristeten, sollten gefördert werden, Freiheitsstrafen dagegen nur als Ultima Ratio infrage kommen.
G. Johnstone geht in einem kurzen Beitrag auf die „theologischen Wurzeln des Strafrechts“ ein (S. 40 ff.). Im 11. und 12. Jahrhundert habe im Zusammenhang mit den einsetzenden Kirchenreformen ein „Paradigmenwechsel in der Geschichte des Strafrechts“ stattgefunden. Der Klerus habe sich mehr und mehr als Verwalter der Gesellschaft verstanden. Das Recht sei nun „von der Bürokratie mit den ihr eigenen Logiken definiert“ worden. Der Staat bzw. die Kirche seien als die „geschädigte Partei und nicht mehr die andere Person“, angesehen worden. Weiterhin habe das Vergehen eine moralische Komponente als Beleidigung Gottes bekommen, Gotteslästerung konnte nur durch Leidzufügung gesühnt werden. „Mit zunehmender Durchsetzung dieser neuen Lehre wurde die Bestrafung von Rechtsbrechern eine immer normaler und selbstverständlicher erscheinende Praxis“ (S. 41).
In einem weiteren Beitrag diskutiert C. Willms die Thematik „Kriminologie und Kriminalitätskonstruktion“ (S. 43 ff.). Der Autor betont die zeit- und gesellschaftsabhängige Definition von Kriminalität. Kriminalität sei ubiquitär, die „Kriminalität der Mächtigen“ habe sozialschädlichere Folgen als die „Straßenkriminalität“. Ziel des Beitrages sei „die Anregung zur kritischen Reflexion von meist als selbstverständlich geltenden Vorstellungen davon, was ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist, sowie eine Sensibilisierung für die Zusammenhänge von Macht, Herrschaft und der Kriminalisierung sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen“ (S. 44 f.). Selbst kriminologische Studien würden mit ihrem Blick oft „kaum über den eigenen Tellerrand“ hinausreichen, die entwickelten Erklärungsansätze würden teilweise nicht wesentlich mehr leisten „als die Verfestigung moralischer Alltagsvorstellungen über ‚Kriminalität‘“ (S. 45). Gesellschaftliche und soziale Veränderungen hätten seit den 1980er Jahren zunehmend einen „‚moralischen Individualismus‘ gefördert, der auf das eigene Durchsetzungsvermögen setzt und sich an der Erfüllung von Konsumwünschen orientiert. Probleme deprivilegierter Gesellschaftsgruppen werden dagegen zunehmend vernachlässigt“ (S. 47). Wieweit eine Regelverletzung als „kriminell“ betrachtet wird, werde insbesondere von sozialen Differenzen in Macht und Klasse gesteuert. Werde die eigene Lebenssituation als gesichert empfunden, werden von der Norm abweichende Personen „eher als Menschen betrachtet, denen geholfen werden sollte“. Eine wesentliche Rolle im Kriminalitätsdiskurs spielten die Medien. „Mit kaum einem anderen Thema wie der ‚Kriminalität‘ lässt sich Politik betreiben, lassen sich Wahlkämpfe gewinnen und die bestehenden Herrschaftsverhältnisse verfestigen“ (S. 53). In den seltensten Fällen würden die so geschaffenen Gesetze die zugrundeliegenden Interessenkonflikte lösen, hätten meist nur symbolischen Wert. Wie der Autor abschließend betont, wäre aus Sicht einer „aufgeklärten, humanistisch orientierten Sozial- und Kriminalpolitik“ vor allem wichtig eine Entdramatisierung von „Kriminalität“, ein Verständnis für die Gründe kriminellen Verhaltens, eine Reduzierung weiteren Leids im Umgang mit „Kriminalität“, eine Förderung außergerichtlicher Angebote der Konfliktlösung im Sinne von Restorative Justice, eine Förderung der Sozialpolitik als bester Kriminalpolitik, schließlich eine Entkriminalisierung in vielen Bereichen (S. 60 f.).
Der Beitrag von KNAS (Initiative für den Rückbau von Gefängnissen) beschäftigt sich mit „Armut und Strafe. Über die Produktion von Delinquenzmilieus und das Gefängnis als Armenhaus“ (S. 65 ff.). Sozial Benachteiligte würden überdurchschnittlich strafrechtlich sanktioniert und stellten die Mehrzahl in den Gefängnissen dar. Im deutschen System würden etwa Ersatzfreiheitsstrafen das ungleich verteilte Risiko einer Haftstrafe und den Zusammenhang zwischen Armut und Gefängnis am deutlichsten zeigen. Eine Inhaftierung führe häufig zu einer weiteren Verschlechterung der ökonomischen Situation, spitze somit die Problemlage zu, anstatt sie zu entschärfen. Das gegenwärtige Sanktionssystem, vor allem der Freiheitsstrafen, setze „deprivilegierte Personen dem Gefängnis nicht nur stärker aus, sondern tut dies auch mit besonders gravierenden Konsequenzen“ (S. 75).
Zu Kapitel 2
Kapitel zwei beschäftigt sich mit dem „Gefängnis“ (S. 79 ff.).
Zunächst setzt sich L. Mattutat mit „Foucaults Genealogie des Gefängnisses“ auseinander (S. 80 ff.). Die Autorin stellt das Werk und die dahinter stehenden Überlegungen kurz dar und diskutiert sie. Das Gefängnis stelle sich als Selbstverständlichkeit dar, obwohl zugleich sein Misserfolg beklagt werde und belegt sei. In diesem Kontext müsse seine wahre Funktion eine andere sein, mit der sich Foucault in seinem Werk auseinandersetze. Nach Foucault produziert das Gefängnis die Delinquenz, die es ahnden und verringern solle. „Der Diskurs über die ‚Delinquenz‘ schließt die Kriminalität … in das Milieu der unteren Klassen ein“ (S. 90). Dadurch werde auch gerechtfertigt, den Gesetzesbrüchen der oberen Klassen, wie Wirtschaftskriminalität, weniger Aufmerksamkeit zu widmen, obwohl diese sozialschädlicher seien.
B. Stoevesandt geht im folgenden Kapitel („Das konservative Prinzip der Gefängnisstrafe und die Erhaltung der Ordnung“) auf die Einstellung zu Gefängnisstrafen in der Öffentlichkeit und die juristische Begründung von Sanktionen ein. Juristische Begründungen von Strafen, Strafziele, werden stichwortartig dargestellt und hinsichtlich ihrer Logik kritisch hinterfragt. Die Freiheitsstrafe erfülle wesentliche vorgegebene Ziele nicht, so sei die Rückfallquote danach sehr hoch. Kriminologische Theorien würden die Ursachen von Gesetzesbrüchen vorrangig beim Täter suchen, gesellschaftliche Hintergründe würden dadurch ausgeblendet. „Statt die Bedingungen zu verändern, damit die Konflikte vermieden werden, werden Schuldige gesucht, bestraft und weggesperrt“, der nötige Diskurs über erforderliche Veränderungen werde so verhindert (S. 102). Der Großteil der Gesellschaft werde dadurch – zumindest zunächst – auch der Verantwortung um eine Veränderung enthoben.
D. Postrak berichtet vor dem Hintergrund eines eigenen Films über die totale Institution Gefängnis und zur Situation von Inhaftierten, deren „Beraubung der Zeit“. In dem die Strafe zeitlich quantifiziert werde, habe sie den Anschein, „wissenschaftlich“ begründet zu werden. Die theoretischen Ausführungen werden durch Interviewausschnitte mit Inhaftierten verdeutlicht (S. 111 ff.). Betont wird etwa von den befragten Gefangenen, „… wenn Gefängnis einen Sinn haben sollte, dann müsste den Leuten, die da drin sind, geholfen werden …“ (S. 111), dass man absolut fremdbestimmt sei, gezwungen sei, in einer Zwangsgemeinschaft zu leben, dass Zeit vergeudet werde, die man konstruktiver nutzen könnte und sollte. Andere weisen auch auf positivere Aspekte der Inhaftierung hin, die sie zu einem Nach- und Umdenken veranlasst hätten. T. Meyer-Falk setzt sich in seinem Beitrag (S. 122 ff.) vor dem Hintergrund einer eigenen langen Inhaftierung mit unterschiedlichen Gefangenengruppen, wie „politischen“ und „sozialen“ auseinander.
D. Fluhr geht in einem Beitrag über „Gesellschaft als Gefängnis“ (S. 128) insbesondere auf philosophische Ausführungen von Nietzsche, Adorno und Foucault ein. Diskutiert werden die Rolle und die Effekte von (totaler) Überwachung in der Gesellschaft unter Einbeziehung der „Pastoralmacht“. Jeder habe in einer Gesellschaft seine Position einzunehmen. Die Gesellschaft erschwere eine wirkliche Individualisierung, der Einzelne solle sich einfügen und funktionieren. In diesem Kontext sei das Gefängnis eine Abbildung der gesellschaftlichen Realität.
Die Herausgeberin diskutiert unter dem Stichwort „Schuld und Schulden“ Auszüge aus der „Genealogie der Moral“ von F. Nietzsche zu der Thematik (S. 139 ff.). Es geht etwa um die Frage, „in wiefern … Leiden eine Ausgleichung von ‚Schulden‘ sein“ kann (S. 140). Wachse die „Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht“ (S. 142). Der Verbrecher erlebe durch die Bestrafung „genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gut geheissen, mit gutem Gewissen verübt“, deshalb könnten Sanktionen auch keine positive Wirkung erzielen (S. 144).
Zu Kapitel 3
Kapitel drei geht auf „Abschaffung und Alternativen“ ein (S. 147 ff.).
J. Spohr setzt sich im ersten Beitrag mit der Frage auseinander, wieweit eine Gesellschaft auch ohne Gefängnisse auskommen könne, wieweit „Alternativen“ eine Utopie darstellten (S. 148 ff.). „Zu den wenig beachteten Ansätzen linker Nischendiskussionen mit utopischem Gehalt gehört die Forderung nach einer ‚Gesellschaft ohne Knäste‘“ (S. 148). Der Knast sei bereits jetzt „mit all seinen destruktiven Wirkungen auf die von ihm Betroffenen zu delegitimieren“ (S. 151). Ein Mangel bei Restorative Justice (RJ) sei, dass die Ursachen des Konflikts in der Regel unbehandelt blieben, ein Vorteil, dass sie den „Blick auf das Geschehene statt auf Paragraphen“ richte und den punitiven Trend staatlichen Strafens in Frage stelle (S. 155).
Auch M. Ehrmann und V.E. Thompson beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit Fragen des Abolitionismus (S. 161 ff.). Dieser sei als Bewegung zur Abschaffung der Gefängnisse nach 1968 vor allem in Deutschland, Italien und Frankreich bedeutsam geworden. Die Kritik des Gefängnisses orientiert sich in diesem Beitrag nicht nur an Foucault, sondern richtet den Blick auf eine „eurozentrische Gefängniskritik“ und die vielfältigen Formen des Strafens, gerade auch im Zusammenhang mit einem europäischen Kolonialismus und Rassismus (S. 163). Die Geschichte des Abolitionismus wird in einem breiteren Rahmen diskutiert, vor allem wird auch versucht, die Grundlagen schwarzer feministischer Kritik darzulegen. Die Geschichte des Abolitionismus reiche zurück in die Zeit des Sklavenhandels. Dynamiken der Abschaffung der Versklavung und der Transformation in subtilere Formen der Unterdrückung, wie sie sich etwa in den hohen Inhaftierungsraten von Schwarzen in den USA, vor allem auch im Umgang mit schwarzen Frauen, zeigen werden diskutiert. Heute seien etwa Frauen mit Flüchtlingshintergrund überproportional inhaftiert, oft aufgrund von Delikten etwa im Zusammenhang mit Armut oder psychischer Belastung.
P. Opwis geht in seinem Beitrag auf die Frage ein (S. 182 ff.), „Was tun mit den ‚Dangerous Few?‘“, diskutiert kritisch die Frage, wer diese eigentlich sind, vor welchem Hintergrund sie als solche definiert werden. Gewalt in der Gesellschaft und die Reaktion darauf wird im Kontext unterschiedlicher Formen, wie etwa im Krieg, gegenüber Flüchtlingen oder im eigenen Alltagshandeln hinterfragt. Wird Brutalität als gesamtgesellschaftliches Problem gesehen, müsse es vor allem um einer Veränderung der Gesellschaft gehen. Was die Beurteilung zukünftiger Gewalt betrifft spricht der Autor auch Probleme einer Kriminalprognose an.
R. Malzahn geht in einem weiteren Beitrag differenziert auf Restorative Justice ein (S. 194 ff.), erklärt das Konzept und die Funktionsweise sowie Ziele und Wirkungen. RJ sei ein Oberbegriff, „unter dem inzwischen eine Vielzahl an Kommunikationsformen subsummiert werden“, bei denen es stets darum gehe, „anstatt auf entstandenes Leid mit weiterer Leidzufügung in Form von Strafe zu reagieren“, den Konflikt zwischen den Beteiligten zu besprechen, Verletzungen zu heilen und Schaden möglichst wieder gutzumachen (S. 195). Jede Tat habe eine Vor- und Nachgeschichte, die zu berücksichtigen seien. Ein wesentliches Ziel sei die Stärkung des Opfers, das nicht nur Zeuge wie im Gerichtsverfahren sei, sondern sich umfangreich äußern könne, und die Lösung des Konflikts. RJ verurteile die Tat aber nicht die Person, der Täter werde für die Tat „beschämt“, gleichzeitig aber als respektiertes Gesellschaftsmitglied auf dem Weg in die Gemeinschaft unterstützt. Wesentliche Werte und Prinzipien von RJ werden dargestellt, wie Freiwilligkeit, Gleichberechtigung oder Konsens. Trotz aller beschriebenen und überzeugenden Vorteile von RJ gebe es auch Fälle, in denen Zwang erforderlich sei, dieser sollte so gering wie möglich gehalten werden. Abschließend entwirft die Autorin vor dem Hintergrund von Konfliktlösung auf der Basis von RJ das Konzept einer Gesellschaft ohne Gefängnisse bzw. weniger Inhaftierter. Deutlich wird hierbei auch der weite Weg bis zur eventuellen Erreichung eines entsprechenden Ideals.
L. Monz und M. Brazzell gehen im letzten Beitrag des Kapitels auf „Restorative Justice“ und „Transformative Justice im Umgang mit sexualisierter Gewalt und Beziehungsgewalt“ ein (S. 222 ff.). „Anders als bei Restorative Justice, die sehr breit anwendbar auf verschiedene soziale Konfliktsituationen ist, steht bei Transformative Justice die Auseinandersetzung mit zwischenmenschlicher Gewalt im Nahbereich, also sexualisierter Gewalt und Partnerschaftsgewalt im Mittelpunkt“ (S. 227). Die Gemeinde habe eine tragende Verantwortung im Umgang mit Gewalt unter den Mitgliedern, vor allem auch der Prävention. Bezweifelt werde allerdings, wieweit Mediation bei Beziehungsgewalt ein sinnvolles und emanzipatorisches Mittel sein könne, Transformative Justice sei dagegen in voller Absicht Intervention. Wichtig sei, dass es „klare Konsequenzen für gewaltausübende Menschen gibt – es geht nicht um weniger soziale Kontrolle, sondern um eine starke andere soziale Kontrolle … Fühlbare Konsequenzen für gewaltausübende Menschen“ könnten gerade auch für Betroffene wichtig sein (S. 238). Auf indigene Gerechtigkeitsmodelle im Zusammenhang mit der Diskussion um RJ wird ein kritisches Licht geworfen, in manchen Fällen seien die Reaktionen härter und punitiver als Gefängnisstrafen. Deutlich wird auf Probleme von RJ bei sexualisierter und Partnergewalt hingewiesen, welche deren Effizienz in dem Bereich einschränkten.
M. Gronemeyer geht im abschließenden Kapitel auf „Strafe in der Erziehung“ ein (S. 250 ff.). In der Pädagogik sei immer wieder die Frage kritisch und kontrovers diskutiert worden, ob Strafe sein müsse. Die Autorin gibt einen kurzen Überblick über die historische Entwicklung der Sichtweise von Strafen in der Erziehung. Die psychologischen Hintergründe und des kindlichen Erlebens von Strafen und Verzeihen und deren verhaltenssteuernde Rolle werden angesprochen. Eine Liste der Autorinnen und Autoren sowie ergänzende Literaturangaben schließen den Band ab.
Zielgruppen
Der Sammelband geht in den einzelnen Beiträgen kritisch auf das Thema „Strafe und Gefängnis“ ein. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob Strafe zur Verhinderung von Kriminalität erforderlich sei, es wird überzeugend auf negative Effekte vor allem von Haftstrafen hingewiesen, konstruktivere Alternativen, wie Restorative Justice, werden dargestellt. Der Band ist sehr theoretisch orientiert, zeigt allerdings auch praktische Beispiele aus dem Strafvollzug, regt in seiner kritischen, überzeugenden „linken“ Argumentation zum Nachdenken an, zeigt auch Grenzen einer Veränderung auf. Er ist vor diesem Hintergrund vor allem für am Thema Kriminalstrafe und Sanktionswirkungen interessierte Kriminologen bzw. im Bereich Sozialarbeit, Sozialpädagogik bzw. Kriminalpolitik Arbeitende informativ und anregend.
Diskussion
Der Band mit 16 Beiträgen zur Thematik Kriminalstrafe, ergänzt durch eine Einleitung der Herausgeberin, diskutiert das Thema Sanktion ausgesprochen kritisch, die Argumentation ist überzeugend und begründet. Die meisten Beiträge weisen auf schädliche Nebenwirkungen von Sanktionen, vor allem der Gefängnisstrafe hin. Diese Kritik ist, wie in einzelnen Kapiteln ausgeführt, nicht neu, hat jedoch, wie überzeugend dargelegt wird, auch heute weitgehend noch ihre Berechtigung, wenn etwa betont wird, dass eine Inhaftierung vor allem auch vom sozialen Status des Täters abhängt bzw. dass ein erheblicher Teil der Inhaftierten ohne Gefährdung der inneren Sicherheit entlassen werden könnte. Ob jedoch die Freiheitsstrafe und der Strafvollzug vollkommen abgeschafft werden könnte, was dann mit den „Dangerous Few“ geschehen sollte, ganz abgesehen davon, wie die Öffentlichkeit und damit die Politik für eine solche Entwicklung zu überzeugen sei, bleibt letztlich eine offene Frage. (Kriminal-)Politiker richten ihre Argumentation in der Regel wenig an wissenschaftlichen Erkenntnissen aus, die sie in der Regel auch kaum kennen, achten mehr darauf, was die Mehrheit der Öffentlichkeit wünscht. Teilweise vorhandene Tippfehler bzw. einige fehlende Literaturangaben können den Wert des Bandes nicht wesentlich beeinträchtigen.
Fazit
Der Sammelband gibt eine kritische, weitgehend überzeugende Darstellung der Hintergründe von (Gefängnis-)Strafen sowie möglicher und konstruktiverer Alternativen, wie etwa Täter-Opfer-Ausgleich. Darüber, dass ein erheblicher Teil der Inhaftierten auch in Deutschland ohne Gefährdung der inneren Sicherheit entlassen werden könnte, besteht unter Fachleuten weitgehend Konsens. Die hier investierten finanziellen Mittel könnten besser in Hilfsprogramme für die Betroffenen investiert werden, was von einer aufgeklärten Öffentlichkeit auch unterstützt wird. Der Leser wird breit und kritisch, auch überzeugend über Strafen, deren Hintergründe, negativen Nebeneffekte und in der Regel eingeschränkten Wirkung informiert. Selbst wenn man manche Vorschläge als nicht umsetzbar oder (noch) utopisch einschätzen mag muss man feststellen, dass es in unserem Sanktionssystem deutliche Verbesserungsmöglichkeiten gibt, dass die gegenwärtige Sanktionspraxis verbessert werden kann und sollte. Das Gesamturteil ist vor diesem Hintergrund: Sehr empfehlenswert.
Rezension von
Prof. Dr. Helmut Kury
Universität Freiburg, Max Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht (pens.)
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Es gibt 17 Rezensionen von Helmut Kury.
Zitiervorschlag
Helmut Kury. Rezension vom 15.02.2019 zu:
Rehzi Malzahn: Strafe und Gefängnis. Theorie, Kritik, Alternativen. Eine Einführung. Schmetterling Verlag GmbH
(Stuttgart) 2018.
ISBN 978-3-89657-088-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24761.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
Urheberrecht
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